Читать книгу Im Wahn gefangen - Hans-Otto Thomashoff - Страница 13

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Aber es war kein Traum.

Als Sperling wieder zu sich kam, herrschte Dunkelheit, und er war allein, lag nicht mehr auf dem belebten Gang. Sein Bett stand jetzt an einem Fenster, und er vernahm das sachte knisternde Geräusch von Schneeflocken, die wie freudig vom Himmel herunter in ihren Tod zu springen schienen. Er hatte keine Ahnung, welche Uhrzeit es sein mochte, die Nächte waren lang zu dieser Jahreszeit, begannen schon am frühen Nachmittag. Seine Glieder waren lahm und schmerzten. Er versuchte, einen Arm zu heben, aber er war immer noch bewegungsunfähig verschnürt wie ein Paket, konnte sich nicht drehen und wenden und fand so auch kein Entkommen aus den blitzartig einschießenden Muskelkrämpfen, die ihn von Neuem ohne Vorwarnung überfielen. Er gab sich Mühe, sich zu konzentrieren, sich zumindest die Illusion eines Auswegs aufrechtzuerhalten, doch es gelang ihm nicht. Sein Hirn schien zu einer zähen Masse verbacken zu sein, seiner Kontrolle entzogen wie sein Körper. Er war von einer Gleichgültigkeit befallen, die er so an sich nicht kannte. Hatte er sich aufgegeben, oder war auch dies eine Folge der Medikamente, die sie ihm einflößten? Nicht einmal Wut empfinden konnte er. Über allem lag ein zehrender Mehltau. Nur Warten blieb ihm, die Zeit wie in einem Dämmerzustand zu durchstehen, im Niemandsland, irgendwo zwischen Existenz und Auslöschung. Seine Hand strich in dem kleinen Kreis, den seine Fessel zuließ, über das Laken, und er spürte, dass sein Bett frisch bezogen worden sein musste. Und eine Hose hatten sie ihm übergezogen. Er hatte nichts davon mitbekommen. Äußerlich war er beinahe wieder er selbst, lediglich seiner Freiheit und seiner Kraft zu denken beraubt.

Dort von oben, er hielt den Atem an, kam wieder Musik. Sie wurde lauter, war nun deutlich zu erkennen, wieder Wagner. In dem Raum über ihm spielte jemand die Walküre. »Niederspritzen und Dauerbeschallung mit Wagner«, dachte Sperling. »Leb wohl, du kühnes, herrliches Kind! Du meines Herzens heiligster Stolz! Leb wohl! Leb wohl! Leb wohl!« Das Finale der Walküre, Wotans schmerzlicher Abschied von Brünhilde, seiner Tochter, mit dem der Gott, gefangen im Konflikt zwischen scheiternder Pflichterfüllung und wahrem Gefühl, sein eigenes Ende besiegelte. Sperling lauschte dem Gesang, er war ihm ein Gruß der Zivilisation. Was für eine Aufnahme mochte das sein, rätselte er. Es war sonderbar, aber ja, er täuschte sich nicht, der Wotan wurde doppelt gesungen, wobei der begleitende Bariton ein klangvolles und eigenartig schönes Timbre hatte, aber offenbar kein perfektes Gehör. Voller Inbrunst sang er beharrlich an den Noten vorbei. So wohlklingend seine Stimme auch war, er scheiterte kläglich. Zum Zauber des Feuers drohte der zweifache Wotan mit der Spitze seines Speeres, und der Spuk war vorbei. Wieder war alles lautlos und schwarz.

Mit dem Verstummen der Musik schien ein letztes Band zur Welt draußen gerissen zu sein. Eine tiefe Melancholie überfiel Sperling. Die Einsamkeit wurde ihm unerträglich. Würde er eines Tages so sterben, im letzten Atemzug die Isolation vollenden, die ihm im Laufe seines Lebens immer schonungsloser zur Gewissheit geworden war? Vielleicht war der Zeitpunkt näher, als ihm lieb war. Er hatte nackte Angst. Langsam legte sich seine Müdigkeit, die Wirkung der Spritzen schien nachzulassen. Umso deutlicher nahm er jetzt seine ausgelieferte Lage wahr, für die er immer noch keine Erklärung hatte. Jeder Moment erschien ihm endlos, hatte weder Vergangenheit noch Zukunft. Er wartete, ohne zu wissen worauf. Hatte er wieder etwas gehört? Nein, es herrschte vollkommene Stille. Die Luft war stickig, stand vor staubig trockener Heizungshitze. Ihn fröstelte längst nicht mehr, er hatte Durst. Gerne wäre er eingeschlafen, hätte er Kräfte gesammelt, aber auch das gelang ihm nicht. Er konnte sich nicht in ein Schicksal fügen, das er gar nicht kannte.

Im Wahn gefangen

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