Читать книгу Ein ganzes Leben Ewigkeit - Hans Muth - Страница 8
2. Kapitel
ОглавлениеEmilie (Gegenwart)
Unter ihnen präsentierte sich großflächig die Rhein-Main-Metropole Frankfurt, eingetaucht in ein bläulich schimmerndes Licht, hervorgerufen durch die intensive blau bis weiß abgestufte Farbgebung des wolkenfreien Himmels. Die Augustsonne blendete die Insassen durch die bullaugenähnlichen Fenster der Boeing 737 und an der linken Tragfläche, deren Ende den glühenden Feuerball zu berühren schien, spaltete sich das Sonnenlicht und bildete einen goldenen Schleier. Wäre da nicht das gleichmäßige Dröhnen der Turbinen in den Ohren der Passagiere gewesen, ein Freiheitsgefühl, wie es Ikarus erlebt haben musste, hätte zweifelsohne von einigen der Fluggäste Besitz ergriffen.
Am Horizont verlief sich die Dichte der Stadt, deren Hochhäuser im gleißenden Sonnenlicht die Hitze aufzusaugen schienen, und man konnte bereits unschwer die Landebahn des Flughafens ausmachen, die sich jedoch gerade in diesem Moment nach Süden wegzudrehen schien, denn der Pilot lenkte den Flugkörper zur Seite, offensichtlich in eine Warteschleife.
Für ein paar Momente bot sich dem Betrachter aus der Schräglage der Boeing heraus eine Panoramaansicht der Stadt und silbern glänzend präsentierte sich dazu der Main, mit seinen schlangenförmigen Windungen die Stadt teilend.
Emilie Bruckner hatte ihr Schläfchen beendet und rieb sich die Augen. Dann fuhr sie sich mit der Hand durch ihr weißes gewelltes Haar, um gleich wieder zurückzuzucken. Sie öffnete ihre kleine Handtasche, die sie neben sich auf dem Sitz abgestellt hatte und entnahm ihr einen kleinen Frisierspiegel, einen solchen ohne Stiel, der sich gut in einer kleinen Seitenablage der Tasche unterbringen ließ und der immer dann zur Hand war, wenn sie ihn brauchte.
Emilie war eitel. Sie war schon immer eitel gewesen in ihrem Leben, eitel wie alle Frauen. Wenn sie ihre Wohnung verließ, führte sie immer ihre Handtasche mit sich. Sie machte da keine Ausnahme zu all den anderen Frauen und so war ihre Eitelkeit auch auf keinerlei Grenzen angewiesen.
Sie schaute in das kleine Viereck, das kaum größer war als eine Zigarettenschachtel, ordnete ihr Haar und betrachtete ihre Augenbrauen, ihre Wimpern.
Emilie musste einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein, das konnte man heute noch mit wenig Fantasie erahnen. Sie war nicht sehr groß, hatte aber noch immer eine schlanke Figur und ihre leicht hervorstehenden Backenknochen unter den braunen, listig anmutenden Augen, gaben ihr auch heute noch ein gewisses Etwas.
Emilie öffnete leicht den Mund und betrachtete im Spiegel ihre strahlend weißen Zähne, eine Prothese zwar, aber in einer Verarbeitung, die es ihr ermöglichte, frei zu reden und zu lachen. Und wenn sie letzteres tat, zeigten sich zwei tiefe Grübchen links und rechts in ihren Mundwinkeln, die in der Vergangenheit immer schon ein Anziehungspunkt für das männliche Geschlecht gewesen waren. Wären da nicht die Altersflecke auf der Haut der Hände zu sehen gewesen und die hervorstehenden Venen, man hätte ihr durchaus ein jüngeres Lebensalter abgenommen.
Zum ersten Mal in ihrem langen Leben, immerhin zählte sie schon neunzig Lenze, hatte sie einen solchen Riesenvogel bestiegen. Nicht einmal in all den vergangenen Jahren war das Bedürfnis dazu in ihr aufgestiegen. Stets hatte sie Bewunderung für alle, die den Mut hatten, in einen dieser stählernen Kolosse einzusteigen und durch die halbe Welt zu reisen. Doch sie selbst hatte da schon lieber die Fortbewegung auf der Erde vorgezogen.
„Emilie, du kannst dir nicht vorstellen, was du alles verpasst.“ Helma Brunner, eine ihrer besten Freundinnen und das schon seit vielen Jahren, hatte sie eines Tages ins Gebet genommen.
„Deine Kinder, deine Enkel, ja deine gesamte Familie, alle fliegen in der Welt umher und stell dir vor: Sie sind immer wieder zurückgekommen. Was hast du denn schon außer Frankfurt gesehen? Mach dir noch ein paar schöne Jahre, verreise in ferne Länder, jetzt, ehe es zu spät ist!“
Emilie hatte lange darüber nachgedacht. „Was habe ich zu verlieren?“, fragte sie sich. Andere kommen auch immer wieder zurück, genau wie Helma es mir immer vorhält. Ich werde es tun! Ich werde bei nächster Gelegenheit mit Juliane und Rafi nach Italien fliegen. Ich werde Rafis Eltern kennenlernen und sein Land mit der nicht enden wollenden Sonne, den süßen Früchten, die wir hier nur in den Supermärkten vorfinden.“
Emilie nannte ihren Schwiegersohn nur Rafi. Er war ein guter Junge, ein guter Ehemann und ein guter Vater. Er konnte nichts dafür, ebenso wenig wie Juliane, dass die Ehe ihrer Tochter Caroline in die Brüche ging. Es war halt der Falsche gewesen. Als Erwin sein wahres Wesen gezeigt hatte, war es bereits zu spät. Andere Frauen, Lügen und Ausreden, da hatte Caroline ihn einfach rausgeworfen. Nach der Scheidung hatte sie nach einem langen Kampf das Sorgerecht für die beiden Kinder bekommen.
Emma und Fabian! Emilie lächelte zufrieden bei dem Gedanken an ihre beiden Enkel. In einer halben Stunde würde sie die beiden in die Arme schließen. Sie hörte schon die Rufe aus der Ferne: „Omi, Omi!“
Fabian war mit 10 Jahren der „Große“. Emma war erst vier.
„Du musst immer auf deine Schwester aufpassen“, hatte Emilie ihrem Fabian ins Ohr geflüstert, wenn dieser seinen Vater vermisste und ihm die Tränen in die Augen stiegen. „Du bist jetzt der Mann im Haus! Dein Vater wird stolz auf dich sein!“
***
Ja, noch eine halbe Stunde. Dann wird dieses Flugzeug gelandet sein, zurück von einer Urlaubsreise durch die Luft in schwindelnder Höhe.
„Und ich war mittendrin!“ Emilie konnte es kaum glauben. Dass sie über sich hinausgewachsen war, dass sie einfach so, ohne irgendein Flugseminar, ohne einen Probeflug, einfach so bis nach Italien geflogen war, erfüllte sie mit Stolz.
„Es wird nicht der letzte Flug gewesen sein“, nahm sie sich vor.
Nun ja, eine Stubenhockerin war Emilie in ihrem Leben dennoch nicht gewesen. Früher, in ihrer Jugend, waren es Busreisen gewesen und gemeinsam mit einigen ihrer Freundinnen ging es in den Bergischen Wald, die Eifel, den Hunsrück. Die weiteste Reise, an die sich Emilie erinnern kann, ging an die Nordsee, nach Ostfriesland, genauer gesagt, nach Esens. Emilie lächelte in ihren Erinnerungen. Ja, die Nordsee, Dorthin hatte sie ihre erste Reise mit Otto gemacht, ihrem späteren Ehemann. Otto Bruckner. Emilie seufzte und ihre Augen wurden feucht.
In ihrer Erinnerung sah sie Otto ganz nah vor sich. Obwohl sein Haarschmuck sich mit den Jahren total verflüchtigt hatte, war ihm seine Ausstrahlung, die sie schon beim ersten Zusammentreffen mit ihm so geschätzt hatte, erhalten geblieben. Immer braun gebrannt, auch wenn da im Winter das Solarium nachhalf, bevorzugte Otto saloppe Kleidung. Emilie sah ihn vor sich in seiner hellbeigen Hose, dem dunkelbeigen Sakko und dem krawattenlosen Hemd darunter, das seine grauen Brusthaare nicht völlig verdeckte.
Vor elf Jahren bereits hatte ihr Otto sie verlassen. 76 Jahre war er alt geworden, Lymphknotenkrebs, die Metastasen hatten sich bei Erkennen der Krankheit schon zu weit im Körper ausgebreitet.
Später, als sie den Zenit des Lebens bereits weit überschritten hatte, ergab es sich, dass Emilie mit den gleichaltrigen Damen und Herren ihrer Nachbarschaft, und das nicht wenige Male, an so genannten Kaffeefahrten teilnahm. In Reisebussen ging es dann über Hunderte von Kilometern zu Verkaufsveranstaltungen, denen Emilie zwar beiwohnte, aber gekauft hatten eigentlich immer nur die anderen.
„Das ist alles qualitätslose Ware“, hatte sie den anderen immer zugeflüstert, aber niemand hatte auf sie gehört. Auf den Rückfahrten platzten die Busse aus allen Nähten, so viele Dinge, von Bettwäsche bis hin zu Massagesesseln, hatten die Besitzer gewechselt.
Emilie war eine der wenigen, die das System durchschaut hatten. „Uns alten Menschen das Geld aus der Tasche ziehen, uns weismachen, dass wir heute etwas erworben haben, das es nicht im freien Handel gibt, weil die Preise dort angeblich erheblich höher ausfielen, das macht man nicht mit mir!“, hatte Emilie immer gedacht, und wenn sie dann am Abend zurück in ihrer gewohnten Umgebung war, platzierte sie verschmitzt die kostenlos erhaltenen Werbegeschenke zwischen Ziertellern und Fotografien ihrer Lieben und freute sich schon auf die nächste gemütliche Reise, bei der sie auch dann ihren Vorsatz einhalten würde, nichts von diesem unsinnigen Kram zu kaufen.
Emilie sah auf ihre schmale goldene Armbanduhr, ein Geschenk ihres verstorbenen Mannes. Fast eine halbe Stunde hatte sie geschlafen. Ihre Gedanken waren nun wieder klar. Vor rund zwei Stunden hatten Rafael, Juliane und sie den Flieger in Pescara zum Rückflug in die Heimat bestiegen. Der Kurzurlaub in dem fremden Land hatte ihr gutgetan.
Ihre Tochter und Rafael hatten sie zu dieser Reise eingeladen und nach langem anfänglichem Zögern hatte sie zugesagt. So bot sich ihr endlich die Möglichkeit, die Eltern von Rafael einmal kennen zu lernen, denn Rafael war Italiener und hatte einige Jahre in Deutschland als Gastarbeiter gearbeitet.
So hatte er Juli, wie Rafael seine Frau zärtlich nannte, kennengelernt, die beiden verliebten sich ineinander und schon nach einem halben Jahr wurde Hochzeit gefeiert. Ihr selbst war dies eigentlich alles viel zu schnell gegangen.
„Wo die Liebe hinfällt“, dachte Emilie. Aber Rafael ist ein guter Mensch, sorgt für seine Familie, so wie es ein Italiener eben tut, mit seiner ganzen Kraft, denn einem Italiener, dass wusste Emilie, geht die Familie über alles.
Emilie schaute sich suchend um. Ein mildes Lächeln floss um ihre Mundwinkel. Schräg hinter ihr auf der anderen Gangseite saßen die beiden, Juli hatte ihren Kopf auf die Schulter ihres Mannes gebettet und schlief tief und fest. Die schulterlangen, mittelblonden Haare waren leicht zerzaust. Eine Strähne berührte den rechten Nasenflügel von Rafael, der diesen ab und zu mit einem leichten Luftzug wegblies. Rafael ließ es geschehen. Dann schaute er interessiert aus dem Fenster und schien sich an dem Spiel der Sonne an den silbern glänzenden Flugzeugteilen zu erfreuen.
Rafael Orlando war 58 Jahre alt, drei Jahre älter als Juli und ging in der Innenstadt von Frankfurt bei einem bekannten Versicherungsunternehmen als freier Versicherungsagent einer geregelten Arbeit nach, und das schon seit über 25 Jahren.
Die italienische Herkunft sah man Rafael gleich an. Sein schwarzes, nach hinten gebürstetes Haar, das, ebenso wie seine Gesichtsprägungen, den Südländer vermuten ließ, und seine vielsagenden Armbewegungen, die beim Sprechen seine Ausdrucksweise begleiteten, verrieten offenkundig seine Herkunft. Rafaels Oberlippenbart war akkurat zurechtgestutzt, die runde, mittelgroße randlose Brille gab Rafael etwas Seriöses und erinnerte Juli, die ihn gerade jetzt von der Seite betrachtete, irgendwie an ihren Vater Otto.
Juli reckte sich und schaute auf ihre Armbanduhr. Noch einige wenige Minuten, dann würde der Flieger zur Landung ansetzen. Sie entspannte sich und ließ sich wieder tiefer in den Sitz gleiten, wobei sie ihren Kopf wieder gegen die Schulter von Rafael lehnte.
Auch Emilie machte es sich noch einmal bequem. Von der Seite her betrachtete sie ihren Nebenmann, einen Mittvierziger, der geradeaus vor sich schaute und keinerlei Regung zeigte. Die Glatze des kräftigen Mannes glänzte in der einfallenden Sonne und Emilie wandte ihren Blick wieder nach draußen, dem blauen Himmel zu.
„Es ist schön hier“, dachte sie. „Ein Stückchen näher an Gott. Man muss sich langsam daran gewöhnen, ihm immer näher zu kommen.“
Emilie schaute noch einmal zurück zu Juli und Rafael. Juli war inzwischen aufgewacht und lächelte ihr zu.
„Sie wird mir immer ähnlicher“, stellte Emilie fest. „Ja, sie gleicht mir, in den Gesichtszügen, aber auch in ihrem Wesen. Sie hat die gleiche Freude am Leben wie ich und auch das Quäntchen Besorgnis, wie es in meinem Inneren ein Zuhause hat, ist ihr eigen.
„Ich bin so froh, dass sie sich durchgerungen hat, mit uns zu fliegen. Wer weiß, ob und wann sie dieses Erlebnis noch einmal haben wird“, freute sich Juli innerlich und dachte an die Tage in Pescara. Da war Emilie wie ausgewechselt gewesen, hatte sich in der Sonne geaalt, war mit Rafael in der Gegend umhergefahren und hatte sich an den Schönheiten des Landes erfreut. Sogar einige Brocken Italienisch hatte sie vor der Reise einstudiert und ein kleines Lexikon führte sie in Pescara immer mit sich.
Juli musste innerlich lachen, als sie daran dachte, wie die Herren im fortgeschrittenen Alter auf Emilie abgefahren waren, wie sie mit ihrem Wesen und ihrem Humor alle in ihren Bann zog. Dabei schien es gar nicht so wichtig, dass man sich mit Worten verstand. Der gewisse Funke war es, der übersprang und die Situation erhellte.
Juli sah, wie sich die Tragfläche, die sie von ihrem Sitz gut einsehen konnte, in ihre Einzelteile zerlegte. Wäre es heute das erste Mal, dass sie ein Flugzeug bestieg, sie würde in Hysterie verfallen. Doch inzwischen wusste sie, dass es die Landeklappen waren, die der Pilot für die Landung vorbereitend einstellen musste.
„Es ist gut, wieder zu Hause zu sein, dachte Juli und sah zu Rafael auf, der gelangweilt das Innere des Flugzeugs betrachtete. Für ihn war es nur ein Flug, nichts Besonderes, ein Flug eben, den er gelassen über sich ergehen ließ. Viel wichtiger für ihn war es, dass er wieder einmal seine Eltern in Pescara hatte besuchen können.
„Ich werde sie in Zukunft jedes Jahr sehen, wer weiß, wie lange das noch möglich sein wird.“
Er hatte auch schon mit Juli darüber gesprochen. Einmal im Jahr wollte er sie in Zukunft besuchen, vielleicht alleine, vielleicht mit Juli zusammen. Schließlich waren Paolo und Sophia weit über achtzig.
„Aber jetzt erst einmal nach Hause. Ein erfrischendes Bad, ein kühles Bier und die Beine hochgelegt. So werde ich den Tag ausklingen lassen“, nahm sich Rafael vor.
Ein Ruck ging durch die Maschine und Rafael nahm gelassen zur Kenntnis, dass man gerade wieder einmal glücklich in Frankfurt gelandet war.