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1.Kapitel

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Emilie: 1944

Am Abend des 12. September 1944 flog die Royal Air Force mit über 380 Maschinen ihren letzten großen Angriff auf Frankfurt. Eine 36-Zentner-Miene riss ein Loch in die Wand des Bunkers in der Bockenheimer Mühlgasse und tötete 172 Menschen. Aber auch die Häuser im Bereich um den Bunker herum wurden Opfer dieses Angriffs. Darunter war auch das Haus, in das sich Marie mit ihren Eltern geflüchtet hatte. Alle, die in diesem Keller Schutz gesucht hatten waren tot, davon war man fest überzeugt. Über 100 Menschen hatten sich dort aufgehalten, auch Marie und ihre Eltern, Emil und Martha Breiding.

Emilie war an diesem Abend bei ihrer Freundin Lisa gewesen und als die Bomben fielen, hatten sie mit den anderen Hausbewohnern den massiven Keller des Hauses aufgesucht.

Das Haus war von den Angriffen verschont geblieben, aber als sich Emilie später, als alles vorbei war, auf den Heimweg machte, kam sie an dem Haus vorbei, das es so arg getroffen hatte. Dass ihre Lieben darin umgekommen waren, das konnte sie nicht ahnen. Sie blieb stehen und sah den hektisch arbeitenden Helfern zu, die sich Stein für Stein Zugang zu eventuell Verschütteten machten.

„Mädchen, das hier ist nichts für dich!“ Einer der schweißtriefenden und vom Schutt völlig verdreckten Männer hatte Emilie erblickt, die stehen geblieben war und den Arbeiten zusah, und deutete mit der Hand an, dass sie weitergehen solle. „Du kannst hier nicht helfen und du willst auch nicht sehen, was wir hier eventuell finden.“

Der Mann, er war vielleicht 40 Jahre alt, nahm seine flache Lederkappe vom Kopf und schlug sie mehrfach gegen seine Beine. Es staubte so stark, dass er zu husten begann. Dann wandte er sich wieder seinen Kameraden zu und fuhr fort, Stein für Stein hinter sich auf eine noch freie Stelle zu werfen.

Emilie hatte wie gebannt auf den Trümmerhaufen gesehen. Wenn darunter noch Menschen lagen, sie hatten kaum eine Chance, das war Emilie klar. Sie musste gewaltsam den Blick von der Unglücksstelle lösen und lief, so schnell sie konnte, nach Hause.

Doch sie stand in einer leeren Wohnung und als sie nach einer Stunde immer noch alleine ruhelos in der Wohnung umhergeirrt war, lief sie wieder nach draußen. Irgendwo mussten die Eltern und Marie doch sein.

„Lieber Gott, lass sie bei Bekannten sein. Mach, dass sie vergessen haben, nach Hause zu kommen!“, begann Emilie zu beten.

Sie irrte durch die Straßen und immer wieder kam sie an Häusern vorbei, die nur noch aus Schutt bestanden und wo junge und alte Männer, aber auch Frauen mit dunklen Kopftüchern, Stein für Stein beiseite räumten, in der Hoffnung, doch noch Lebende vorzufinden und zu retten.

Schließlich kam Emilie wieder an dem Haus vorbei, an dem sie auf ihrem Heimweg stehen geblieben war und wo einer der Männer, die dort Räumungsarbeiten durchführten, sie fortgeschickt hatte. Die Männer und eine Frau, die sie vorhin nicht bemerkt hatte, hatten offensichtlich ihr Vorhaben aufgegeben. Als Emilie näherkam sah sie, dass die völlig ausgelaugten Personen mit gesenkten Köpfen in einem Halbkreis dastanden und sich kaum regten.

Dann sah Emilie, was dort geschehen war. Die Helfer hatten jemanden gefunden, hatten Menschen aus dem Schutt befreit. Doch an der Reaktion der dort Stehenden wusste Emilie sofort: Da hatte man nur noch Tote geborgen.

Emilie durchfuhr es wie ein Blitz.

„Papa, Mama, Marie!“ Emilie beschleunigte ihre Schritte, um gleich wieder langsamer zu werden. Nein, es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein! Langsam näherte sie sich der Gruppe, wie magisch angezogen, den Blick starr auf die leblosen Leiber gerichtet. Dann erkannte sie, wer dort lag und es zerriss ihr das Herz.

„Mama! Papa! Nein! Bitte nein! Lieber Gott, lass es nicht wahr sein!“

Emilie kniete neben den leblos auf dem Rücken liegenden Liebsten, die sie auf der Welt hatte und schlug die Hände vor das Gesicht. „Mama! Papa!“

Dann brach es aus ihr heraus. Ihr Körper wurde wie in einem Krampf geschüttelt und unter lauten Schluchzen brach Emilie in sich zusammen und sie merkte nicht mehr den starken Griff eines Mannes, der verhinderte, dass sie mit dem Kopf auf dem steinernen Boden aufschlug.

Als sie wach wurde, sah sie in das Gesicht einer Krankenschwester, die sich über sie beugte.

„Ich habe Ihnen ein Beruhigungsmittel gegeben“, sagte eine freundliche und mitleidvolle Stimme. „Wie fühlen Sie sich? Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause!“

„Wo ist Marie?“

Emilie konnte sich nicht erinnern, sie vorhin bei dem Schutthaufen gesehen zu haben.

„Hat man sie gefunden? War auch sie verschüttet?“

Sie schaute die Krankenschwester, die vom Alter her ihre Mutter hätte sein können, fragend und zugleich hoffnungsvoll fordernd an, ja beinahe flehend.

„Nein, Kindchen.“ Die Krankenschwester sah unter sich. „War auch sie in diesem Haus, das es getroffen hat?“

„Ich weiß es doch nicht. Ich habe keine Ahnung.“

Emilie begann zu weinen und unter Schluchzen erzählte sie der Schwester, dass ihre Eltern und ihre Schwester sich am Mittag aufgemacht hatten, um Bekannte zu besuchen und vielleicht einige Dinge in Essbares umzutauschen.

„Dann kam ihnen sicher der Flugangriff dazwischen, als sie unterwegs dorthin waren.“ Die Krankenschwester nickte vielsagend und strich Emilie über das Haar. „Wie alt sind Sie?“, fragte sie mütterlich.

„Sechszehn“, flüsterte Emilie. Ich bin sechzehn. Und Marie … sie ist erst vierzehn. Ich bin doch für sie verantwortlich.“

Die Krankenschwester atmete tief durch. Dieses unendliche Leid, das uns allen aufgebürdet wird, dachte sie. Laut fragte sie:

„Was werden Sie jetzt tun?“

„Ich weiß es nicht. Ich möchte am liebsten auch sterben“, schluchzte Emilie. „Ich habe keinen Menschen mehr auf dieser Welt.“

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