Читать книгу Im Wahn gefangen - Hans-Otto Thomashoff - Страница 11

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Seine erste Wahrnehmung, die sich wie in Zeitlupe einstellte, bestand in einem rhythmisch hämmernden Pochen mitten in seinem Kopf, der darunter zu zerbersten schien. Sperling lag vollkommen reglos, versuchte nach einer Weile, vorsichtig die Augen zu öffnen, was ihm nur mühsam gelingen wollte. Alles um ihn herum war schwarz. Er strengte sich an, etwas zu sehen. Da erst bemerkte er, dass er am ganzen Körper gefesselt war. Wie von einem Stromschlag ausgelöst, setzten Muskelkrämpfe ein, durchzuckten seinen Rücken, zogen hinauf bis zum Hals, sodass der sich schmerzverzerrt wand. Schweiß trat auf seine Stirn, obwohl ihn fror. Minutenlang musste er so ausharren. Sollte er um Hilfe rufen? Doch er konnte nicht. Er bemühte sich verzweifelt, zu denken, sich an irgendetwas zu erinnern. Hatte man ihn entführt, aber warum und wohin? Da verkrampfte sich sein Unterkiefer, und er biss sich auf die Zunge. Der süßlich metallische Geschmack von Blut sammelte sich in seinem Mund. Jeder seiner Versuche, den Krämpfen entgegenzuwirken, war zwecklos. So bohrte er sich schließlich seine Fingernägel in das Fleisch seiner Handflächen, bis er irgendwann erschöpft einnickte.

Ohne Zeitgefühl wachte er wieder auf. Immer noch war es vollkommen finster. Seine Wahrnehmung war wie gelähmt, anders als sonst, zerlegt in Bruchstücke, die er nur mühsam fassen konnte, die Dunkelheit, seine Bewegungslosigkeit, die Schmerzen, die einem Muskelkater gewichen waren, ein penetrant beißender Gestank in der Luft, ein Gemisch aus Angstschweiß, Desinfektionsmittel und altem Urin. Er kannte den Geruch, ohne zu wissen woher, suchte im Dunkeln nach Orientierungshilfen. Befand er sich in einem Keller, in einem Versteck ohne Fenster, war es immer noch Nacht? Unvermittelt zog es seine linke Schulter unter höllischen Schmerzen hoch bis an sein linkes Ohr. Wieder ein Muskelkrampf. Sperling versuchte sich dagegenzustemmen, aber seine Fesseln ließen das kaum zu. Ihm blieb nichts, als passiv dazuliegen und abzuwarten. Es verging eine Ewigkeit, die nur von den plötzlichen Attacken seiner Muskulatur unterbrochen wurde. Sie trieben ihn an den Rand des Wahnsinns, aber er wollte nicht wieder wegdämmern, sondern endlich wissen, was geschehen war. Sein Körper war ihm so präsent wie sonst nie. Jede Faser, die normalerweise selbstverständlich und unbemerkt zu ihm gehörte, forderte seine Aufmerksamkeit ein in einer qualvollen Folter, deren Ursache Sperling nicht kannte, aber deren Folgen er hilflos ausgeliefert war. Wie in einen Nebel gehüllt, kamen Erinnerungsfetzen zurück, das Telefonat in seinem Büro, das Treffen mit der Unbekannten, bei ihm zu Hause der Sex, dann Chiara. Hatte es nicht an der Tür geläutet?

Doch was war das jetzt? Erklang nicht auf einmal Musik? Ja, jemand sang, nebenan oder über ihm. Sperling lauschte angestrengt, die Melodie war ihm vertraut: »Gefangen bist du, fest mir gefesselt, wie du die Welt, was lebt und webt, in deiner Gewalt schon wähntest …« Das war von Wagner, die Stimme Wotans aus dem Rheingold.

An was für einem Ort mochte er nur gelandet sein? Sperling rätselte, fand keine Erklärung, verharrte starr in einer undefinierbaren Leere und wartete, ohne zu wissen worauf.

Die Musik war längst verstummt, als mit einem Mal durch ein Lammellengitter hindurch gedämpftes Licht in den Raum fiel. Die Tür wurde geöffnet, jemand trat herein, auf ihn zu, und er vernahm die angenehm warme Stimme einer Frau.

»Sind Sie wach? Wie geht es Ihnen?«

Noch bevor Sperling antworten konnte, paralysierte ein neuerlich einschießender Krampf seine Kiefermuskeln, und er brachte kein Wort heraus. Dann spürte er einen Nadelstich, seine Lider wurden schwer, er entspannte sich und war gleich wieder eingeschlafen.

Als er nach langer Zeit völlig benommen wieder zu sich kam, nahm er als Erstes durch seine geschlossenen Augenlider hindurch Helligkeit wahr. Der Versuch, seine Arme zu heben, misslang, er war immer noch gefesselt. Er erinnerte sich an die furchtbaren Muskelkrämpfe, doch die schienen vorüber. Ihm war kalt. Es herrschte Ruhe, aber er war nicht allein, das spürte er. Zaghaft blickte er auf, sah vor sich das grinsende Gesicht eines Glatzkopfs, der ihn mit weit aufgerissenen Augen angaffte. Sperling erschrak so heftig, dass er laut aufschrie. Sofort kam Leben in seine Umgebung. Es entstand ein Tumult, Schritte eilten herbei, wieder gab es einen kurzen Stich, und er sackte weg.

Im Wahn gefangen

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