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6. Kapitel
ОглавлениеGeborgenheit: 1945
Otto hatte sein Versprechen wahrgemacht und Emilie zu sich mit nach Hause genommen. Sein Zuhause war noch dürftiger als das, welches Emilie zurückgelassen hatte, aber es kam ihr vor wie ein Palast. Was aus ihrem halbzerstörten Haus nun werden würde, es war Emilie egal.
„Alles um mich herum besteht aus Trümmern, die Häuser, die Seelen der Menschen, die Herzen und das eigene Ego, dass so zahlreich zerbrochen worden war“, dachte Emilie bei sich. „Alles muss neu aufgebaut werden, Stein und Herz, Haus und Mensch. Es wird lange dauern. Ich will nicht warten, bis das Elend mich zerfressen hat. Ich will leben, jetzt und hier.“
Emilie dachte an ihre Eltern, an Marie, die man ihr genommen hatte, in einem Hagel von Bomben. Sie hatte zahlreiche Tränen verloren in den vergangenen Monaten. Nun hatte sie die Wahl: Sie konnte in ihrer Trauer ertrinken oder den Blick nach vorne richten, in die Zukunft. In ihre Zukunft. Ihre Eltern hätten es so gewollt. Und Marie sowieso. Den ersten Schritt hatte sie nun gemacht. Emilie hatte sich entschlossen, nicht alleine zu bleiben, sie wollte leben, weiterleben, glücklich leben.
Dass ihr der Himmel Otto gesandt hatte, kam ihr vor wie ein Wunder. Nicht, dass sie nun einen Menschen hatte, an den sie sich klammern konnte, der für sie sorgte. Der sich vielleicht mehr aus Mitleid, als aus Zuneigung um sie kümmerte. Nein, Emilie wusste: „Otto liebt mich, das spüre ich in meinem Innersten. Und ich liebe Otto. Gemeinsam werden wir es schaffen, aus diesen Trümmern eine Zukunft für uns und unsere Kinder zu bauen.“
„Mehr kann ich dir leider nicht bieten.“
Otto schloss die Wohnungstür im ersten Stock des Hauses auf, das in einer Parallelstraße nur einen Steinwurf von Emilies Wohnung stand.
„Aber du wirst sehen, irgendwann wird es ein Palast sein.“
Emilie schmiegte sich an Otto. „Das ist es schon jetzt für mich.“
„Wir werden nachher gemeinsam zu dir gehen und deine Sachen holen“, sagte Otto, während er den Wasserkessel füllte und auf den Herd stellte.
„Kein Feuer“, stellte er fest, nahm etwas Papier und einige Holzspäne aus einem Korb vor dem Herd, der auch noch ein paar Holzscheite barg und in kürzester Zeit hatte er das Feuer entfacht.
Emilie hatte die Arme vor dem Körper verschränkt und zitterte.
„Gleich wird es warm“, lächelte Otto aus seiner knienden Stellung hinauf zu Emilie und legte ein paar Holzscheite nach. Zum Brennen gab es Gott sei Dank genug Holz. Das lag nach den Bombenangriffen jetzt überall herum, man musste es nur einsammeln. Aber man musste sich beeilen, denn der Winter forderte sein Recht und so gruben und sägten in jeder Straße die Menschen das so wichtige Brennholz aus den Trümmern der eingefallenen Häuser.
Langsam breitete sich die Wärme wohlig in der kleinen Stube aus und nun, als Emilie den knisternden Flammen durch die Ritzen der Herdringe zusah, hob sie ihre Augen und blickte sich in ihrem neuen Zuhause um, das sie nun erstmals bewusst wahrnahm.
Es war eine karge Bude, vielleicht gerade mal drei auf vier Meter groß. In der Mitte des Raumes stand ein Holztisch, nicht einmal bedeckt mit einem Stück Tuch, aber dennoch war das raue Holz sauber abgewaschen. Drei Stühle, von denen man annehmen musste, dass sie bei der geringsten Belastung die Beine von sich strecken würden, standen unter der Tischplatte und gaben nur die Lehnen zur Sicht frei. Ein vierter Stuhl fehlte, wie Emilie gleich feststellte. „Es ist eher einer zu viel“, ertappte sie sich bei dieser lapidaren Feststellung und ließ ihren Blick weiter schweifen.
Die Wand zur Straße hin besaß zwei Fenster. Da der Raum den Platz nicht hergab, waren diese nicht sehr groß geraten und besaßen dennoch beide ein Fensterkreuz, das einfach nur dazu diente, die Reparaturpreise der Glasscheiben in Grenzen zu halten, für den Fall, dass sie zerbrachen. Zwischen beiden Fenstern stand eine Vase, ähnlich einer Amphore aus rotem Ton, die offensichtlich lange keine Blumen gesehen hatte.
Ein zweiteiliger, zartblauer Küchenschrank mit vielen kleinen Schubladen und Türen rundete das Bild des Raumes ab. Eine Tür an der leeren linken Raumseite, zwischen übertünchten alten Tapeten, führte in einen weiteren Raum, den Emilie nicht einsehen konnte.
Emilie war so in ihrer Betrachtung gefangen, das sie nicht bemerkte, dass Otto sich erhoben hatte und nun neben ihr stand.
„Klein, aber mein“, sagte er und folgte Emilies Blick.
„Da hinten ist mein Schlafzimmer.“
Er wählte bewusst das Wort „mein“, um Emilie nicht in Verlegenheit zu bringen. „Du wirst heute Nacht darin schlafen. Morgen finden wir eine bessere Lösung.“
„Und du, was ist mit dir?“
Emilie sah Otto fragend an.
„Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon zurecht. Jetzt wird es langsam warm hier drin. Komm, setz dich zu mir!“
Otto ließ sich im Schneidersitz auf den Boden gleiten und Emilie setzte sich neben ihn. Otto legte seinen rechten Arm um Emilie und streichelte ihre rechte Gesichtshälfte.
„Das habe ich mir immer gewünscht. Mit dem Menschen, den ich liebe, ganz alleine zu sein, die Welt vergessend, das ganze Elend da draußen, einfach so dazusitzen, stundenlang, tagelang, für immer.“
Er drehte Emilies Kopf ganz sanft zu sich herüber und beugte sich über sie. Dann küsste er sie und Emilie erwiderte den Kuss mit aller Inbrunst, die in ihr steckte. Die Überlegungen, wo Otto heute Nacht schlafen würde, waren dabei bedeutungslos geworden.
***
Emilie seufzte und langsam versuchte sie, die schrecklichen Abläufe der Vergangenheit aus ihrer Erinnerung zu verbannen. Doch die Bilder tauchten immer wieder vor ihren Augen auf. Und in ihren Ohren hallten noch die Stimmen der Radioreporter, die diesen Tag Revue passieren ließen.
Über 400 Menschen waren an jenem Tage bei diesem Angriff ums Leben gekommen. Wichtige Industrieanlagen hatte es getroffen, auch Infrastruktureinrichtungen wie die Gleisfelder der Hauptbahnhöfe, das Krankenhaus Sachsenhausen und das Gaswerk West.
Die letzten Monate des Jahres waren für die Zivilbevölkerung verheerend gewesen. Emilie erinnerte sich mit einem grauenvollen Schaudern.
Am 25. September bombardierten amerikanische Flugzeuge Frankfurt in den Vormittagsstunden, wobei die meisten Schäden in der Innenstadt und in Sachsenhausen entstanden. Der Angriff forderte nahezu 500 Menschenleben. Auch die Industrie war schwer getroffen worden.
Die Firmen Degussa, Voigt & Haeffner, Wiedmann, Mayfahrt & Co. sowie der Osthafen und das Krankenhaus in der Schifferstraße trugen schwere Beschädigungen davon.
Nach weiteren Angriffen am 11. und 29. Dezember 1944 hatten amerikanische Flugzeuge die Stadt am 8. Januar nochmals ins Visier genommen. Dabei starben 132 Menschen bei Treffern auf Bahnanlagen und Wohngebieten in Höchst und Nied.
Am 17. Februar warfen 500 Flugzeuge nahezu ungehindert ihre Last auf Bahngelände und Mainbrücken sowie auf die Industrieanlagen in Sachsenhausen. 138 Tote waren zu beklagen.
Es gab keine Kohlen, in vielen Stadtteilen fehlten Gas, Strom und Wasser, selbst Suppenknochen, Salz und Streichhölzer wurden rar. Tiefflieger jagten Menschen auf den Straßen und die Bombardements hörten nicht auf. Ziele waren die Gleisanlagen, das Gallusviertel, die Gegend zwischen Allerheiligenstraße und Ostbahnhof sowie die Heddernheimer Kupferwerke.
Am 17. Februar und am 8. März warfen amerikanische Bomber in Tagesangriffen mit über 300 Flugzeugen nochmals 1000 Spreng- und 100000 Brandbomben auf die ohnehin verwüstete Stadt.
Emilie verscheuchte endgültig die tristen Gedanken, öffnete das Küchenfenster und sah hinaus auf die Straße. Der Himmel war etwas zugelaufen, die grauen Wolken kündigten Regen an, eine willkommene Abkühlung von der Hitze des späten und schwülen Augustmonats.
Emilie ließ sich den warmen Wind um das Gesicht spülen und atmete tief ein. Sie beobachtete die Familie vor deren Haus auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Zwei Kinder tollten auf dem Rasen und die Eltern saßen auf ihren Gartenstühlen vor einem grellweißen Tisch und tranken Kaffee.
Wehmütig sah Emilie zu, wie sich ein alter Mann, offensichtlich der Vater oder Schwiegervater der beiden Erwachsenen, ebenfalls zu den beiden gesellte und ein Gespräch begann.
Auf einmal schienen sie Emilie am Fenster entdeckt zu haben und die Frau winkte ihr kurz zu. Dass Emilie zurückwinkte, geschah mehr oder weniger automatisch, denn, obwohl sie Nachbarn waren, wusste Emilie nicht einmal den Namen der Familie dort drüben. Dieses bedauernswerte Symptom des Stadtlebens machte sich über die Innenstadtbereiche auch in den Randbezirken bemerkbar.