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Kapitel 3
ОглавлениеDer Lorenz vom Gartenbauamt kann nicht so raus aus sich, wie er will, aber das Lob war unmissverständlich. Die Illustrationen haben ihm gut gefallen. Mir das Geld! Die Leute heute beziehen sich wieder auf unkonventionelle Sachen. Hand made. Ich habe alle Bilder mit einem sehr weichen Bleistift gezeichnet, mit dem Finger die Schatten gewischt, alles sehr weich. Selbst nachher im Druck. Viele, viele Details, die man nur mit großer Aufmerksamkeit sehen kann. Wenn aber erst mal entdeckt, beginnt die Suche danach. Eine Hummel mit Mieder, eine Schnecke mit Balkon am Haus, eine Hecke in Gestalt „liegender Akt“ geschnitten, ein Vogel mit Handy und vieles mehr. Ich sage ja, der Lorenz war begeistert, und sie wollen ein Preisrätsel veranstalten. Wer diese kleinen Unmöglichkeiten allesamt entdeckt, kann einen Rundflug gewinnen. Die Blödheit ist nur: Ich weiß nicht, wie viele ich hineingezeichnet habe! Wird ein Spaß sein für Julia und mich das herauszufinden, und diese Wettbewerbsidee bekomme ich zusätzlich bezahlt. Und das wird das Abiturgeschenk für Julia.
Lauter Sündhaftigkeiten habe ich für dieses freie Wochenende eingekauft und es wurde Zeit, dass ich wieder aufmerksamer zu Julia sein kann. Sie hat sich so allein gefühlt, dass ihr die Wohnung zu groß geworden ist und sie mehr im Auto gelebt hat: Nest – Höhle – Geborgenheit!
Es war und ist nicht das letzte Mal, dass ich so viel und lange arbeiten muss und Julia weiß genau, wir brauchen das Geld und sie liebt Komfort und ich mag es gerne ihn ihr zu geben. Sie ist wahrlich meine Motivation geworden. Ich arbeite wieder gerne für Geld.
Es ist nur logisch, dass ich nicht mehr viele Freunde habe. Seit Julia bei mir wohnt, sind wir uns doch so genug. Ein einzelner Besucher fühlt sich nach wenigen Minuten vereinsamt ob unserer Zweisamkeit. Ein Paar sehnt sich nach dieser zärtlichen Verständigung, wird peinlich berührt, erinnert sich seiner Stumpfheit und unverständliche Blicke verraten verständliche Sehnsüchte.
Ich verstehe auch oft den Unmut von Freunden, wenn Julia sich wie ein Rucksack an meinen Rücken hängt, sich tragen lässt, aus dieser Stellung mit Leuten redet, als wäre es normal huckepack Konversation zu treiben.
Ich weiß es ganz sicher, sie will damit keine Schau abziehen, sie will getragen werden von mir, dem Menschen, den sie sich ausgesucht hat zu lieben. Was habe ich für ein Glück gehabt! Julia könnte so eine sein, die Musik von Wolfgang Petry oder Hansi Hinterseer oder die gesamte volkstümliche Musikscheiße hören wollte. Aber nein, sie mag Blues und Jazz, sie mag Saxes. Was für ein Glück! Julia weiß nicht gut über Kunst Bescheid, besitzt aber einen siebten Sinn für Qualität. Und nun der alte Witz: Wenn sie keinen guten Geschmack hätte, würde sie mich nicht ausgesucht haben! Darüber könnte Julia lachen. Sie lacht so gerne - und was für ein Glück: Über mich kann sie allemal lachen!
Sie versteckt ihren Mund in der aufgestützten Hand, die langen Beine ineinander verschlungen, sieht in das Bücherregal im Schlafzimmer, stellt in Gedanken Dinge um. Siebenhundert Bücher ordnete ich aus, und die wenigen, die übrig blieben dekorierte sie mit allerlei Krimskram in das große weiße Regal.
Ich wollte diese Bücher nicht mehr besitzen.
Julia hat festen Karton Schicht um Schicht zusammengeklebt zu Klötzen, manche groß, bis zu DIN A4, andere klein, wie Streichholzschachteln! Auf diese klebt sie beidseitig Fotos – selbst geknipst – und stellt sie ins Regal. Gute Idee, finde ich.
Julia hat ein hellblaues, rotäugiges kleines, handgroßes Häschen im Müll gefunden, eine Schnur um den Hals geknotet. Dies sitzt im Regal. Wir holen es zu uns ins Bett, manchmal, denn Julia schwört darauf, dass wir dann ruhig schlafen. Stimmt! Julia hat ein daumengroßes Skateboard ins Regal gestellt, einen Kieselstein hinein gelegt, in dem ein Herz eingekalkt ist. Ein schwules Teddybär-Pärchen sitzt, sich umarmend, ganz unten im Regal. Ein Motorradkrad mit Beiwagen und aufmontiertem Maschinengewehr – zum aufziehen und mittels Flintstein sprüht das MG funken – steht neben dem dicken Buch „Krieg und Frieden“. Julia ist so kreativ in solchen kleinen Dingen! Wie ich. Oh ja, wir haben viel gemeinsam.
Irgendwann wird sie mit mir meine Bücher schreiben und kein Mensch wird einen Unterschied bemerken.
Ich bin erleichtert, dass ich die Arbeit für die Stadt beendet habe, denn auch mein Buch geht dem Ende zu und das Ende braucht alle Kraft. Sieben Jahre habe ich an diesem Buch geschrieben, begann es, als mein Vater starb. Es beinhaltet meine Familiengeschichte. Am Anfang tat ich mich sehr schwer. Als ich aber bemerkte, wie ähnlich ich meinem Vater bin, lief es mir ziemlich aus der Feder, wenn ich Zeit hatte.
Sie ist eingeschlafen, s Baby.
Ihre dünnen Arme hängen über den Bettrand, die schmalen Hände geöffnet zu kleinen Körbchen, ruhen auf den Fingerknöcheln im Teppichboden. Auf dem Bauch liegt sie, den Kopf zur Seite gelegt, die kräftige Nase, die großen geschlossenen Lider, die ein wenig blau schimmern und unter denen ihre neugierigen Augen Schutz suchen. Ich kann fast nicht umhin sie zu beküssen. Ihre hageren Schultern zeichnen sich zu deutlich unter ihrem Kleid ab, aus dem diese Kleinmädchenbeine ragen. Die viel zu mächtigen, runden Knie, die gerade harte Linie der Schienbeine, die auf ihrer Rückseite ein wenig Wadenfleisch besitzen. Ab und zu zuckt einer ihrer Fingerzehen. Ich sitze vor ihr, versunken wie ein Vater vor seinem schlafenden Kinde. Insgeheim wünschte ich mir immer, mit so einer Idealfrau zu leben und zwar bis zu meinem Tode. Bisher sollte es eine rothaarige, bayrisch sprechende Bildhauerin sein, nun hat Julia diese Rolle übernommen… Sie hat ein Auge geöffnet, ein skeptisches Lächeln aufgelegt, dreht sich auf den Rücken, zieht das Kleid über diese Brüstchen, sieht mich ziemlich schmachtend an mit ihren honigfarbenen Augen und ich weiß, es ist s,s,s,s,Smusezeit!
***
Ich hasse, hasse diese blöde s,Schule wie die Pest und noch tausendmal mehr. s,Sie zerstört meinen Tag. Die in der Klasse s,sind überhaupt nicht meine Leute. Verachte und beachte die Lehrer gleichzeitig. Oh Louis, warum verlangst du von mir dieses Abitur? Er s,sagt, wenn ich mich von ihm trenne – er s,sagt „trenne“ und das klingt mir nach abschneiden, irgendwie – dann habe ich wenigstens Abitur, weil man das heutzutage fast für alles braucht. Er s,sorgt s,sich! Dieses Abitur werde ich bravös bestehen („bravös“ s,schreibe ich auf für Louis, um Louis zu zeigen, dass ich wohl imstande bin, mich anzustrengen, für ihn!).
Bin Bernhardt begegnet, gestern, und er tat s,so, als wäre nichts gewesen. Es war nichts gewesen. „Was machst du, wie geht es dir, du lebst doch jetzt mit diesem…. und sonst?!“ Was für ein gutes Gefühl, dass ich nun s,so ruhig und gefasst bin! Ach, nicht einmal Petting kann man das nennen, was ich und Bernhardt …. Ich habe mich s,so geekelt vor s,seinem Dings und s,seinen dicken Beinen! Ich mache mein Abitur – beinahe hätte ich gesagt: unser – und wir gingen tatsächlich zwei Kaffee trinken. Bernhardt ist nett, nett wie alle in meinem Alter, wenn s,sie nicht gerade s,Skins, Fußballer, Rechte oder Neonazis s,sind.
Bernhardts Hosenboden hängt in den Knien. Er trägt mächtige Baseballschuhe, dass man denkt, er hat ungeheure Klumpfüsse, T-Shirt fünf Nummern zu groß, auf denen der Name dessen s,steht, der ihnen diese Pfennigware für teures Geld angedreht hat. Bernhardt geht zu einem Frisör, der s,so dumm ist wie die s,Schnitte, die er verkauft. Bernhardt trägt Handy und wenn es nicht anders geht, telefoniert er s,sogar mit s,seiner Mutter. Bernhardt hat eine Freundin, die genauso aussieht wie er, nur hat s,sie nicht s,so dicke Beine. Ach, Bernhardt ist nicht mal nett, er ist ein Arsch-Idiot.
s,So wie Bernhardt oder ähnlich s,sind alle auf der s,Schule. s,Sie reden von New York, Kuba, Zillertal und fliegen in der Welt umher und nehmen dafür die ätzenden Jobs an, s,sogar bei CDU-CSU-Firmen.
Wenn ich mit Louis über meine Generation rede, ist er voller Geduld und ich brauche nicht lange zu warten, dann s,spricht er von s,seiner Jugend…. Von den Anfängen der Beatles. „Als ich das erste Mal ‚Twist and shout’ gehört habe, hat sich mein Leben verändert!“
Nein, ich hasse die s,Schule nicht, aber s,seitdem ich mit Louis lebe, lerne ich viel mehr. Erstens lerne ich zu s,sein (das ist gut, das s,schreibe ich für Louis auf), zweitens lerne ich, wie man mit einem anderen Menschen leben kann. Nein, Louis ist nicht mein Lehrer, aber mit ihm zu leben, ist wie eine Ausbildung, eine Lehre.
Wenn mich jemand fragen würde: „Was ist denn Ihr Beruf?“, dann würde ich s,sagen: „Ich lebe mit Louis!“ Wenn er wüsste, was ich denke, er würde mich über den Haufen küssen – ein s,Spruch von ihm – oder mich verrückt heißen.
Ich betreibe keine Heiligenverehrung, wie meine Mutter das s,sagt. Es ist auch nicht nur die Person Louis. Es ist das drum und dran! Ich finde, s,sein Leben s,stimmt; s,seine Wohnung s,stimmt, s,seine Arbeit s,stimmt, s,sein Auto s,stimmt und was er s,schreibt, s,stimmt und das Beste: Dies alles s,stimmt für mich. Ich kann das nehmen für mich, das, ist wie Lernen im s,Sekundentakt. Genau!
Louis würde das s,sehr mögen, was ich denke und das ist es! Das Angenommensein, bedingungslos, ich weiß s,selber, wie dünn ich bin! Louis s,sagt: „Du bist doch nicht dünn, solange du Fleisch um die Knochen hast.“
Eigentlich bin ich nicht s,so gerne in s,seinem Laden, aber ich mag s,sehr gerne s,sein kleines s,Schlafzimmer. Das alte Ehebett von Louis und Lisbeth s,steht darin, mit dieser Cord-Tagesdecke. Wenn ich s,so auf diesem Bett liege, aus dem kleinen Oberlicht direkt in den Fliederbaum s,sehe, dann fühle ich, dass etwas von Louis Bett ausgeht. s,Sowas Kräftiges, s,so was s,Sicheres, s,so ein Inselgefühl. Ich mag s,sehr gerne hier liegen, den Louis hören vorne im Laden und vor mich hin denken.
***
Obwohl Julia wirklich nicht gerade das Vollfleischweib ist, macht sie eine interessante Figur. Sie steht mit Harald Weber (er baut Öko-Häuser - ich habe ein Firmenlogo für ihn entworfen) in der Tür zur Küche, das heißt, sie hat sich in den Türrahmen eingebeugt, wegen ihrer Größe, und redet sehr konzentriert mit ihm.
Harald hat mir Lisbeth abgenommen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Als es am schlechtesten stand zwischen der Beth und mir, kam eines Tages Harald. Ich kannte ihn schon lange – wir machten eine Stadtzeitung mit anderen zusammen - und beichtete mir seine Liebe zu Lisbeth. Ich glaube, ich war noch nie so erleichtert in meinem ganzen Leben, denn so löste sich dies Problem von allein und sehr einfach und Lisbeth war glücklich. Und ich erst! Nur, konnte ich nach dieser Trennung meine Tochter nicht sehen, weil diese Irren sich jahrelang in ganz Europa herum trieben. Natürlich sind Lisbeth und Harald nicht mehr zusammen, aber jetzt wieder hier.
Julia trägt einen schieferfarbenen Hosenanzug. Ich habe ihn von meiner Schwester bekommen. Sie arbeitet als Kundenberaterin in einem Modegeschäft für Übergrößen. Ich wollte ihn mir zurechtschneidern lassen. Da bekam ihn Julia in die Finger und sie sieht darin aus…. Also der Stoff ist so leicht, dass die Haut ihn an sich zieht und so sieht es aus, als würde er an ihr kleben. Ihre Brustspitzchen, ihre Schultern, ihre Rippenbögen, die Nähte ihres Slips, die Kniegelenke… alles zeichnet sich ab. Es wirkt, als hätte man eine seidene Stoffbahn an sie geblasen.
Ich weiß, Harald versucht Julia auszuhorchen, und sie wird ihm so treuherzig antworten, dass er noch weniger begreift als vorher.
Lisbeth ist völlig begeistert von Julia. „Das hätte ich einmal machen sollen“ ist jeder fünfte Satz, und Julia mag Lisbeth wie eine Mutter. Julia hat völlig freiwillig eine Quarkspeise gefertigt, die für mich gipsig, den Leuten hier anscheinend schmeckt. Sie wird nach dem Rezept gefragt – es ist Quark mit Birnen aus der Dose – und es rührt mich, wie eifrig sie das Rezept verrät.
Julia war sehr lange gegen jeden Besuch. Sie reagierte fast hysterisch, kam jemand unangemeldet, einfach spontan so vorbei. Zu groß, zu dünn, das war ihr Problem und das galt es zu verteidigen. Mit mir eher kleinem und molligen und soviel älteren schloss sie Solidarität. „Der kleine Dicke mit der großen Dünnen, in Love, sind unschlagbar“, sagt Julia und so tritt sie auf.
Mit Lisbeth sitze ich auf dem Zweisitzer, der auch noch aus unserer vergangenen Ehe stammt, und wir sehen Harald und Julia zu und kommen solidarisch zu dem Entschluss: Die beiden passen auf keinen Fall zusammen. Sie unterhalten sich aber verdammt gut, und bevor ich mich aufraffen kann, um das zu hören, kommt Julia auf mich zu, um mich augenblicklich auf diese Weise zu umarmen, dass auch der Dümmste zu sagen weiß: Die, die liebt den mit Haut und Haaren und er sie sowieso. Julia umarmt auch Lisbeth mit Herzlichkeit und Lisbeth deutet mir mit diesem Augenaufschlag: „Tja, da kann man nichts machen, man muss sie mögen.“
Das erste Mal, dass Julia tanzt, wenn wir eine Gesellschaft geben, ist allerdings auch die erste Gesellschaft, die wir geben. Nach dem relativ guten Jahr, das ich bisher hatte, dem guten Abschluss mit der Stadt, konnte ich Julia zu einem kleinen Fest überreden und anschließend fahren wir vier Tage in die Berge, zu mir nach Hause, nach Berchtesgaden. Nach dem Tode meiner Eltern blieben uns Kindern die beiden Wohnungen in dem Haus, das mein Vater erbaute. Der Rest ist verkauft und meine beiden Schwestern und ich bemühen uns, es zurückzukaufen. Eine Wohnung und ein Ladengeschäft im Parterre.
Ich habe meine Schwestern gebeten, uns einige Zeit allein zu lassen, aber ich weiß, sie sind zum Sterben neugierig auf Julia. Sie sind einiges gewöhnt von mir, was Frauen betrifft, aber Julia ist so etwas wie die Krönung für sie. So reden sie zumindest am Telefon.
Harald würde mich so gerne fragen, wie ich das wieder angestellt habe mit Julia. Schließlich habe ich damals auch seine heilige Schwester rumgekriegt, obwohl er Stein und Bein geschworen hat, dass sie nie…. Sie hat und es war eine sehr gelungene Liebesfreundschaft.
Julia ist wirklich aufgekratzt wie ein verliebtes Huhn. Sie hat kleine rote Flecken am Hals vor Aufregung! Sie tanzt und trinkt, präsentiert und serviert das Dessert: „Apfelküchlein mit Vanilleeis und einem Zimt-Cognac-Sößchen flambiert.“ Sie genießt es wirklich sehr und immer wieder stürzt sie auf mich zu, umarmt und küsst mich und nennt mich vor allen Leuten „mein Glück, du bist mein Glück!“
Meine Bekannten sind gerührt.
Julia hat nur ihren Vater eingeladen, um den sie sich besonders kümmert. Er ist noch ein bisschen größer als Julia, ihr aber äußerst ähnlich, oder Julia ihm. Anfangs war er sehr schüchtern, aber wie er sieht, dass Julia glücklich ist und er sie so noch nie erlebt hat, ist er auch langsam aus sich heraus gekommen, hat sogar einmal getanzt mit seiner Tochter. Lisbeth habe ich zugeredet, auch mit Volker zu tanzen, und nun, kurz vor Mitternacht, ist er gelöst, lacht sogar von Herzen.
Ehrlich gesagt, bin ich im Moment ganz schön nervös, hat Julia doch gleich ihren Auftritt. In ihrer Autohöhle hat sie einige Texte geschrieben und sich Melodien ausgedacht, die sie auf den Kassettenrecorder aufgenommen hat. Und eben so ein Lied hat sie sich für heute Abend erwählt. Tage brauchte ich, um ihr dieses Festchen schmackhaft zu machen, und als ich anfing, laut darüber nachzudenken, wen ich alles einlade und einen Speiseplan aufstellte, kam Julia plötzlich damit heraus, dass sie eines ihrer Lieder singt. Sie sagte das so, als wenn sie des Öfteren Lieder vortragen würde. Natürlich dachte ich erst, sie macht Spaß, aber dann sang sie es mir vor und ich wäre beinahe umgefallen wegen ihrer Stimme, des Textes, der Melodie. Ihre Singstimme ist die eines Jungen kurz vor dem Stimmbruch, der in einem Jugendchor singen gelernt hat.
Der Text lautet folgendermaßen:
Kleine Jahre
Kleine Jahre von mit gelebt
nicht gezählt – ausgewählt
von mir entschieden
Luft so rein für mich
von keinem geatmet
als Geschenk von dir
ich nehme sie
Refrain:
Kleine Jahre von mir gelebt…
Meine Wolken können fliegen
ohne deinen Himmel
angetrieben durch meine Sonne
kann die Seele selbst betrügen
Refrain:
Will nur diesen einen Garten
genug der Größe für uns zwei
will niemals auf dich warten
aber bei dir sein
Refrain
Nie möchte ich den Weg vermissen
den ich ging allein
bin so froh den Weg gefunden
den wir gehen
Refrain
Was für ein Text für eine Neunzehnjährige! Die Melodie ist soulig-gospelig. Sie singt es extrem langsam, dehnt die Worte, melodisiert jazzig zwischen den Zeilen. Ich meine, sie ahmt Instrumente nach, um dem Text swing zu geben. Sie….
Oh Mann, sie kommt, sie kommt aus der Küche und trägt ein Hemdblusenkleid, vorne durchgeknöpft, mit kleinen, aufgedruckten Stiefmütterchenblüten, hunderte Gesichtchen auf weißem, weichem Stoff. Sie bleibt vor der Wohnzimmertüre stehen und ich klopfe mit einem Löffel an mein Weinglas und muss nun sagen: „Meine Damen und Herren, sie sind die Glücklichen, die heute Nacht….“ Und sie fängt schon an, jazzt erst die Melodie „Da, ra, dara, da ra ra…“ und beginnt mit dem Textteil, der später zum Refrain wird. Sie wiegt sich ein bisschen… psst!
Aus!! Die Leute sind so überrascht, dass sie so was gesehen und gehört haben, aber vor allem von Julia… Und nun beginnt ein Geklatsche, Gepfeife, Gejohle und Julia hopst auf der Stelle, juchzt zähnebreit, klatscht selbst in die Hände und auf einmal, erschrocken über ihre zur Schau gestellten Freude, flieht sie in die Küche.
Es ist ganz schön lange ziemlich still und dann murmelt’s los von einer Seite zur anderen und eingeschenkt wird und der Vergleich zu Joni Mitchell wird diskutiert und Volker sagt zu mir: „Was hast du gemacht, dass sie all dies tut?!“ – „Ich lasse sie einfach in Ruhe“, sage ich und stürzte in die Küche und sehe sie nicht und sehe mich zweimal um…. Und es kichert hinter dem Kühlschrank hervor, und als ich auf sie zugehe, stürzt sie mit aufgeknöpftem Oberteil auf mich, schließt mich darin ein, indem sie mich fest an sich drückt und schluchzt: „Oh Gott, dass ich bei dir sein kann.“
Nun kann ich mich auch nicht mehr halten, bekomme einen regelrechten Weinkrampf, mein Gesicht liegt auf ihrem Brustschild und ich spüre ihre Tränen, die ihren Hals herabkullern, auf meiner Stirn.
„Ich liebe dich, mein Herz“, muss ich sagen und „Du bist eine Attraktion“. Und Julia sagt: „Und du bist mein Ich!“ und nun geht das Geflenne von vorne los.
Endlich können wir nun ins Wohnzimmer zurück, verheult wie die Maulwürfe und die Leute tun nicht so, als würden sie unsere Rührung nicht bemerken und belieben uns sehr rührend. Julia beteuert eins ums andere Mal, dass sie das im Auto geschrieben hat, im Auto…
Der Abend mit der Nacht war so zugeglückt, dass die Leute nun freiwillig gehen und Julia wünscht sich: „Hey, s,schlaf’ ma im Laden!“