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5. Kapitel
ОглавлениеOtto: 1945
Mit einem zaghaften Ruck riss Emilie mit den Spitzen von Daumen und Zeigefinger das Kalenderblatt mit dem Datum von gestern ab. Montag, der 26. März 1945, stand in gotischen Lettern darauf geschrieben. Emilie seufzte und drehte das Kalenderblatt um, denn auf allen Rückseiten des Abrisskalenders war ein Spruch zu lesen und Emilie vergaß nie, sich an einem neuen Morgen den Inhalt des kleinen Verses zu Gemüte zu führen.
Die Sprüche stammten aus den Federn von teils bekannten, ja, auch unbekannten Literaten und alle hatten nur eines zum Ziel: Sie wollten Kraft geben für den neuen Tag. Hoffnung und Ablenkung in einer Zeit, wo vor lauter Bombenhagel, sterbenden Soldaten, schreienden verletzten Kindern und Müttern einfach kein Platz mehr war für die schönen Dinge des Lebens, wo nur noch Angst und Panik herrschten und wo man nie wusste, was die kommende Stunde bringen würde.
Emilie hatte den Zettel umgedreht, doch ihr Blick war starr auf das Blättchen Papier gerichtet, ohne dass ihre Augen den Buchstaben folgten, die Wörter zum Leben erweckten, zu einem sinnvollen Gefüge formten.
Emilies Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, die jedoch, ohne ihren kleinen See zu verlassen, in den aus Kummer und Gram eingefallenen Augenhöhlen verharrten. Emilie griff in den linken Ärmel ihrer Bluse und zupfte ein Taschentuch hervor, eines mit Spitzen, das ihre Mutter noch in Handarbeit gehäkelt und ihr, Emilie, zusammen mit einem Stück wohlriechender Seife zu ihrem 14. Geburtstag geschenkt hatte. Das war vor fast genau drei Jahren gewesen.
Eine Träne hatte nun den See in den Augen Emilies zum Überlaufen gebracht und rann langsam über ihre linke Wange. Es ist noch kein halbes Jahr her, da ihre Eltern und ihre Schwester in einem Bombenhagel in der Bockenheimer Landstraße ums Leben kamen. Emilie zerriss es das Herz, als sie daran dachte.
Ihre Lieben, die niemandem etwas zuleide tun konnten, hatte es getroffen. Sie hatten sich aufgemacht, um bei Bekannten selbst gefertigte Handarbeiten gegen etwas Essbares einzutauschen. Als der Bombenalarm kam, war es für sie nicht mehr möglich, den Bunker aufzusuchen, deshalb suchten sie im Keller des Hauses Schutz, der dem Angriff jedoch nicht standhielt.
Auch Marie, ihre Schwester, die eigentlich Katharina-Maria hieß, aber diesen Namen im Kreise ihrer Lieben so gut wie nie zu hören bekam, schien es getroffen zu haben. Seit diesem Bombenangriff hatte sie nichts mehr von ihr gehört. Marie war so zerbrechlich gewesen und sie war nicht nur die Schwester, sie war die beste Freundin von Emilie, ihre engste Verbündete, der sie ihren Seelenkummer, besonders, wenn es um die Liebe ging, anvertrauen konnte.
Auch über Otto hatte Emilie mit Marie gesprochen. Otto war ein junger Mann aus der weiteren Nachbarschaft, den sie vorher in ihrem ganzen Leben nur wenige Male gesehen hatte. Er war Emilie über den Weg gelaufen, als sie bei einem Fliegerangriff gemeinsam dem Glauburgbunker am Glauburgplatz zustrebten.
„Komm, Kleine, gib mir deine Hand“, hatte Otto gerufen, als er merkte, dass sie langsamer wurde als er. Emilie hatte fast keine Luft mehr bekommen, die Lungen schienen ihr aus dem Hals zu springen. „Kleine“, hatte er zu ihr gesagt. Dabei war er gerade mal fünf Jahre älter als Emilie.
Am Eingang zum Bunker ballten sich die Menschen zu einem Knäuel und es kam zu einem Stau, denn jeder wollte der erste sein in dem sicheren Betonklotz. Otto hatte Emilie an sich gezogen und ihr zugeflüstert:
„Bleib dicht neben mir! Dir passiert nichts!“
Als Otto dann eine Lücke im Strom der drängenden Meute erblickte, zog er Emilie mit sich und auf einmal standen beide im Inneren des muffig riechenden Gemäuers.
Ein Sitzplatz war nicht mehr zu ergattern gewesen und so setzten sie sich auf den kalten Betonboden. Otto hatte seine Jacke ausgezogen und sie auf den kalten Boden gelegt und Emilie aufgefordert, darauf Platz zu nehmen.
„Das war der Moment, wo ich mich zu Otto hingezogen fühlte“, dachte Emilie bei sich und wischte ihre Träne fort. Sie hielt immer noch den kleinen Zettel des Abrisskalenders in der Hand und las den Spruch, der darauf notiert war.
Auch wenn der Abend noch so trübe
der Mond verhangen, blass und müde,
so ist doch nie die Hoffnung fern
auf einen neuen hellen Stern.
„Hoffnung, Ja, das ist es, was die Menschen heute brauchen“, sagt Emilie zu sich selbst. „Auch ich brauche diese Hoffnung. Ich habe diese Hoffnung!“, sagte sie energisch und irgendwie trotzig zu sich selbst. „Es wird alles gut werden! Auch diese Zeiten werden besser werden!“
Doch es würde ein schwerer Weg werden, denn Emilie war alleine, alle ihre Lieben waren tot, Verwandte hatte sie keine, zumindest nicht in Deutschland. Einen Onkel gab es noch, in Amerika, doch der konnte ihr nicht helfen. Hier war Emilie auf sich alleine gestellt und sie fühlte sich einsam … so unendlich einsam.
„Otto.“
Emilie hauchte diesen Namen mit einem Seufzer und drückte den Zettel mit dem Vers voller Hoffnung an ihre Brust. Sie hatte Otto nur einmal nach diesem letzten Bombenangriff wiedergesehen. Das war in einer kleinen Seitengasse, einige hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt, da wo sich die Schwarzhändler trafen und ihre Geschäfte mit der Not der Armen machten. Dort hatte sie Otto plötzlich erblickt, als er ein kleines Päckchen Tabak von einer der Gestalten gegen ein silbernes Tablett, dessen realer Wert für ihn offensichtlich nicht mehr zählte, eintauschte.
Otto hatte ihr gleich gefallen. Sein schlanker Körper, der in dieser Zeit auch keine Möglichkeit hatte, anders als schlank zu sein, seine schwarzen, leicht gewellten Haare, die dunklen Augen mit den darüber liegenden buschigen Augenbrauen und das sympathische Lächeln, das er auch in diesen schweren Zeiten nicht verloren zu haben schien, hatten bewirkt, dass Emilie sich sofort zu ihm hingezogen fühlte.
Als Otto sie erblickt hatte, war er auf sie zugekommen und ohne etwas zu sagen, hatten sie sich ein paar Minuten gegenübergestanden, bis Otto sich ein Herz gefasst und Emilie um ein Wiedersehen gebeten hatte.
Emilie sah auf die Armbanduhr an ihrem Handgelenk, eine kleine, einfache, runde silberfarbene Uhr mit einem schwarzen Lederarmband, ein Geschenk ihrer Eltern zur Kommunion. Sie würde diese Uhr in Ehren tragen, ihr Leben lang, das hatte sie sich vorgenommen.
Es war das einzige Andenken an Vater und Mutter. Emilie tastete mit der Hand unter den Kragen ihrer Bluse und förderte ein kleines goldenes Medaillon hervor. Es hatte die Form eines kleinen Herzens und war ein Geschenk von Marie. Es war alles, was ihr von ihrer kleinen Schwester geblieben war. Emilie schloss die Augen und ihre Hände verkrampften sich um ihr Kleinod.
„Marie! Schwesterchen! Du fehlst mir so sehr!“
Es war genau fünfzehn Uhr. Emilie zuckte zusammen. „Otto! Otto wartet! Ich muss los!“.
Sie schlüpfte hastig in ihre graue, dicke, wärmende Winterjacke aus kräftigem Tuchstoff, schloss die Wohnungstür im ersten Geschoss ab und lief die Stiege hinunter in den dunklen Flur. Nur das Licht, das durch die blinde Glasscheibe der Haustür fiel, zeigte ihr den Weg in die richtige Richtung.
Als Emilie auf dem Trottoir stand und sich umsah, stieg panische Angst in ihr hoch. Überall sah sie Soldaten in braun-grünen Uniformen.
„Amerikaner!“, schoss es ihr durch den Kopf. „Jetzt haben wir den Krieg hautnah in unserer Straße“, dachte Emilie und begann zu zittern.
Es waren tatsächlich amerikanische Soldaten, die allerdings keinerlei Anstalten machten, sich auf einen Kampf vorzubereiten. Auch dann nicht, als sich deutsche Truppen an der Bockenheimer Landstraße zusammenrotteten.
Irgendetwas lag in der Luft, das spürte Emilie. Als sie näher hinsah, verstand sie gar nichts mehr. Leute aus der Nachbarschaft, drei Frauen und ein Mann verteilten Getränke an die Amerikaner. Es waren heiße Getränke, das konnte Emilie von hier aus sehen, denn Dampf stieg von den Tassen, welche die Männer mit beiden Händen umfasst hielten, in den Mittagshimmel.
„Ich glaube, der Krieg ist so gut wie vorbei“, hörte Emilie plötzlich eine Stimme neben sich. Ein Anflug von Scheu und Freude verbreitete sich sofort in ihrem Gesicht, denn es war Otto, der lautlos in ihre Nähe getreten war. Emilie war so mit ihrer Beobachtung beschäftigt, dass sie ihn nicht hatte kommen hören.
„Der Krieg ist vorbei“, wiederholte Otto und rückte seine flache graue Schirmmütze zurecht. „Der beschissene Wahnsinn hat endlich ein Ende. Ich spüre es.“
Dass es nur noch wenige Tage dauern würde, hatte Otto wahrlich nicht zu denken gewagt. Doch schon am 29. März 1945 zog in den Morgenstunden amerikanische Infanterie, von Ginnheim kommend, durch die Kurhessenstraße. Fast zur gleichen Zeit fuhren vereinzelt amerikanische Panzer über die Eschersheimer Landstraße nach Norden.
Die Zivilisten, die sich herauswagten, weil es ihnen mit ihren Vorahnungen ebenso ging wie Otto, wurden von den Amerikanern kaum beachtet und bereits gegen 16 Uhr verkündete der amerikanische Sender die Einnahme Frankfurts.
Eine Stunde später konstituierte sich die Militärregierung unter Oberst Criswell. Der verantwortliche Offizier für die Stadtwerke war Major Reynolds. Wilhelm Hollbach, ein Chefredakteur im Haus der Frankfurter Zeitung, übernahm die schwere und undankbare Aufgabe des Bürgermeisteramtes. Damit war der Krieg für Frankfurt beendet. Was blieb, war eine verheerende Statistik. 4822 Frankfurter starben im Bombenkrieg, über 22000 erlitten Verletzungen, 12701 Bürger fielen als Soldaten.
Die geschätzte Zahl der Einwohner zur Zeit der Einnahme schwankte zwischen 230.000 und 250.000, die Hälfte davon war obdachlos. Von etwa 177.000 Wohnungen waren 90.000 zerstört. 12,5 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt und zehn zerstörte Brücken hinterließ das vergangene Regime als Konkursmasse.
Emilie sah zu Otto hoch, dem auf einmal bewusstwurde, welche Ausdrucksweise er in Emilies Nähe benutzt hatte. Er wurde verlegen und rieb sich die Nase. „Ich meine natürlich, es wird Zeit, dass wieder ein ganz normales Leben beginnt.“ Bei diesen Worten betrachtete Otto die zerbombten und eingefallenen Häuser in der Bockenheimer Straße.
„Das da, das kann man alles wieder aufbauen“, sagte er. „Aber die Risse in den Herzen der Menschen, es wird Jahre brauchen, bis sie verschwunden sind.“
Otto sah auf Emilie herab, die über einen Kopf kleiner war als er, und als er sah, dass ihr Tränen in die Augen gestiegen waren, legte er seine Hände um ihre Schultern und zog sie, ohne ein weiteres Wort, an sich.
Auch er musste mit den Tränen kämpfen, als Emilie ihren Gefühlen nun freien Lauf ließ und ihr Körper sich schüttelte, begleitet von leisem Schluchzen. Otto ließ sie gewähren. Dabei schaute er noch einmal die Straße entlang über die zerstörten Häuser. Dann wanderte sein Blick zurück zu dem Haus, in dem seine Emilie lebte. Er sah nach oben, zur ersten Etage, dorthin, wo Emilie ihre Wohnung hatte.
„Ich nehme dich mit zu mir“, flüsterte er der noch immer schluchzenden Emilie zu. „Wir werden den Rest dieser verdammten Zeit zusammen durchstehen. In dieser Zeit darf niemand mehr alleine sein. „Bitte, Emilie, komm mit zu mir!“
Das Schluchzen wurde weniger, Emilies Körper ruhiger. Dann sah sie zu ihm hinauf. Otto nahm ihr Gesicht in beide Hände und wischte mit den Daumen die Tränen von ihren Wangen.
„Ich wollte es dir schon lange sagen“, hub Otto an und er glaubte, sein Herz würde jeden Moment zerspringen. Dann nahm er all seinen Mut zusammen. „Ich liebe dich, Emilie! Ich brauche dich. Lass` mich nicht alleine!“
Den letzten Satz hatte er noch schnell angefügt. Er wollte nicht, dass Emilie glaubte, er würde aus Mitleid handeln. Er wollte derjenige sein, der aus der Einsamkeit befreit würde.
Emilie sah ihn noch immer an. Wie hatte sie auf diese Worte gehofft, ja gewartet in den vergangenen Wochen und Tagen. Ja, sie wollte, und wie! Sie wollte mit ihm gehen, bei ihm bleiben. Nie mehr alleine in der dunklen und ihr inzwischen fremden Wohnung dort oben. Ihr Kopf, den Otto immer noch mit beiden Händen hielt, nickte, fast unmerklich, doch Otto spürte es in seinen Händen.
„Sie will mit mir kommen!“, schrie es aus seinem Inneren und als er sich zu Emilie hinunter beugte, näherten sich auch ihre Lippen den seinen und fanden sich, alles um sie herum vergessend, in einem Kuss endloser Glückseligkeit.