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Die Veltins-Arena
Оглавление„Manchmal muss ich aber doch einiges an Geschick aufwenden, wenn ich ein Ding schnappen will, um nicht selbst erwischt zu werden. Ich muss in Zukunft überlegen, wie ich die Brandspuren vermeiden kann.“
Ein Stadion ist ein Hexenkessel. Es ist ein Raum des sportlichen Wettkampfes und gelegentlich der Massenhysterie. Es gibt weltweit in jeder größeren Stadt Stadien, meist Fußballstadien. Die Zuschauertribünen fassen bis zu hunderttausend Plätze. Die Stadien haben historische Vorbilder. Im ursprünglichen Wortsinn ist ein Stadion ein antikes griechisches Längenmaß, das eine Strecke von sechshundert Fuß angibt (circa 180 m). Im klassischen Griechenland gab es Stadien in Olympia, wo 776 v. Chr. die ersten Olympischen Spiele ausgetragen wurden.
In Italien hatten die Olympischen Spiele keine kultische Bedeutung und galten lange Zeit als unmoralisch. Dennoch errichtete Kaiser Domitian ein Stadion, die heutige Piazza Navona in Rom.
Weitaus größere Bedeutung hatten in Italien die Amphitheater, wie das Colosseum und das Flavische Theater in Rom. Aus diesen Amphitheatern wurde die Form der modernen Stadien entwickelt. Die moderne Wortbedeutung des Stadions war viel weiter gefasst und bezeichnet Sportstätten mit Besuchertribünen und meist mit einer um ein Rasenspielfeld angelegten Laufbahn. Stadien sind Räume mit fester geometrischer Dimension, sie haben große Bedeutung für die Massen.
Die meisten Stadien sind Fußballstadien, die eine Leichtathletikanlage enthalten, das heißt, es gibt einen Rasen- oder Ascheplatz mit umlaufender Tartan- oder Aschebahn, daran schließt sich die Zuschauertribüne an. Der Trend geht heute zu reinen Fußballstadien, da durch den Ticketverkauf mehr Geld eingenommen werden kann, als für Leichtathletikveranstaltungen. Man spricht bei diesen Großstadien auch von Arenen. Ihr Dach kann zum Teil verschlossen werden, so kann die Arena zur Halle werden.
Der Rasen auf dem Fußballplatz ist ein Kapitel für sich. Er muss bestimmten Anforderungen genügen, er muss scherfest sein, eine hohe Belastbarkeit, ein großes Regenerationsvermögen haben und balltreu sein. An der Universität Hohenheim gibt es eigens eine Abteilung Rasenpflege, die der Fakultät Agrarwissenschaften angeschlossen ist.
Die Arenen sind die Kampfstätten der modernen Zeit. Es wird von Seiten der Vereine ein unglaublicher finanzieller Aufwand betrieben, um sie zu bauen. Sie kosten leicht 500 Millionen Euro. In Deutschland gibt es zur Zeit einige Arenen, die nennenswert sind: die Iduna-Signal-Arena in Dortmund, die Veltins-Arena in Schalke und die Allianz-Arena in München. Diese Arenen sind reine Fußballstadien, wobei man sagen muss, dass die Veltins-Arena eine Besonderheit aufweist, mit einem beispiellosen technischen Aufwand lässt sich die gesamte Rasenfläche hinausfahren und der Stadioninnenraum anderweitig nutzen.
Die meisten Arenen haben schließbare Dächer, sodass sie in Riesenhallen verwandelt werden können.
Das Problem ist, dass dann der Rasen nicht ausreichend beregnet und von der Sonne beschienen wird. Der Rasen auf Schalke wird praktisch permanent außerhalb gehalten, um ihm die natürlichen Kraftquellen zukommen zu lassen.
Wegen des mobilen Rasens können in der Veltins-Arena zum Beispiel auch Biathlonwettkämpfe stattfinden. Jeder Fußballverein ist natürlich begierig darauf, eine Arena zu bekommen, weil nur so auseichende finanzielle Mittel in die Vereinskasse strömen. Sogar Zweitligavereine haben in Deutschland inzwischen Arenen. Das klassische Stadion ist allerdings immer noch mit einer Leichtathletikanlage ausgestattet.
Wegen der 400 Meter langen Laufbahn sind deshalb die Maße genau vorgegeben: in der Mitte ein Fußballfeld mit 100 Metern Länge, daran anschließend zwei Halbkreise mit dem Radius 100/pi Meter = 31.8 Meter. Das heißt, dass diese Stadien eine Länge von 163.6 Metern ohne Zuschauertribüne und eine Breite von 2*31.8 Metern = 63.6 Meter haben.
Die eigentliche Sportfläche muss in einem absolut guten Pflegezustand gehalten werden, meistens sind dafür Platzwarte zuständig. Handelt es sich um einen reinen Ascheplatz, wie früher überall üblich, dann muss der Platz vollkommen in der Waage ausgerichtet sein, er muss gewässert werden, damit die Asche nicht vom Wind weggeweht wird. Die Begrenzungslinien müssen ständig aufgefrischt werden. Dazu gibt es den Kalkwagen, den der Platzwart täglich zu bedienen hat. Auf dem Fußballplatz sind diverse Linien permanent nachzuziehen: die eigentlichen Feldbegrenzungslinien, längs 100 Meter, breit circa 60 Meter, die Strafraumlinien, die Mittelllinien und der Abstoßkreis. Dazu kommen aber noch die Lauflinien auf der Aschebahn. Bei fünf Laufbahnen sind das 2*400 Meter für die innerste und 2*430 Meter für die äußerste Bahn. Wenn das Stadion einen Rasenplatz hat, kommt natürlich die Rasenpflege hinzu. Der Trend geht seit Jahren zum Rasenplatz, weil der Rasen leichter zu bespielen ist. Außerdem gab es früher schlimme Bein-und Armwunden, wenn die Spieler auf Ascheplätzen gefoult wurden und fielen, und das kam schließlich immer wieder vor.
Die Asche war oft Schlackeabfall aus Stahlwerken und entsprechend mit Schadstoffen belastet, auch das war ein Problem für die Spieler. Auch die Läufer atmeten die feinen Stäube ein, die beim Laufen aufgewirbelt wurden und mit Schadstoffen angereichert waren. Der Rasen muss extrem strapazierfähig sein, das ist klar. Man sucht deshalb sehr sorgfältig nach den geeigneten Rasensorten. Bis zum Schluss wurden bei der letzten Fußballweltmeisterschaft die Rasensorten ausprobiert und schließlich aus den Niederlanden nach Deutschland gebracht.
Nach jedem Fußballspiel gibt es erhebliche Beschädigungen am Rasen, da hat der Platzwart genug zu tun, um die Löcher im Rasen zu stopfen. Manchmal müssen ganze Rasenflächen ausgetauscht und Rollrasen aufgebracht werden. Oftmals bleibt für den Rasen zwischen den Spielen nicht genügend Zeit, um nachzuwachsen. Die Stadien unterscheiden sich natürlich in ihrer Größe durch die Zuschauerränge. Die einfachen Stadien haben an den Längsseiten treppenartig nach oben angebrachte Betonstufen, auf denen die Zuschauer stehen können. Größere Stadien haben überdachte Sitzränge, Fußballarenen haben ausschließlich Sitzplätze, die größten Stadien, wie das Macarena-Stadon in Rio de Janeiro oder das Aztekenstadion in Mexico City, haben 100000 Sitzplätze.
Aber auch die deutschen Arenen haben beträchtliche Ausmaße. Die Iduna-Signal-Arena in Dortmund hat 80000 Sitzplätze.
Die Stadien sind immer exakt abgegrenzte Räume. Der Blick in ihnen ist meistens durch die Zuschauertribünen begrenzt, selten kann man über die Tribünen hinausschauen. Die visuelle Wahrnehmung ist für eindreiviertel Stunden auf das Stadioninnere beschränkt. Auch Geräusche nimmt man ausschließlich aus dem Stadioninneren wahr. Der Blick gleitet über die Massen, von denen man anfangs noch einzelne Köpfe unterscheiden kann, gegen Ende aber nur noch große Menschenflächen sieht. Auf dem Spielfeld, da erkennt man einzelne Akteure.
In den Stadien gibt es einige Besonderheiten. So isst man in der Halbzeit eine Braune, das ist eine Bratwurst, der beliebteste heiße Snack. La Ola ist die Welle, die vom Fußballpublikum als Massenperformance ausgeführt wird. Ab und zu sieht man in den Stadien Flitzer, das sind Menschen, die nackt über die Spielfläche rennen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie werden sofort von den Ordnungskräften ergriffen und des Stadions verwiesen.
In den Fußballarenen ist an Spieltagen der Teufel los. Auf den Parkplätzen an den Arenen drängen sich die Autos, die oft nur mit Mühe bis dahin gelangt sind. Im Falle der Veltins-Arena stauen sich die Autos auf der A 42, die Abfahrt liegt in unmittelbarer Stadionnähe.
Von Gladbeck kommend fährt man in Gelsenkirchen-Buer ab, biegt in die Erich-Zimmermann-Allee ein, fährt am Kreisverkehr links in die Kurt-Schumacher-Straße, parallel dazu verläuft der Stan-Libuda-Weg, der direkt zur Veltins-Arena führt. An Spieltagen schleppt sich der Verkehr im Stop and Go- Verfahren bis zum Parkplatz. Die Veltins-Arena ist das Hausstadion des FC Schalke 04. Sie wurde im Jahre 2001 fertiggestellt und zählt zu den größten Stadien der Welt.
Bei Spielen von rein nationaler Bedeutung fasst sie 61673 Zuschauer, bei internationalen Begegnungen herrscht Stehplatzverbot, die Zuschauerzahl schrumpft dann etwas. Die UEFA verlieh der Veltins-Arena den Status eines 5-Sterne-Stadions.
Im Gelsenkirchener Parkstadion wurde 1974 die Fußballweltmeisterschaft gespielt. Das Parkstadion löste die alte Glückauf-Kampfbahn ab. Es genügte dann aber nicht mehr den Ansprüchen an ein modernes Fußballstadion. Schon früh reiften Pläne für eine Arena.
Günter Eichberg präsentierte schon 1984 Pläne von einer Arena im Berger Feld, die aber wegen Geldnot fallen gelassen wurden. Erst unter Rudi Assauer kam es 1998 zum Baubeginn.
Das Namensrecht wurde für fünfzehn Jahre bis 2015 an die Veltins Brauerei verkauft. 2006 wurden fünf Partien der Weltmeisterschaft in der Veltins Arena gespielt, so zum Beispiel das Viertelfinalspiel England gegen Portugal (1:3). Damit der Rasen auf Schienen mittels einer speziellen Hydraulik hinausgefahren werden kann, wurde die Südkurve freischwebend wie eine Brücke über dem Durchlass gebaut. Die Kosten für das Rein-und Rausfahren belaufen sich auf 13000 Euro.
Es gibt in der Arena eine Kapelle, in der Taufen und Hochzeiten gefeiert werden. In der Nordkurve gibt es bei nationalen Spielen 16307 Stehplätze, die bei internationalen Spielen in Sitzplätze umgebaut werden können. Die Tribüne ist in Segmente unterteilt, die sich bei Gebäudeabsenkungen gegeneinander verschieben können. Auch die Dachkonstruktion ist auf Gebäudeabsackungen ausgelegt.
Über dem Spielfeld hängt ein Videowürfel mit vier jeweils 36 Quadratmeter großen Videoflächen, die auch weit entfernt sitzenden Zuschauern ermöglichen, den Spielverlauf zu beobachten. Die Firma Philips hatte den Würfel gebaut und war bis 2006 mit einem Schriftzug auf dem Würfel vertreten.
Das Spielfeld ist mit einem drei Meter tiefen Graben von den Zuschauern getrennt. Das ist der Grund, weshalb die Veltins-Arena bei der Stiftung Warentest bei einem Sicherheitstest sehr schlecht abgeschnitten hat. Bei einer Panik könnten die Zuschauer nicht auf das Spielfeld flüchten. Man nimmt aber an, dass die Zuschauer bei einer Panik in die Richtung fliehen, aus der sie gekommen sind.
Es wurde oben schon darauf hingewiesen, dass neben Fußball auch andere Veranstaltungen in der Arena stattfinden. So waren Paul Mc Cartney, John Bon Jovi und Eminem da, es wurden aber auch Aida und Carmen aufgeführt. Es gibt neben Speedway und Biathlon weitere Events, so hat Stefan Raab ein Stockcar-Rennen veranstaltet.
Karl Becker war Schalke-Fan, so lange er denken konnte.
Er kannte noch Stan Libuda, Ernst Kuzorra und Klaus Fischer, um mal die größten Schalke-Spieler zu nennen. Und natürlich kannte er Charly Neumann, der am 11.11.08 gestorben und unter großer Anteilnahme in Gelsenkirchen beigesetzt worden war. Karl erinnerte sich an Klaus Fischers Tor des Jahrzehnts zum 4:1 gegen die Schweiz per Fallrückzieher. Aber auch an die Schmach von Cordoba am 21.06.1978, bei dem Fischer auch dabei war, und bei dem das Spiel gegen Österreich über die ganze Länge geschleppt wurde.
1981 trat Rudi Assauer als Manager seinen Dienst in Schalke an. Schalke stieg in die zweite Bundesliga ab, 1983 folgte erneut ein Abstieg in die zweite Liga.
Der junge Olaf Thon machte eine steile Fußballkarriere und wurde Mitglied der Nationalmannschaft. Weitere berühmte Namen des FC Schalke 04 waren Klaus Fichtel, Günter Siebert, Rolf Rüssmann, Günter Eichberg.
Am 21.05.1997 fand das in seiner Spannung kaum zu überbietende Cup-Endspiel gegen Inter Mailand in Mailand statt. Schalke geriet vor mehr als 80000 Zuschauern ins Elfmeterschießen. Schalke gewann 4:1 und holte sich den UEFA-Pokal. Vier Jahre später war Schalke fast deutscher Meister, als Bayern München in der 94 Minute (!!) durch Freistoß ein Tor erzielte, das die Schalke-Meisterschaft verhinderte, eine sehr umstrittene Freistoßentscheidung.
In der Woche vom 03.-10.05.2004 feierte Schalke sein hundertjähriges Bestehen. 65000 Fans kamen zur Geburtstagsparty in die Arena. Am 17. Mai 2006 endete nach 19 jähriger Dauer die Ära Assauer, er trat als Manager von Schalke 04 zurück.
Diese Daten sind Karl Becker alle geläufig. Er ist 45 Jahre alt, war also zur Schalker Hochzeit ein junger Bursche.
Er war selbst Fußballer, hatte aber immer nur nach Feierabend aus lauter Spiellust gespielt. Hinterher ging er mit seinen Kumpanen immer in die Stammkneipe und trank ein paar Dortmunder Union.
Dann heiratete Karl Becker und das Fußallspielen hörte auf. Er ging dann nur noch ins Stadion, oft gegen den Willen seiner Frau, die mit Fußball nichts anzufangen wusste.
Vor zehn Jahren kam sein Sohn Tobias auf die Welt. Mit ihm ging er danach immer in die Arena, Karl hatte eine Dauerkarte für sich und Tobias. Tobias fragte immer seinen Schulfreund Patrick Förster, ob er mitkommen wollte. Meistens kam Patrick mit. Manchmal begleitete ihn sogar sein Vater.
Karl Becker wohnte in Gelsenkirchen Stadtmitte. Er fuhr mit der Bogestra-Linie 302 zur Arena, dann brauchte er sich nicht um einen Parkplatz zu kümmern. Auch hatte er mit Verkehrsstaus nichts zu tun.
So war er auch an jenem denkwürdigen Samstag unterwegs, als das Spiel gegen Bochum stattfand. Dieses Revierderby war ein Klassiker. Schalke hatte gegen Bochum ein dickes Pluskonto, die meisten Begegnungen wurden für Schalke entschieden.
Die Atmosphäre vor dem Spiel war schon aufgeladen. In der Straßenbahn saßen auch viele Bochumer Fans, die am Hauptbahnhof einstiegen, weil sie mit dem Zug von Bochum angereist waren. Viele, auch Schalker Fans, hatten Bierdosen in der Hand. Es gab Pöbeleien. Wären nicht vier Polizeibeamte in der Straßenbahn gewesen, hätte es auf der Fahrt zur Arena schon Kloppereien gegeben.
Karl sagte Tobias und Patrick, dass sie sich ganz normal benehmen und ja keinen Bochumer Fan reizen sollten. Als sie an der Arena die Straßenbahn verließen, standen Tausende vor dem Mundloch, wie der Haupteingang in Anlehnung an die Bergmannssprache genannt wurde. Mundloch war die Bezeichnung für das Ende eines Stollens an der Tagesoberfläche. Die Stimmung war schon vor dem Spiel aufgeheizt.
Zig Polizisten trennten die Fanblöcke und sorgten auch in der Arena dafür, dass der Schalker und der Bochumer Fanblock strikt voneinander getrennt waren. Man schrie sich gegenseitig Drohungen zu und warf auch schon mal leere Dosen auf die andere Fanseite.
Alle wurden vor dem Betreten der Arena nach Waffen durchsucht. Wenn der Abtaster piepste, musste man sagen bzw, zeigen, was man in den Taschen trug. Dann ging es hoch auf die Tribüne.
Jeder hatte sich ein Getränk besorgt, die meisten tranken Bier und waren entsprechend angeheitert. Im Stadion verlor sich das Knistern, das die Stimmung vor der Arena und in der Straßenbahn bestimmt hatte.
Dann kam der Anpfiff.
Sofort schlug die bis dahin doch relativ lockere Atmosphäre um in offene Hassbekundungen und wüste Beschimpfungen. Die Schalker waren von Anfang an überlegen. Nach zwanzig Minuten köpfte Gerald Asamoah zum 1:0 für Schalke.
Wüstes Geschreie und gellende Pfiffe auf Seiten der Bochumer Fans waren die Folge. In Anspielung auf Asamoahs Hautfarbe gaben die Bochumer affenartige Grunzlaute von sich. Einige Fans versuchten, Gegenstände auf das Spielfeld zu werfen, was ihnen aber nicht gelang.
Als Asamoah nach neununddreißig Minuten das 2:0 schoss, eskalierte der aufgestaute Hass bei den Bochumern, und obwohl starkes Polizeiaufgebot die Tribüne in Schach hielt, gelang es einigen Bochumern, Schalker Fans zu provozieren und anzugreifen.
Manche begannen, zu prügeln. Karl stand mit den Kindern abseits des Geschehens und checkte schon einmal den nächsten Tribünenabgang.
Die Polizei nahm einige Randalierer in Gewahrsam. Dann kam der Halbzeitpfiff.
Der Polizeikordon stand dann so fest, dass kein Fan die Tribüne verlassen konnte. Man ließ nur ganz vereinzelt Leute durch, die zur Toilette mussten.
Ansonsten erschien es den Sicherheitskräften aber als zu riskant, die Fans zu den Würstchenbuden hinunterzulassen, das hätte Mord und Totschlag bedeutet. Irgendwie war es aber zehn Bochumern gelungen, durch den Polizeigürtel zu gelangen und eine üble Schlägerei anzufangen.
Karl Becker war nicht wohl in seiner Haut. Er dachte dabei weniger an sich, als an die Kinder. Die sahen nichts von der immer weiter um sich greifenden Massenschlägerei, sie hörten nur lautes Geschreie und Geschimpfe. Mit einem Male war die Klopperei aber auch bei ihnen angekommen.
Die Kinder sahen, wie ein Schalker Fan die Faust eines Bochumers mitten ins Gesicht geschlagen bekam. Er blutete aus der Nase, Tobias tropfte sogar schon das Blut auf seine Jacke.
Sofort überwältigten drei Schalker den Bochumer, drückten ihn zu Boden und schlugen auf ihn ein. Er zog ein schmerzverzerrtes Gesicht, panisches Entsetzen befiel ihn. Dann traf der Tritt eines Schalkers mit voller Wucht sein Gesicht, er blutete aus dem Mund.
In diesem Moment schnappte Karl die Kinder bei ihren Kapuzen und zog sie hinter sich her Richtung Tribünenabgang, der noch begangen werden konnte, bevor die Situation völlig außer Kontrolle geriet. Es herrschte eine völlige Unordnung, ein Höllengeschrei erfüllte die Luft, Polizisten rannten die Treppe hinauf, die Schlagstöcke in den Händen. Karl rannte mit den Kindern die Treppe hinunter, er wollte nur weg von der Arena. Noch nie hatte er so etwas erlebt.
Sicher hatte es immer Schlägereien gegeben, auch er hatte sich einmal eine gefangen, auch bei einem Bochumspiel. Nie war das aber so brutal abgegangen, wie an diesem Samstag. Unten angekommen schaute er nach den Kindern. Tobias war da, aber wo war Patrick?
Er wartete zwei Minuten, dann sagte er Tobias, dass er unbedingt da, wo Karl ihn zurücklassen würde, warten sollte. Er würde noch einmal hochgehen, um nach Patrick zu sehen. Gesagt, getan, Karl lief noch einmal zurück.
Er war dann ganz allein im Treppenhaus. Ein ganz infernalischer Krach dröhnte durch die Betonröhre, als er um den ersten Treppenabsatz lief. Dort sah er plötzlich Patricks Sachen auf dem Boden verstreut liegen. Ein paar Polizisten rannten an ihm vorbei, Karl wusste nicht, was er davon halten sollte. Nicht nur Patricks Anorak lag auf dem Boden, sondern alles, was er am Körper getragen hatte, einschließlich seiner Schuhe.
Karl fehlten die Worte.
Er nahm einen penetranten Schwefelgeruch wahr, der mit Sicherheit nicht von den Rauchbomben aus dem Stadion kam. Über den Boden kullerten weiße Röllchen wie aus Styropor, nur noch leichter.
Als er den nächsten Polizisten darauf aufmerksam machte, schaute der ihn nur verständnislos an und wies nach unten zur Einsatzleitung.
Karl schnappte sich Tobias und ging zum Einsatzleiter, um ihm seine Entdeckung zu melden.
Der sah sich die Fundstücke am Ende der ersten Treppe an und bemerkte dann auch den Schwefelgeruch. Ihm schwante nichts Gutes, und er rief die Kriminalpolizei zu Hilfe. Die rückte dann auch mit zwei Beamten an und sicherte die Fundstelle. Über Funk forderten die Beamten die KTU an.
Die KTU steckte die Kleidung in einen Sack und wunderte sich, dass sie nach Erbrochenem stank. Dann nahmen die Untersuchungsbeamten eines dieser weißen Röllchen auf und steckten dieses in eine kleine Tüte. Anschließend zogen sie wieder ab zu ihrem Labor.
Karl Becker hatte noch nicht realisiert, dass Patrick für immer verschwunden war. Tobias schaute vollkommen verständnislos. Wo war Patrick? Karl rief Patricks Eltern über sein Handy an. Sofort kam Herr Förster und wollte wissen, was geschehen wäre.
Die Kriminalbeamten konnten ihm nichts Genaues sagen und verwiesen auf die KTU, die mit ihrer Untersuchung aber nicht vor dem nächsten Tage fertig wäre.
Herr Förster sackte in sich zusammen, Tränen traten in seine Augen. Karl nahm sich seiner an und stützte ihn. Tobias hielt ihn an der Hand. Beide brachten sie Patricks Vater nach Hause, wo sie Frau Förster antrafen und ihr alles erzählten, was sie wussten.
Frau Förster fing sofort zu weinen an, ihr Mann nahm sie in den Arm. Karl und Tobias blieben noch bei ihnen. Karl rief seine Frau an und erzählte auch ihr alles. Warum er nicht besser aufgepasst hätte, wollte sie von ihm wissen. Karl plagten genau deshalb sehr starke Gewissensbisse. Die Försters hatten ihm ihren Jungen anvertraut, der war dann verschwunden. Karl glaubte, dass ihn Schuld traf. Dieses Gefühl konnte ihm auch niemand nehmen.
Am nächsten Tag brachte die Kriminalpolizei die Untersuchungsergebnisse: die Kleidung wies Spuren von Erbrochenem auf, das aber einen unglaublich hohen Säuregehalt zeigte.
Die weißen Röllchen waren Kot, aber kein menschlicher Kot.
Man stand vor reinem Rätsel.
Patrick wurde nie wieder gesehen.