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4. Kapitel

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Zeit für Erinnerung

Emilie hatte lange und gut geschlafen in den darauffolgenden Nächten. Der Flug von Pescara nach Frankfurt hatte sie mehr mitgenommen, als der Hinflug nach Italien. Ja, auf dem Hinflug, da war noch alles neu für Emilie und schon beim Einchecken in der Halle des Flughafens hatte ihr Herz Purzelbäume geschlagen.

Diese Menschenmengen! Sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal so viele Menschen beisammen gesehen zu haben. Und die Geschäftigkeit, mit der die Leute aneinander vorbeiliefen und immer nur ihr Ziel vor Augen hatten! Keiner kannte den anderen, alle waren sich fremd, jeder hatte sein eigenes Ziel, seine eigenen Probleme.

Dann hatte Emilie vor der riesigen Anzeigetafel gestanden und der sich in rasender Geschwindigkeit verändernden Buchstabenfolge zugesehen. Und als sie dann mit Juli und Rafael den Terminal verlassen hatte und in der Wartehalle stand und die Nase der Boeing in Wartestellung fast bis zu ihr an die Glasscheibe reichte, da stieg ihre Aufregung ins Grenzenlose und Zweifel überkamen sie, ob sie denn überhaupt in diesen Vogel steigen sollte.

Doch als sie sich dann zwei Stunden später auf dem Sitz Nr. 84, es war ein Fensterplatz, niedergelassen hatte, schwanden ihre Bedenken langsam und wichen einer Erwartungshaltung. Wie würde es sein da oben, über den Wolken? Alle schwärmten so davon, von der Freiheit, dem herrlichen Ausblick und der Weite, die sich vor dem Betrachter ergoss. Von ihrem Nebenmann nahm sie kaum Notiz. Es hatte sich leider nicht so ergeben, dass sie in der unmittelbaren Nähe von Juli und Rafael einen Platz bekam. Emilie saß zwei Reihen weiter nach vorne auf der rechten Seite, Juli und ihr Mann dagegen schräg hinter ihr auf der linken Seite. Wenn sich Emilie aber umdrehte, konnte sie die beiden gut sehen und sich auch per Zeichen mit ihnen verständigen.

Als nach dem Start, bei dem sich Emilie mit beiden Händen am Sitz festhielt und unwillkürlich versuchte, gegen den unendlich starken Schub der Triebwerke anzukämpfen, mit einem Mal das Vibrieren des Flugkörpers in einen ruhigen, fast befreienden Zustand wechselte, da wagte Emilie einen Blick nach draußen und erfreute sich daran, wie sich das Land und die Häuser von Frankfurt kontinuierlich verkleinerten, und als die Boeing ihre Reisehöhe erreicht hatte, fühlte sich Emilie froh und zufrieden darüber, dass sie den Schritt gewagt hatte.

„Wie wird es wohl sein, in dem fernen Italien, in der Stadt Pescara? Dort, wo die Eltern von Rafael leben. Dort, wo die meiste Zeit die Sonne scheinen soll.“

Emilie war gespannt, was auf sie zukommen würde. Sie genoss den Flug im strahlenden Sonnenschein. Nie hätte sie geglaubt, dass ihr der von ihr anfangs so verschmähte Flug derart viel Freude bereiten würde. Emilie drehte sich um und sah zu Juli und Rafael hinüber. Juli lächelte und winkte kurz mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht. Als Emilie ihr signalisierte, dass alles in Ordnung sei, lehnte sich Juli zufrieden an die Schulter von Rafael, der sich gelassen die Schönheiten der Erde von oben her betrachtete.

***

Seit ihr Mann Otto von ihr gegangen war, wiederholte sich jeden Morgen der gleiche Rhythmus in der Wohnung von Emilie. Vor dem Frühstück blätterte sie in der Frankfurter Rundschau, die jeden Morgen pünktlich in ihrem Briefkasten lag. Anschließend freute sie sich schon auf Emma und Fabian, die, bevor sie von ihrer Mutter zur Bushaltestelle gebracht wurden, noch kurz bei ihr vorbeisahen.

Emilie schaute auf die Uhr. Kurz nach halb acht. Sie lächelte. Gleich würde es so weit sein. Sie hatte kaum den Gedanken zu Ende gebracht, als sie Gepolter im Treppenhaus vernahm. Die schnellen, teils gesprungenen Schritte der Kinder auf der Treppe machten Emilie jeden Morgen Angst. Angst, dass einer ihrer Lieblinge stürzen und sich verletzen könnte.

„Omi, Omi!“

Da standen sie nun, die beiden Urenkel, mit erhitzten Köpfen, ihre Schulranzen auf dem Rücken und wussten genau, was nun kam. Denn jeden Morgen gab Oma Emilie den beiden eine Kleinigkeit mit auf den Weg.

„Bitte, keine Süßigkeiten“, bat Caro immer wieder, um irgendwann einmal mit Kinderentzug am frühen Morgen zu drohen. Seither hatte Emilie immer leichte und mit Caro abgesprochene Milchschnitten im Haus und die Kinder nahmen diese ebenso gerne an.

„Tschüss, Omi, wir müssen, sonst kommen wir zu spät“, rief Fabian noch im Weglaufen und von Emma sah Emilie nur noch ein winkendes Händchen und den Schulranzen. Der hin und her schlingerte.

„Diese Kinder!“, lachte sie verhalten. „Ich werde mich doch noch etwas hinlegen“, nahm sie sich vor und streckte auch sogleich ihren schlanken Körper längs auf der Küchenbank aus, auf der immer eine warme Decke und mehrere Kissen lagen, für alle Fälle. In den Gedanken an Emma und Fabian schloss Emilie die Augen und langsam verschwanden die Gedanken an ihre beiden Urenkel und Emilie fühlte sich nach und nach in die Vergangenheit versetzt. Erinnerungen an längst verflossene, schwere, aber auch schöne Zeiten, tauchen vor ihr auf und mit einem glücklichen Lächeln um ihre Mundwinkel tauchte sie ein in die Vergangenheit, die sich ihr mehr und mehr öffnete.

Ein ganzes Leben Ewigkeit

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