Читать книгу Eine außergewöhnliche Reise durch Schottland - Das Phantom der Ruinen - Hans Maria Mole - Страница 8
II
ОглавлениеSo war ich am Überlegen, ob ich mein Zelt aufbauen sollte, direkt vor der Ruine, oder ob man die Nacht zwischen den Gemäuern verbringen könne. Nachdem meine Zeichenutensilien verstaut waren, stieg ich durch die Überbleibsel der vergangenen Zeit, um vielleicht einen Raum zu finden, der wenigstens etwas regengeschützt wäre.
Es ergab sich, dass in einem größeren Gebäude, dessen Außenseite hoch aus dem Meer aufstieg und das noch vier Stockwerke besaß, ein großer Raum im Erdgeschoss genau das war, was ich suchte. Die Decke war kein solides Gewölbe. Doch hier könnte man es trotzdem eine Nacht aushalten - warum sollte gerade jetzt die Decke einstürzen? Also, Gepäck herbei, die Luftmatratze aufblasen und den Boden einigermaßen an einer Stelle zum Hinlegen vorbereiten. Hier kam kein Regen oder Sturm herein. Noch einen Blick durch das Loch, in dem einst ein Fenster saß …, die Möwen kreischten, und man hörte die Wellen der Brandung, die unter mir an die Felsen klatschten. Es war einfach fantastisch - ein weiter Blick übers Meer …! Als ich so da stand und halb verzaubert in die Ferne sah, glaubte ich Musik zu hören. Irgendetwas griff nach meiner Seele in diesem Augenblick, und die Tränen waren nicht weit. Nach einer Weile verdrängte ich das Gefühl und hielt mich natürlich für gefühlsduselig. Eine völlige Dunkelheit gab es hier nicht, das war mir längst klar geworden. Die Sonne, die hier in diesen Breiten fast zur Mitternachtssonne wurde, beleuchtete die Landschaft in einem unvorstellbaren Rot, und die Ruinen sahen aus, als wären es Kulissen für ein bizarres Bühnenstück, das noch folgen sollte. Schade, dass ich meine Gitarre nicht mitgenommen hatte, denn jetzt wäre der Moment gekommen, wo man gefühlvolle Lieder für sich selbst spielen könnte. Wann käme so ein Augenblick wieder? Morgen werde ich schon weiter sein, vielleicht drüben, auf der Westseite oder in den Highlands, worauf ich mich auch schon richtig freute. Einige Stunden verbrachte ich noch draußen vor den Ruinen, bis die Müdigkeit mich erfasste und ich dann wieder über Brocken, die halb verfallene Treppe hinunter in diesen Raum stieg, um zu schlafen. Schnell in den Schlafsack, Kapuze hoch und weg war ich.
Durch irgendein Geräusch wurde ich wach. Die Wände waren jetzt immer noch in ein rotes Licht getaucht, und die Wellen schlugen immer noch heftig auf die Felsen. Das Gurgeln des ablaufenden Wassers ergab einen eigenartigen Singsang, der sich hier oben in dem Raum gespenstisch anhörte. Es war fast wie Musik. Oder war da wirklich Musik zu hören? War da nicht ein Dudelsack zu vernehmen? Ich lauschte, um vielleicht irgendetwas genauer zu hören. So musste ich gerade daran denken, was mal ein feinfühliger Mensch in irgendeinem seiner fantastischen Werke niedergeschrieben hatte:
„Und wer nun reist auf jenen Wegen,
sieht durch der Fenster rot Geglüh
Gebilde sich fantastisch regen
zu einer schrillen Melodie.“
Das passte doch! Aber alles was ich an Geräuschen aufschnappte, fand draußen statt, am Wasser. Ich rutschte wieder in meinen Schlafsack und machte die Augen zu. Doch achtete ich ununterbrochen auf irgendwelche Geräusche, und irgendwann war ich wieder im Land der Träume.
Ein heftiger Knall ließ mich aufschrecken. Das Rot war verschwunden. Dafür war draußen alles in ein dunkles Grauschwarz gehüllt, und ein heftiger Wind pfiff durch die Gemäuer. Schwach konnte man noch die Umrisse der ehemaligen Fenster erkennen - und wieder ein Blitz und heftiger Donner. Ein Gewitter kam von der See herüber und man konnte hören, dass es heftig regnete und ein Sturm aufs Land fegte. Hier drinnen war ich doch gut geschützt gegen das Unwetter. Hätte ich nicht gedacht. Im Zelt wäre es jetzt nicht so optimal. Immer wieder Blitze in der Dunkelheit und heftiger Donner. Draußen floss auch irgendwo das Regenwasser über die Ruinen und plätscherte in irgendwelche Pfützen. Eine ungemütliche Sache war das Ganze schon. Ich saß auf meinem Schlafsack mit dem Rücken zur Wand, träumte halb und wartete. Aber auf was? Bis das Wetter sich wieder verzogen hätte? Ich sah auf die Uhr: es war gerade mal drei Uhr. Das Weiterziehen auf die andere Seite von Schottland konnte ich im Augenblick vergessen. Wahrscheinlich müsste ich noch ein paar Tage hier bleiben, wenn das Wetter nicht mitspielen würde. Nun, hier war ich eigentlich gut aufgehoben, doch war ich versessen darauf, mehr zu erkunden, als nur diese Ruinen. Ungefähr vier Wochen hatte ich eingeplant für Schottland, und fast zwei Wochen waren schon um.
Und wieder ließ ein Donner das Mauerwerk erschüttern, so dass der Sand herabrieselte. Unheimlich war es hier schon, wenn das Licht eines Blitzes plötzlich alles wie mit Scheinwerfern erhellte und danach alles wieder rabenschwarz wurde und der nahe Donner die Wände erschütterte.
Eine halbe Stunde später hatte sich das Gewitter verzogen und es rieselte nur noch das Wasser über die Mauern ununterbrochen irgendwo hin. Ich saß immer noch da und sah zu den schwach erleuchteten Löchern der Fenster. Wie geistesabwesend dachte ich an die nächsten Tage, wobei ich mir vorstellte, was ich alles unternehmen würde. Es wäre schön, dachte ich, wenn jetzt ein Freund oder eine Freundin dabei wäre. Doch die hatten alle keinen Urlaub bekommen, oder wollten im Urlaub in den Süden – Italien war angesagt, das Land, wo zu dieser Zeit jeder hin wollte. Ich war nicht so abhängig von einer Arbeit, wo ich morgens um sieben auf der Matte stehen musste und konnte einfach wegfahren. Das Atelier musste mal ein paar Wochen ohne mich auskommen. Es war sowieso niemand da, der mich vermissen würde.
Als es heller wurde, stieg ich auf die Fensterbank, wenn man dieses ramponierte Mauerwerk überhaupt so nennen durfte, und schaute hinaus und hinunter. Dort unten schlug eine heftige Brandung an die Felsen, auf denen man das ehemalige Castle errichtet hatte. Langsam wanderten die Strahlen der aufgehenden Sonne über die Wände der Ruine, und man hatte den Eindruck, dass feine Dunstschwallen lebendig über die Fassade hüpften. Weit hinten über der See ballten sich schon wieder dicke Gewitterwolken zusammen, um einen Angriff auf diese Ruinen zu starten.
Ich musste jetzt mal raus aus der beklemmenden Ruine, um mir wieder neue Eindrücke zu verschaffen, von den nassen Ruinen und von der Landschaft rundum, die jetzt aussah, als hätte sie zum Wochenende frisch gebadet. Und so kletterte ich im Halbdunkel über den nassen Boden, flutschte übers Gras und Moos, um ganz oben auf einem Gebäudeteil einen guten Rundumblick zu haben. Dort lehnte ich mich an eine hervorstehende Mauer, die etwas über den Abgrund zeigte. Auf diese schlüpfrige Kante stützte ich meine Ellenbogen, um nicht gleich abzustürzen in eine Unzahl von kleinen Klippen und Felsplatten, die aus dem Wasser ragten. Immer wieder konnte man auch einen Teil des Felsenbodens erkennen, der nicht sehr tief unter der Oberfläche des Wassers einen Blick auf die Reste einer Mauer freigab, die längst abgetragen war und ihren Sinn nicht mehr preisgab. Fast mit einem Gefühl des Schwindels schaute ich auf das gurgelnde, schwarze Wasser unter mir, und es blieb ein unheimlicher Eindruck durch die Brandung, die mit ihren weißen Schaumkronen, ewig heulend an dem Sockel des Hauses kochend hinaufgischte.
Mich beschlich ein verwirrendes Gefühl des Neuartigen. Noch nie war ich in so unmittelbarer Nähe an einer Sturmbrandung, und man hätte sein eigenes Wort nicht verstanden, wenn man sich hätte unterhalten wollen. Zu diesem Krachen und Rauschen, das die Gischt verursachte, kam jetzt auch noch der Donner des nahenden Gewitters, das sich in kurzer Zeit über den ganzen Himmel verteilte. Der Regen flutete bereits, und ich versuchte wieder in den Raum zu gelangen, wo ich sicher war vor Blitz und Sturm.
Allerdings saß ich wie ein Gefangener hier in der Burg, und es gab für mich nichts weiter zu tun, als abzuwarten, bis das Wetter mir gewährte, weiterzuwandern. Mein Gemüt ließ auch nicht zu, das einzige Buch, das ich mitgenommen hatte, zu lesen. Nur ein paar flüchtige Skizzen entstanden von den mächtigen Wolkenbergen - das war’s schon. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass mich hier ein Abenteuer erwarten würde, das mein ganzes Leben verändern sollte - bis heute, und mir immer wieder vor Augen stand in unzähligen Variationen.
Viel später, als ich mich neben der Malerei auch ernsthaft mit Philosophie beschäftigte, erkannte ich, dass unsere Welt so aufgebaut war, dass alles um uns herum Signale abgab und auch aufnahm - alles! So konnte es zu diesen merkwürdigen Zuständen kommen, die ich erlebte und die mich zeitweise an den Rand der Verzweiflung brachten, da ich mir aber auch nicht einen Augenblick erklären konnte von dem, was um mich herum passierte.
Ich hatte mir den Rest des Proviants einverleibt, und dachte daran, dass ich morgen unbedingt in die Stadt müsste, um mir wieder Nachschub zu besorgen. Die Stadt war nur ungefähr fünf Kilometer weit weg von hier. Wobei ich überlegte, ob ich nicht von dort aus gleich weiterziehen sollte – zum Beispiel per Anhalter in die Highlands. Der Abend kam schneller als gedacht, da ich mich während des aufkommenden Sturmes auf meine Luftmatratze gelegt hatte, um etwas nachzudenken, denn aus dem Nachdenken entstand nämlich ein tiefer Schlaf, aus dem ich erst am Abend erwachte. Ich dachte noch, dass ich dann bestimmt die halbe Nacht wachliegen würde, wenn ich jetzt schon stundenlang geschlafen hätte. Wie recht ich hatte, allerdings gab es dafür ganz andere Gründe.
Wieder stand ich am Fenster und schaute übers Meer in einen rot und gelb gestreiften Himmel, der sein Licht in den Raum und an die gegenüberliegende Wand strahlte. Unten am Wasser gab es eine Veränderung: Dort, wo heute Morgen noch die Wellen an die Wände krachten, waren jetzt flache Felsplatten sichtbar, wie aufgeschichtet, die nach ein paar Metern dann abgebrochen am etwas tiefer liegenden Wasser endeten. Es war scheinbar Ebbe, und der Unterschied zur Flut war hier doch beachtlich.
Den ziehenden Wolken hätte ich noch stundenlang zusehen können, aber ein Geräusch hinter mir veranlasste mich, nach hinten zu schauen. Ich dachte noch, dass es vielleicht ein Stein gewesen sei, der sich durch das Gewitter gelöst hätte, aber es musste dann eine andere Erklärung geben, da ich etwas sah, dass bei mir eine Gänsehaut hervorrief. Auf der Wand, gegenüber des Fensters, zeichneten sich Personen ab, die am Fenster vorbeigingen. Und ihre Schatten konnte man in der untergehenden Sonne gut erkennen. Es waren mehrere Männer und einige Frauen, die gestikulierend langsam schreitend als schwarze Silhouetten vor einer roten Wand erschienen. Dabei waren sie in Wirklichkeit nicht da, ich hätte sie sehen müssen. Das gleiche geschah nochmals, als sie an dem nächsten Fenster vorbeigingen; wobei direkt nach dem Fenster die Wand verlief, und sie hätten geradewegs durch diese Wand gehen müssen. Keine zehn Sekunden hatte das Schauspiel gedauert, von dem ich mehr als beeindruckt war. Mein Gott, was war das gerade? Vielleicht eine Halluzination?
Man fragt sich natürlich, wie so etwas zustande kommt. Doch, was weiß man schon von solchen Begebenheiten, die auch andere bereits erlebt und erzählt hatten, und man für deren Geschichten nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Immer wieder hört und liest man von solchen Dingen, aber es wird fast immer in die Ecke der Lüge oder Fantasie gestellt. Das hier war keine Fantasie. Aber, was war es? Ich dachte weiter darüber nach und fragte mich gerade, ob diese Menschen, deren Schatten ich sah, sich auch zurzeit in diesem Raum befinden würden – unsichtbar!
Ganz dunkel wurde es nicht mehr nachts, und so brauchte ich eigentlich keine Taschenlampe, doch heute Nacht legte ich sie neben mich, als ich wieder auf meiner Luftmatratze saß. Ich dachte darüber nach, was das wohl früher für ein Raum gewesen sei. Sehr groß war er, mit zwei Fenstern, und an ihn grenzte ein Durchgang ohne Tür zu einem breiten Treppenhaus, wie man noch erkennen konnte. Wäre es jetzt Tag, würde ich mal weiter in den Nachbar-Ruinen nachsehen, was das wohl für eine Burg gewesen war, und ob man noch mehr Geheimnisvolles zu Gesicht bekäme.
Ein dichter Nebel zog auf, und draußen verdunkelte sich alles. Im Raum herrschte eine kalte Atmosphäre. Wie gebannt schaute ich immer zu den hellen Fenstern gegenüber von mir, so, als erwartete ich irgendetwas, das von dort kommen könnte. Langsam fielen mir die Augen zu. Morgen musste etwas passieren, damit ich aus diesem Dämmerzustand wieder herauskomme, so dachte ich noch, dann schlief ich ein, halb im Sitzen und an die Wand gelehnt.
Als ich irgendwann in der Nacht wach wurde, war mein erster Blick wieder zu den etwas erhellten Fenstern. So sah ich, dass es immer noch neblig war. Ich stand auf und ging zum Fenster, konnte draußen außer Nebel aber nichts erkennen, selbst die Geräusche von unten, vom Wasser, schallten gedämpft herauf, und als ich mich dann wieder auf meiner Decke zusammenrollen wollte, und noch mal einen kurzen Blick in Richtung Fenster warf, überlief es mich eiskalt: zwischen mir und dem Fenster saß ein Mann in einem Schaukelstuhl. Es war ein alter Mann – ich konnte seinen hellen Bart erkennen. In solchen Fällen ist der Mensch bestrebt, irgendeine Abwehr einzuleiten, und ich ergriff meine Taschenlampe und leuchtete ihm ins Gesicht. Doch die einzige Wirkung, die es erzielte, war wieder so etwas wie eine Sinnestäuschung: er war weg! Licht aus: er war wieder da! Ich konnte erkennen, dass er lächelte. Eigentlich legte ich keinen Wert auf Gespräche, jetzt in der Nacht und mit einem … Geist? Aber er redete mich mit dunkler, gebrochener Stimme an: „Es ist gut, dass du wieder hier bist. Ich wusste, dass du wiederkommst. Jetzt wird alles gut.“
Eigentlich war ich baff darüber, dass jene geisterhafte Erscheinung mich sofort mehr oder weniger zum Zuhören nötigte und mir keine Zeit zum Überlegen einräumte. Ich könnte ja auch wegrennen. Aber irgendwie ahnte oder wusste er, dass ich anders reagierte.
Einen Moment wartete jener im Schaukelstuhl, und dann sagte er noch: „Wenn du morgen in die Stadt gehst, dann bringe ein langes Seil mit.“ Dann war die Erscheinung weg. Ich muss sagen, dass mich diese Erscheinung nicht besonders erschreckte – so dachte und fühlte ich hinterher. Aber, was sollte der Satz mit dem Seil?
Ich wollte doch eigentlich nur ein paar Skizzen von den Ruinen machen und dann weiterwandern in die Highlands. Was ist jetzt daraus geworden? Habe ich geträumt? Diese Geschichte glaubt mir keiner. Ein Blick durchs Fensterloch und ich merkte, dass sich der Nebel verzog. Die Felsen mit Teilen der Ruine, die sich links von der Burg weiter ins Meer zogen, konnte man wieder erkennen. Mich fröstelte, und ich zog es vor, wieder meinen Platz im Schlafsack einzunehmen. Allerdings war ich hell wach und hätte mich gern mit irgendjemand unterhalten, aber so saß ich da und grübelte. Dabei kam auch nichts Gescheites heraus. Hätte ich nur meine Gitarre dabei!
Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, und als ich wach wurde, war es schon hell im Raum. Ich fühlte mich so …, ich weiß nicht wie - seit Tagen hatte ich kein Bad gesehen. Irgendwie musste ich ans Wasser, aber auch in die Stadt. So packte ich meine Sachen und stolperte über die verfallenen Teile der Treppe und war dann froh, oben an der „Luft“ zu sein. Weit konnte man sehen. Es war ein flaches Land mit kleinen Hügeln, und ich musste schon ein Stück gehen, um unterhalb der anderen Ruine ans Wasser zu kommen. Es war nicht gerade einladend, ins kalte Wasser zu gehen. Doch ich überwand mich und schritt todesverachtend in die eiskalte See. Ich schwamm nicht weit hinaus, warum auch?