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Der Dom zu Speyer
Оглавление„Ich lasse mich oft hinunter in die Wirren der Erde, auf der die Dinger leben. Immer, wenn ich ein Ding esse, geht es mir gut. Es ist nicht schwer, ein Ding zu fangen.“
Karl Sailer war Kirchgänger seit seiner Kindheit. Seine Eltern hatten ihn damals in die Kirche gezwungen. Jeden Sonntagmorgen musste er los und in den Dom gehen. Der Pater registrierte jedes Fehlen und hätte es seinen Eltern gemeldet. Karl wäre bestraft worden. Um diesem unerwünschten Schicksal zu entgehen, ging er lieber in die Kirche.
Nun war seine Kirche nicht irgendeine Kirche, sondern der Dom zu Speyer, er war ein sakraler Raum.
Karl kam aus der Kleinen Pfaffengasse und lief direkt auf das Westportal des Domes zu. Er kam dann zum Domnapf. Der Domnapf war ein großer Bottich vor dem Hauptportal an der Westseite des Domes.
Ursprünglich trennte er das Gebiet der Freien Reichsstadt von dem der bischöflichen Immuniät. Wenn früher ein neuer Bischof in die Stadt einzog, endete am Domnapf das von ihm beanspruchte Geleitrecht. Der Bischof musste den Napf dann mit Wein füllen, jeder Bürger durfte davon trinken. Der Domnapf fasste 1580 Liter!
Dort stand man dann vor dem gigantischen Dom an der Westseite.
Die Westseite hatte immerhin eine Höhe von 65.60 Metern. Wenn man unmittelbar vor den Türmen hoch blickte, wurde einem ganz anders. Der Speyerer Dom ist die größte erhaltene romanische Kirche der Welt.
Er ist 134 Meter lang, das Mittelschiff hat eine Höhe von 33 Metern, es ist 14 Meter breit, das Langhaus ist 38 Meter breit, die Osttürme sind 71.20 Meter hoch.
Der Dom setzt in architektonischer Hinsicht Zeichen.
Nachdem die Technik der Überwölbung großer Räume in der Antike verlorengegangen war, besann man sich in der Zeit des Dombaus darauf, sie wiederzubeleben. Die Seitenschiffe haben Kreuzgewölbe, die die Wölbung des Mittelschiffes auffangen. Die Betonung des Vertikalen weist auf die Gotik hin.
Der offizielle lateinische Name des Domes ist Domus sanctae Mariae Spirae (Dom Unserer Lieben Frau zu Speyer).
Es geht die Sage, dass Bernhard von Clairvaux zur Erinnerung an seine Begrüßung des Marienbildes im Dom vier runde Messingplatten im Mittelgang gewidmet waren, auf denen stand, O Clemens, O Pia, O Dulcis, Virgo Maria. Als er beim Singen des Salve Regina vom Marienbild vernehmbar gegrüßt wurde, rief Bernhard angeblich die Worte des Apostels Paulus Mulier Taceat In Ecclesia! (Die Frau schweige in der Kirche!).
Karl Sailer war Gymnasiast und hatte Latein als Eingangssprache, es fiel ihm nicht schwer, die vielen lateinischen Wendungen zu übersetzen. Oft ging Karl, auch später noch mit seiner Tochter Anni, um den ganzen Dom herum, man kam dann in den Domgarten. Der Domgarten ist relativ jungen Datums, er wurde ab 1821 angelegt. Er umgibt den Dom im Norden, Osten und Süden und reicht hinunter bis zum Schillerweg. Er lädt zum spazieren gehen und verweilen ein.
Viele Speyerer machen Ausflüge dorthin. Vom Schillerweg ist es ein Katzensprung zum Rhein. Dort kann man sich auf Bänke setzen und den vorbeiziehenden Schiffen zuschauen.
Im Domgarten befindet sich der Ölberg. Der Ölberg war im 16. Jahrhundert als Skulpturenensemble im damals existierenden Kreuzgang gedacht. Er fiel aber den französischen Revolutionären im Jahre 1794 zum Opfer. Auch der Kreuzgang wurde zerstört und nicht wieder aufgebaut. Erst in jüngster Zeit versah man den Ölberg mit einem Dach.
Das Heidentürmchen steht als Überbleibsel der mittelalterlichen Stadtmauer östlich vom Dom. Es lag zwischen dem sumpfigen Rheinufer und dem bebauten Domhügel, einem Brachegebiet, das man im Mittelalter mit dem Namen Heide belegte.
Die Antikenhalle wurde 1826 nördlich des Domes im Stile des Neoklassizismus gebaut und sollte der Aufnahme römischer Funde dienen. Schnell wurde klar, dass sie dazu viel zu klein war.
Sie diente dann als Gedenkstätte für die Gefallenen der zwei Weltkriege. Historisch bedeutsame Daten in der Domgeschichte waren 1031 – 1060, als Konrad II. mit dem Dombau begann, drei Jahrhunderte war der Dom Grablege der deutschen Kaiser und Könige, 1041: Fertigstellung der Hallenkrypta, 1082 – 1106: Umbau unter Heinrich IV., 1689: Zerstörung des Domes durch Truppen Ludwig XIV., 1772: Wiederaufbau als barocke Rekonstruktion, Mitte des 19. Jahrhunderts: Neugestaltung des Westwerks, ab 1957 erfolgte die permanente Restaurierung.
An der Grenze zwischen oberem und unterm Domgarten stehen die aus Muschelkalk geschlagenen Salischen Kaiser, während des Nationalsozialismus geschaffen und nie an ihrem Bestimmungsort vor den westlichen Domportalen aufgestellt. Karl Sailer erinnerte sich noch an seine Erstkommunion, als er im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern das Mittelschiff betrat. Sie kamen durch das schwere Domportal in die Vorhalle. Jeder Kommunikant trug eine Kerze in seiner Hand.
Das Langhaus war von relativ subtiler Ausstattung, was man bei der barocken Wiederauferstehung des Domes im 18. Jahrhundert nicht erwartet hätte. Lediglich die Langhausfresken von Schraudolph wurden belassen und gaben dem Langhaus etwas Farbe.
Sie waren oberhalb der Durchgänge zu den Seitenschiffen, unterhalb der Fenster angebracht.
Schraudolph hatte den Dom um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit vielen Fresken versehen, mit so vielen, dass sie den Eindruck, den der Dom beim Besucher hinterlassen sollte, zu zerstören drohten.
Man reduzierte deshalb ihre Zahl bei der Restaurierung.
Die Innenseite des Hauptportals bestand war noch ganz in der kargen Bauform des 11. Jahrhunderts. Die außerordentliche Mauerstärke von sechs Metern (!) erforderte innen wie außen einen sechsfach gestuften Portaltrichter. Der Innenraum ist von Sandstein und freigelegten Putzflächen geprägt .
In der Vorhalle sind die beiden Kaiser- und Königsstatuen postiert, im Norden König Adolf von Nassau, im Süden Kaiser Rudolf von Habsburg. Von der Vorhalle gelangt man durch das Hauptportal, auch Stufenportal genannt, in das Mittelschiff. In dem Portaltrichter wird der in der Romanik so beliebte Gesteinsschichtwechsel sichtbar.
Über dem Hauptportal befindet sich die weitgeöffnete Orgelempore, die aber keine Verbindung zum Untergeschoss hat. Entlang des Langhauses sind die Bankreihen angeordnet, mit Blick nach Osten, zum Altar hin.
Karl erinnerte sich, wie er bei seiner Erstkommunion ganz nach vorn musste, weil er am Altar im Anschluss an seine Kommunion das Abendmahl bekam. Seine Eltern saßen in der ersten Bankreihe, weil auch sie am Abendmahl teilnahmen.
Der Altar steht unter dem Vierungsturm, über ihm hängt eine Nachbildung der Kaiserkrone Konrad II. Vom Vierungsturm gehen die Querschiffe nach Norden und nach Süden ab.
Von den Querschiffen aus gelangt man zur Krypta, dem ältesten Teil des Domes. In der Hallenkrypta, der schönsten Unterkriche der Welt, hatten die salischen Kaiser und Könige, staufische und habsburgische Herrscher ihre letzte Ruhe gefunden, einzigartige Dynastien, die über hundert Jahre die Geschicke Europas bestimmten. Über dreihundert Jahre lang wurden die Herrscher in der Hallenkrypta zu Speyer beigesetzt, zwischen 1039 und 1368 fanden dort vier deutsche Kaiser und vier Könige ihre letzte Ruhestätte. Mit dem Ostarm der Krypta begann der Dombau im Jahre 1030, über ihm erheben sich Stiftchor und Apsis. Die Krypta war keine Gruft, sondern eine Unterkirche mit sieben Altären, die durch kleine Apsiden fixiert waren.
Karls Vater war einige Male mit seinem Sohn unten in der Krypta und hatte ihm erzählt, welche Bedeutung dieser untere Teil des Domes hatte. Der Krypta angeschlossen war der Zugang zur Kaisergruft. Es gibt in der Vorkrypta zwei Reliefs, die die beigesetzten Kaiser und Könige zeige, neben diesen sind noch verschiedene Bischöfe in der Kaisergruft bestattet.
Karl war in der Krypta immer unheimlich zumute, zum einen, weil man sich unter dem Dom befand, zum anderen, weil eben dort Tote lagen. Er war immer froh, wenn sie die Krypta wieder verließen und in den oberen Teil des Domes gingen. Aber später, als er selbst Vater war, ging er mit seiner Tochter Anni in die Krypta und erklärte ihr die Bedeutung dieses Domteiles. Auch Anni war es dort unten unheimlich zumute.
In die Stufen der Osttürme sind Grabplatten eingesetzt, die aus gotischer Zeit stammen und in die Zeichen und Symbole eingebracht wurden, die bis heute nicht erforscht sind.
Der Dom verfügt über verschiedene Kapellen. An der Südseite stehen die Doppelkapelle St. Emmeran und St. Katharina. Mit ihrem Bau hatte man schon 1050 begonnen. Erst 1961 stellte man den Zustand der Kapellen wieder her. St. Emmeran diente lange als Taufkapelle. Durch eine Mittelöffnung sind die beiden übereinander liegenden Kapellen miteinander verbunden. An der Nordseite des Domes befindet sich die Afrakapelle. Sie ist jünger als die beiden anderen. Man fand 1064 in einem Steinsarg in Augsburg die Gebeine der frühchristlichen Märtyrerin Afra. Zu jener Zeit ließ Heinrich IV. die Afrakapelle bauen und bat die Augsburger, ihm die Gebeine zu übergeben. Sie gaben ihm die sehr bescheidenen Reliquien der heiligen Afra. Nach seinem Tod im Jahre 1106 wurde Heinrich IV. in der Afrakapelle vorläufig beigesetzt. Erst fünf Jahre später wurde Heinrich IV. neben seinen Vater Heinrich III. in die Familiengruft der Salier gelegt. Die Afrakapelle sank zusammen mit dem Dom 1689 nach dem Franzosenangriff in Schutt und Asche. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie wieder aufgebaut. 1974 wurde sie umfangreich restauriert. Bei diesen Arbeiten stieß man auf ein Stück Pergament, das als ein Blatt der um 500 geschriebenen Ulfila-Bibel identifiziert wurde. Die Ruinen fünf weiterer Kapellen, die an der Nordseite des Domes zu finden waren, wurden schon 1754 dem Erdboden gleichgemacht.
Aus statischen Gründen bindet eine außen um den Dom laufende Zwerggalerie das ältere Langhaus und das jüngere Querschiff zusammen.
Über dem Westportal befinden sich die fünf Schutzpatrone des Domes: Maria, Erzengel Michael, Johannes der Täufer, Stephanus und Bernhard von Clairvaux. Natürlich steht Maria, die ja auch Namensgeberin des Domes ist, in der Mitte der Gruppe an höchster Stelle. Etwa in der Mitte der Westseite liegt das Radfenster mit Christus in der Mitte und den Symbolen der vier Evangelisten in den Ecken.
Karl ging oft mit Anni außen um den Dom herum und zeigte ihr solche Besonderheiten wie die Schutzpatrone oder das Radfenster. Insbesondere der Portalbereich zeigte eine Fülle von Figuren und Ornamenten.
Wenn Karl mit Anni um den Dom ging, kamen sie zur Ostseite und damit zu den älteren Domteilen. Dort zeigt sich hochromanische Architektur par excellence, der Unterbau der Türme, die erst um 1200 mit steineren Turmhelmen versehen wurden. Die Schallöffnungen dienten nur der architektonischen Gliederung, die Türme hatten nie Glocken getragen. An der Ostseite befinden sich auch die gotische Sakristei, die barocke Schweifkante des Vierlingsturmes und der Strebepfeiler.
Wenn Karl und Anni noch weiter um den Dom gingen, kamen sie zur Südseite. Das südliche Querschiff weist eine straffe Gliederung auf, über den Kryptafenstern sind die Fenstergeschosse zusammengefasst, wobei der Akzent auf den prunkvollen oberen Fenstern liegt. Das südliche Querschiff ist mit einem in der Romanik beispiellosen Strebepfeiler versehen, der durch die geringe Wandstärke der Westfassade bedingt ist.
Die Dächer des Domes wurden später in Kupfer gefasst. Lediglich die Sakristei behielt aus stilistischen Gründen ein Schieferdach. Das Kupfer der Dächer war natürlich längst oxidiert und inzwischen grün.
Als Karl mit Anni an der Ostseite des Domes vor der Apsis stand und seiner Tochter das grüne Apsisdach zeigte, glaubte er, auf dem Dach eine grüne Figur erkannt zu haben, die sich sofort versteckte. Er war aber davon überzeugt, sich getäuscht zu haben. Was allerdings auffiel, war ein leichter Schwefelgeruch in der Luft, für den Karl keine Erklärung hatte.
In diesem Moment fing das Große Geläut an, und Karl ging mit Anni nach vorn zur Westseite, um ihr den Mittelturm zu zeigen, der als einziger der sechs Türme des Domes Glocken trug, er galt seit jeher als Glockenstube. Es gibt insgesamt neun Glocken im Mittelturm, von denen die vier größeren 1822 von Peter Lindemann in Zweibrücken und die fünf kleineren von Friedrich Wilhelm Schilling in Heidelberg gegossen worden waren.
Es kursiert eine Sage über die Glocken des Domes zu Speyer, als Heinrich IV. in Lüttich starb, wurde sein Leichnam nach Speyer überführt. Er musste aber, weil er im Kirchenbann lebte, in der damals noch ungeweihten Afrakapelle beigesetzt werden. Für die Speyerer war Heinrich IV. der große Wohltäter von Dom und Stadt. Angeblich hätte die Kaiserglocke von selbst angefangen zu läuten als Heinrich IV. Starb. Als aber der abtrünnige Sohn Heinrich V. auf dem Sterbebett lag, hätte nur das Armesünderglöcklein geläutet. Im Mittelturm des Speyerer Domes hängt noch eines der wenigen Großgeläute des 19. Jahrhunderts.
Die neun Glocken sind (in Klammern Ton, Durchmesser in Metern, Gewicht in Kilogramm) der Größe nach 1) Josephus Rex Bavariae, die Kaiserglocke (g°, 2.08, 5350), 2) Frederica Wilhelmina Carolina Regina Bavariae (b°, 1.75, 2600), 3) Ludovicus Carolus Dux Bavariae (des, 1.47, 1650), 4) Mathaeus des Chaudelle prius episcopus ecclesiae Spirensis restauratae (f, 1.15, 600), 5) O Clemens, O Pia, O Dulce, Virgo Maria (as´, 0.995, 601), 6) St. Joseph, Patron der Kirche, bitte für uns (b´, 0.903, 494), 7) Heilige Anna, halte Deine Hand über die Familien (des´´, 0.838, 440), 8) Heiliger Pirmin, stärke den Glauben, den Du verkündet hast (es´´, 0.75, 312), 9) St. Otto, erhalte Dein Werk (f´´, 0.667, 217).
Gewaltig ertönte der Klang des Großen Geläutes über dem Domplatz. Karl und Anni standen neben vielen anderen andächtig und hörten die Glocken. Als das Geläut langsam abebbte, gingen sie in den Domgarten und wollten durch den Park laufen, um dann zum Rhein zu gehen, das waren ungefähr fünfhundert Meter.
Sie liefen auf das Heidentürmchen zu, um das erhaltene Stückchen Stadtmauer zu unterqueren. Das Heidentürmchen war neben dem Altpörtel der einzige erhaltene von ehemals einundzwanzig Türmen des inneren Stadtmauerringes, insgesamt zählte die Stadtmauer von Speyer fünfzig Türme. Karl und Anni überquerten den Schillerweg und liefen in das Parkstück zwischen Rheinallee und Bundesstraße 39. Es herrschte eine ziemliche Geräuschkulisse, bedingt durch die stark befahrene Bundesstraße. Mit einem Male war Anni verschwunden. Karl war um eine Wegbiegung gelaufen, als er seine Tochter neben sich vermisste. Er war die ganze Zeit in Gedanken gewesen und hatte deshalb nicht so sehr auf sie geachtet. Er lief die Wegbiegung zurück, um nach Anni Ausschau zu halten, vielleicht war sie mal kurz in den Büschen verschwunden, dachte Karl.. Er rief nach ihr, keine Antwort. Laut rufend rannte er bis zum Heidentürmchen zurück, nichts.
Karl hatte keine Erklärung für Annis Verschwinden, es war auch nicht Annis Art, sich einfach davon zu machen.
Er lief wieder zu der Stelle, an der er Annis Verschwinden das erste Mal bemerkte, keine Spur von Anni. Da stellte er plötzlich an einem Gebüsch, das an der Wegbiegung lag, einen starken Schwefelgeruch fest, genau wie oben am Dom, als er mit Anni an der Apsis der Ostflanke gestanden hatte. Merkwürdig, dachte Karl noch, wo wohl dieser Schwefelgestank herrühren mochte, als er an eben jenem Gebüsch Annis Kleidung liegen sah. Wahllos auf dem Boden verstreut, Annis Hose, Strümpfe, Bluse, Unterwäsche, sogar ihre Schuhe. Karl nahm Annis Hose hoch und bemerkte einen stechenden Geruch von Erbrochenem. Ein leichtes Entsetzen packte ihn, was war dort geschehen?
Ein Stück entfernt nahm er weiße runde Röllchen wahr, ganz leicht, wie aus Kunststoff, die der Wind an einen Busch gedrückt hatte.
Er schrie so laut er konnte nach Anni, nichts.
Da, wo er stand, war er Boden leicht versengt und qualmte. Karl konnte sich auf das alles keinen Reim machen. Er nahm sein Handy und rief die Polizei an, wo man seine Angaben doch recht ungläubig aufnahm und jemanden zu schicken versprach. Nach dreißig Minuten kamen zwei Polizeibeamte in den Park und ließen sich von Karl die Fundstücke zeigen. Dann erzählte Karl mit schluchzender Stimme, wie er mit Anni vom Dom aus zum Rhein laufen wollte, und wie er Anni dann dort, wo sie standen, plötzlich vermisste.
Die Beamten rochen auch den Schwefel in der Luft und bemerkten den stechenden Gestank an Annis Kleidung. Sie riefen die KTU und einen Psychologen herbei und kümmerten sich um den inzwischen weinenden Karl. Es musste von einem Kapitalverbrechen ausgegangen werden, sagten sie ihm und nahmen ihn zwischen sich.
Kurze Zeit später erreichten die KTU-Beamten den Tatort zusammen mit dem Psychologen. Karl war völlig apathisch und begriff gar nicht, was geschehen war. Die inzwischen hinzugerufene Kriminalpolizei konnte sich allerdings auch nicht klar machen, was sich da zugetragen hatte. Fest stand, Anni war verschwunden, sie hatte keine Kleidung an, vermutlich ein Sexualdelikt.
Allerdings erklärte das noch nicht den ekelhaften Gestank und den Schwefelgeruch, der immer noch deutlich vernehmbar war.
Die KTU nahm Annis Kleidung in Plastiksäcken mit zum Labor. Auch einen Teil der merkwürdigen, wie extra dünner weißer Kunststoff aussehenden Würstchen nahmen sie auch mit. Der Psychologe brachte Karl nach Hause und hatte da die traurige Aufgabe, Annis Mutter vom Verschwinden ihrer Tochter zu unterrichten.
Frau Sailer brach sofort in Tränen aus und drohte, hysterisch zu werden. Der Psychologe schaffte es aber, sowohl Karl als auch Frau Sailer soweit zu beruhigen, dass er sich mit ihnen unterhalten konnte. Er blieb noch bis in den Abend hinein, als er sich verabschiedete und die Sailers auf den nächsten Tag vertröstete. Danach würden alle sicher mehr wissen, die KTU hätte die Fundstücke untersucht und könnte genaueren Bericht geben.
Karl und seine Frau Linda verbrachten den Abend fassungslos und tief verstört zu Hause. Sie konnten nichts essen und gingen irgendwann zu Bett. An Fernsehen war natürlich nicht zu denken. Karl überlegte noch einmal ganz genau, wo er Anni zuletzt gesehen hatte, kam aber nicht weiter. Er schlief sehr schlecht in der folgenden Nacht, auch Linda lag wach.
Am nächsten morgen konnten es beide kaum erwarten, dass die Polizei bei ihnen schellte und sie informierte. Um 8.30 h ging das Telefon, der Beamte vom Vortag war am Apparat und bat darum, mit einem Kollegen vorbeikommen zu dürfen. Um 9.00 h standen die beiden in Sailers Wohnzimmer. Linda hatte Kaffee gekocht, den die Beamten gern nahmen.
Dann sagten sie, dass sie die Untersuchungsergebnisse sehr überrascht hätten. Die Kleidung von Anni wies Spuren von Erbrochenem auf, die Magensäure hätte aber eine so starke Konzentration, dass sie für jeden Menschen sofort tödlich wäre.
Niemand hatte eine Erklärung dafür, wie eine so starke Säure an die Kleidung gekommen wäre, normal wäre 0.5-prozentige Salzsäure, an der Kleidung wäre aber 80-prozentige Salzsäure nachgewiesen worden, sie wäre in Teilen schon zersetzt.
Die gefundenen weißen Röllchen wären Exkremente, die in Aussehen und Konsistenz völlig von menschlichen Exkrementen abwichen. Die ganze Sache wäre ein völliges Rätsel, man stocherte total im Dunkeln. Das beruhigte die Sailers natürlich überhaupt nicht, Linda fing wieder an zu weinen, auch Karl standen die Tränen in den Augen. Die Beamten entschuldigten sich dafür, nicht mehr sagen zu können und verblieben mit dem Versprechen, sich sofort zu melden, wenn sich neue Erkenntnisse ergäben. Dann gingen sie.
Die Sailers hatten große Probleme damit, ohne Anni zurechtzukommen. Linda deckte den Frühstückstisch, natürlich auch für Anni, obwohl sie nie mehr zu Hause frühstücken würde. Karl und Linda schwiegen sich an, Linda brach ab und zu schluchzend zusammen. Karl begann, sich Vorwürfe zu machen. Hätte er doch nur besser auf Anni aufgepasst!
Doch das brachte niemanden weiter. Anni blieb verschwunden, an diesem Tag, am nächsten Tag, in den nächsten Wochen, immer. Karl ging mit Linda zum Dom und betete vor dem Altar.
Am Abend des ersten Tages nach Annis verschwinden brachte die Tagesschau eine Meldung über das mysteriöse Verschwinden eines Mädchens in der Nähe des Speyerer Domgartens, es gäbe einige merkwürdige Begleitumstände, für die man keine Erklärung hätte.
In Annis Schule war die Trauer groß. Anni hatte viele Schulfreundinnen. Sie ging in die vierte Grundschulklasse und sollte im nächsten Jahr auf das Gymnasium wechseln. Die Freundinnen steckten immer zusammen, sie schrieben sich gegenseitig in ihre Poesiealben und hatten den gleichen Musikgeschmack, Tokyo Hotel. Eigentlich wollten alle zum nächsten Tokyo-Hotel-Konzert gehen, sie träten im folgenden Monat in Mannheim auf. Anni war sehr beliebt, sie sah gut aus und war in Ordnung.
Oft kamen die Klassenkameradinnen am Nachmittag vorbei, und sie machten gemeinsam Schulaufgaben. Man zog anschließend durch die Stadt bis zum Altpörtel, oder sie gingen zusammen schwimmen. Im nächsten Jahr hätten sie alle eine Woche nach Ostern an Quasimodogeniti zusammen die Erstkommunion gefeiert.
Die Mädchen waren unendlich traurig über Annis Verschwinden. Sie hängten in der Klasse Fotos von Anni auf, auch Briefe. Viele trugen Passbilder von Anni immer bei sich.
Es vergingen Wochen, die Polizei kam nicht weiter. Immer wieder fuhr man hinaus in den Park zwischen Rheinallee und Bundesstraße 39 und untersuchte den Brandfleck auf dem Boden, der schon bald wieder zugewachsen sein würde. Er war drei Meter im Durchmesser, kreisrund.
Schwefelgeruch war nicht mehr feststellbar, die weißen Röllchen waren verschwunden.