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Die Blumenfrau sprang auf Sperling zu und redete auf ihn ein, ohne ihren Vater eines einzigen Wortes zu würdigen. Ihr Blick hing fest an seinen Lippen, und seine höflich hilflosen Versuche, sie abzuschütteln, scheiterten kläglich. Es war helllichter Tag, und sie spielten »Strangers in the Night«. Unweigerlich musste Sperling an die Fangarme des Oktopus denken, der ihm vorhin in einer Vitrine der Restaurantküche aufgefallen war. Die immer noch Unbekannte stand zu dicht vor ihm. Er hasste aufgezwungene Nähe. Der Regen feiner Speicheltropfen, den sein Vorgesetzter regelmäßig versprühte, wurde durch die Weite von dessen übergroßem Schreibtisch abgefangen, hier war es anders. Marilyn lag an Sperlings Brust, ruhig, unbeteiligt. Die Distanzlose sagte, sie liebe Hunde.

»Ist der süß, Ihr kleiner Dackel. So einen habe ich auch einmal gehabt. Aber er ist leider gestorben, es war schrecklich.«

»Entschuldigen Sie, ich denke, wir sollten jetzt …«

»Sie verstehen das sicher. Stellen Sie sich vor, ihn einfach zu verlieren.«

»Ihr Vater …«

»Mein Vater? Ach, der ist so süß, der Kleine. Lässt er sich streicheln? Wie heißt er denn?«

Während die an Reizen Arme so weitersprach, ohne dass ihr an einer Antwort auf ihre Fragen gelegen zu sein schien, streckte sie ihre Hand nach Marilyn aus. Auch der Hund entkam ihr nicht, dachte Sperling. Marilyn nahm es gelassen. Da berührte die Hemmungslose Sperlings Arm, wie zufällig und doch plump. Er schreckte zurück, reflexartig. Wo war sein sonst von Toleranz geprägtes Menschenbild angesichts der penetranten Aufdringlichkeit dieser Person? Ihm war, als müsse er sich gegen einen Angriff zur Wehr setzen, und dabei hatte er doch nur helfen wollen. Doch für die Art von Hilfe, die sie von ihm begehrte, war er nicht der richtige Mann, dessen war er sich sicher. Er gab sich Mühe, brüsk und abweisend zu wirken. Noch machte er nicht auf dem Absatz kehrt, weil ihn aus reiner Neugier interessierte, was es mit der ominösen Bedrohung auf sich haben mochte. Sie aber blieb bei ihren verbalen Belanglosigkeiten.

»Feiern Sie und Ihr süßer kleiner Hundi denn bald Weihnachten zusammen?«

»Nein, wir feiern nicht. Sie ist Jüdin, gerade konvertiert, aber …«

»Oh, er ist eine sie.« Und schon floss er weiter, der Wortschwall, in dem es für Sperling kein Halten gab. Es gelang ihm nicht, sein Anliegen vorzubringen, das ja eigentlich das ihre war. Nickend wie einer jener Plastikdackel auf der Hutablage eines Autos stand er an der Theke mit knurrendem Magen und ließ es mit sich geschehen. Er betrachtete sie, ohne ihr zuzuhören, rätselte, was einen Menschen wie sie nur dazu bewegen mochte, sich so gehen zu lassen. Ihre Körpermaße versinnbildlichten ihre ausufernde Gier, alles zu verschlingen, selbst ihn, hier vor aller Augen. In dem zaghaften Bestreben, ihr zu entkommen, setzten sich Sperlings Füße kaum merklich in Bewegung und trugen ihn in kleinen rückwärtigen Schritten zu den Blumenregalen hin, aber die mutmaßlich Wahnsinnige – hatte sie nicht selbst von der Psychiatrie gesprochen? – blieb an ihm hängen wie eine Klette. Da, wieder wurde er berührt, diesmal an der Schulter. Sperling erschrak aufs Neue, sprang zur Seite.

»Entschuldigen Sie.«

Jetzt war es gar nicht sie, die ihn antippte, sondern ein ihm engelsgleich erscheinendes Geschöpf. Herausgerissen aus seinem erfolglosen Fluchtversuch, hatte er sich umgewandt und blickte nun in zwei grünlich schimmernde Augen, deren jugendlicher Glanz eine so große Anziehung auf ihn ausübte, dass seine Wangen schamhaft erröteten.

»Sie müssen der Inspektor sein.«

»Ich? Ja. Wieso?«

»Ich hatte Sie vorhin angerufen.«

»Ach Sie waren das. Und nicht Sie?« Die zweite Frage hatte er an seine bisherige Gesprächspartnerin gerichtet, aber keine der beiden Frauen verstand ihn, und es gab eine verlegene Pause. Sperling kannte sich zwar aus auf dem glatten Parkett der Wiener Förmlichkeiten, doch wenn Konflikte in der Luft lagen, wurde es ihm zu viel und er kam zu dem Entschluss, dass er heute auf sein Mittagessen verzichten würde. »Ich, ich glaube, ich gehe dann jetzt. Es war eine absolut unsinnige Idee von mir, hierherzukommen.«

»Nein. Gehen Sie nicht.«

Wie einstudiert kam die Antwort gleichzeitig aus beider Munde. Sperlings Sympathie flog ganz der ihm himmlisch anmutenden Schönen zu, was die Gesichtszüge ihrer unvorteilhaften Gegenspielerin zum Entgleisen brachte. Nervös zupfte sich Sperling am Kragen. Er war kein Freund von Auseinandersetzungen, schon gar nicht, wenn sie seinetwegen eskalierten, und fühlte sich bestärkt in seinem Entschluss zu gehen, selbst wenn er dafür darauf verzichten müsste, die Hintergründe des ominösen Anrufs zu erfahren, und nicht nur darauf.

»Gudrun, lass uns allein. Ich habe eine Verabredung mit dem Herrn.«

Widerwillig folgte die Aufgeforderte, verschwand hinter dem Grün der dicht gestellten Topfpflanzen.

»Bitte, bleiben Sie.«

Sperling war allein mit der Anruferin, allein unter dem weiten Tonnengewölbe, inmitten der Farbenpracht tropischer Orchideen und riesig anmutender Farnwedel, umwoben von Musik, die sonst nur gewissen Stunden vorbehalten war. Sie war schön. Nicht nur ihre ebenmäßigen Züge und ihre grünlich schimmernden Augen, ihre vollen Lippen und ihr luftig wallendes offenes Haar hatten etwas unverschämt Verführerisches, es war vor allem das Direkte ihrer Art, das die Anbetungswürdige noch jugendlicher erscheinen ließ, als sie sein mochte, und etwas entwaffnend Lebendiges hatte. Sperlings Kompliziertheiten schien sie einfach zu überspringen. Der fleischfressende Kelch einer Kannenpflanze, von dem er Marilyn fernhielt, erinnerte ihn noch einmal flüchtig an die unliebsame Begegnung, der er soeben entkommen war. Worauf er sich jetzt einließ, lag außerhalb seiner Vorstellungskraft. Unvermittelt blickte die Anmutige irritiert um sich, drängte ihn in eine zwischen Sträuchern versteckte Ecke und flüsterte ihm zu: »Ich sagte Ihnen schon, ich werde verfolgt.«

Geheimnisvoll und zugleich keck sah sie ihn an, stand unter einer Vanillestaude, deren Duft betörend war. Einen kaum merklichen Augenblick lang nur lag ein zerbrechlicher Ausdruck in ihrem Blick, der Sperling signalisierte, dass sie hinter ihrer Stärke und Bestimmtheit zart war und seines Schutzes bedurfte. Er spürte, wie das die Macht seines Willens brach. Stundenlang hätte sie jetzt sprechen können, er hätte ihr nur dabei zuschauen, sich dem wohligen Kitzel, den sie in ihm weckte, aussetzen mögen. Beinahe achtlos streifte ihre Hand eine der samtenen schneeweißen Blütenspitzen, offenbar ohne dass ihr klar war, welche Wirkung sie damit auf ihn ausübte. Oder ahnte sie es doch? Warf sie nicht ihr Haar mit einem leichtfertigen Schwung zur Seite, der absichtsvoll sein musste, vom Spiel ihrer Lippen ganz zu schweigen? Ihre Worte nahm Sperling nur noch gedämpft wahr, wie durch einen Nebel betörender Klänge hindurch.

»Wie ich Ihnen am Telefon bereits andeutete, hat mein Vater den entscheidenden Durchbruch in der Behandlung der Schizophrenie erzielt.« Wieder schaute sie sich nervös um. »Weltweit suchen alle großen Pharmakonzerne danach.«

Ihn ging nichts an von dem, was sie sagte. Sein Hunger war längst verflogen. Der süßliche Blütenduft, ihr Anblick, die Bewegungen ihres Körpers, alles war losgelöst von ihrem Bericht, sprach eine eigene Sprache, die ihn in einen gemeinsamen Tanz mit ihr zu ziehen schien, in den er sich willig hineinfallen ließ.

»Sie wollen seine Arbeit vernichten, haben bereits bei ihm zu Hause nach Unterlagen gesucht, ihm gedroht!«

Ein Einbruch in Deutschland, das hatte wirklich nichts mit seinem Aufgabenbereich zu tun, bestätigte Sperling sich und lächelte doch verständnisvoll.

»Wenn er nicht bereit ist, mit ihnen zu kooperieren, dann werden sie ihm etwas antun. Ich habe Angst um ihn!«

Ihre Anziehungskraft auf Sperling wurde mit jedem Moment, den er ihr weiter lauschte und zusah, unwiderstehlicher. Marilyn lag immer noch ruhig an seiner Brust, und beiläufig begann er sie zärtlich zu streicheln.

»Der Markt für Psychopharmaka ist ein Milliardengeschäft, das sich die Firmen sorgfältig untereinander aufgeteilt haben. Das sind Dimensionen, von denen man sich normalerweise keine Vorstellung macht. Nehmen Sie nur zum Beispiel Prozac®. Das wird in den USA so häufig verschrieben, dass es sich bereits im Trinkwasser angereichert hat und für die zunehmende Unfruchtbarkeit vor allem in den großen Städten mitverantwortlich gemacht wird.«

Sperling hatte von all dem bislang nichts gehört, fragte sich, ob es schon bald mit Viagra® ähnliche Probleme geben würde – wenn auch mit anderen Konsequenzen.

»Durch die Entdeckung meines Vaters werden alle existierenden Medikamente zur Schizophreniebehandlung mit einem Schlag überflüssig und erst recht die ganzen Mittel gegen deren Nebenwirkungen. Er ist in Gefahr, hält sich jetzt an einem geheimen Ort versteckt, um dort die letzten Ergebnisse zusammenzutragen und sie auf einer Internetseite zu veröffentlichen, damit sie für jeden zugänglich werden. Wenn ihm das gelingt, können sie ihm nichts mehr anhaben, weil sein Wissen sich dann blitzartig verbreiten wird und nicht mehr aus der Welt geschafft werden kann. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.«

Ihre Geschichte, sofern sie denn stimmte, gewann an Konturen. Sie hatte immer noch nichts mit Sperling zu tun, doch etwas an der Art der Fremden übte eine unwiderstehliche Macht auf ihn aus, war das passende Gegenstück zu seiner komplexbehafteten Gehemmtheit. Sie hielt inne, blickte ihn fragend an, ob er sie verstanden habe, und er nickte. Ja, er fühlte, er würde sie verstehen.

»Wir müssen vorsichtig sein. Ich denke, wir sollten besser nicht zusammen gesehen werden. Können wir irgendwohin verschwinden, wo wir ungestört sind?«

Nichts wünschte er sich im Moment mehr, und gerade das irritierte ihn. Und doch, wenn ihre Augen auch nur eine Spur von dem hielten, was er in sie hineinzulesen versucht war … Er zögerte, blickte verstohlen zur Seite. Je stärker es ihn zu ihr hinzog, desto mehr gemahnte ihn eine innere Stimme zur Flucht. »Also ich weiß nicht, und eigentlich wollte ich etwas essen.«

Sie lächelte ihn an, entwaffnend.

»Ich kümmere mich darum. Bleiben Sie noch einen Moment hier, und gehen Sie dann zu dem Ausgang, der gleich hinter der Küche liegt. Ich werde Sie im Stiegenhaus wieder treffen.«

Noch bevor er etwas entgegnen konnte, war sie verschwunden.

Sollte er sie mit in sein Büro nehmen, schließlich handelte es sich ja um einen Fall? Möglicherweise jedenfalls. Er musste sich im Internet vergewissern. Gäbe es die Website, von der sie gesprochen hatte, wirklich, konnte etwas dran sein an ihrer Schilderung. Aber das ließe sich auch von Zuhause aus überprüfen, dazu musste er nicht aufs Dezernat. Sicher, er war Kriminalbeamter, aber bislang gab es keine offizielle Ermittlungssache, sondern eher so etwas wie eine persönliche Beratung außerhalb jeder beruflichen Zuständigkeit. Eine Biene setzte sich direkt vor seiner Nase auf eine der weißen Orchideenblüten, und Marilyn versuchte nach ihr zu schnappen – erfolglos. Ihm war heiß. War er im Begriff, sich zu verlieben? Es war ein Gefühl, das ihn kribbelnd packte, ihn mit sich riss wie ein rauschender Strom, dem er sich nicht entgegenzustemmen vermochte und auch nicht wollte. Hatte er dieses ewige Alleinsein nicht satt? Sie war ein Engel, vom Himmel gefallen, er kannte sie erst seit Minuten, wusste nicht einmal ihren Namen, und doch war sie wie ein offenes Buch für ihn. Oder redete er sich das alles nur ein, erlag er einer Illusion? War es nur der Reiz ihrer Jugend, weil er damit haderte, dass sein Alter mit ersten grauen Haaren sein Recht einforderte? Ratsuchend blickte er Marilyn an, die er immer noch eng an sich gepresst hielt, doch sie wusste ihm nicht zu helfen.

Er beschloss, es einfach geschehen zu lassen, was auch immer es sein mochte, und begab sich, ihrer Anweisung folgend, ins Stiegenhaus, wartete dort an eine der Marmorsäulen gelehnt. Mit Chiara verband ihn viel. Hatte er nicht doch die ganzen Jahre über mit der versteckten Hoffnung gelebt, er könne sie eines Tages zum Bleiben bewegen, und war er damit nicht gescheitert, endgültig? Starr blickte er vor sich hin. Seine Liebessehnsucht war eindeutig im Moment stärker als sein analytisches Denken.

Marilyn wurde unruhig, da legten sich ihm von hinten Hände auf die Augen. Sperling erschrak nicht, schmunzelte stattdessen. Das konnte nur die vertraute Fremde sein. Und sie war es auch.

»Ich habe etwas Feines für uns«, hauchte sie ihm zu. »Austern.«

Mochte er, zuckte es ihm durch den Kopf, sich am helllichten Tag mit Austern satt essen? Spielte sie damit subtil an auf die kommenden Stunden oder auf den Altersunterschied zwischen ihnen? Er lächelte zustimmend.

»Sag, wo müssen wir hin? Wir sollten nicht zusammen gesehen werden, und da ist es besser, wenn ich vorausgehe und du mir dann einen Augenblick später nachkommst.«

Sein Lächeln hielt sich, und er nickte wortlos.

»Nun?«

»Ach so, ja. Schottengasse.«

Der Koch musste sie gut kennen, Austern, dachte Sperling.

»Ja, und wo in der Schottengasse?«

»Nummer drei, Melkerhof. Im hinteren Hof. Das Haustor steht offen. Sie … man kann drinnen im Hof warten.«

»Gut.«

Schon sprang sie davon, wandte sich an der Tür nach draußen noch einmal kurz ihm zu, um zu signalisieren, dass die Luft rein war, und war schon entschwunden.

Das »Du« war ihr ganz selbstverständlich über die Lippen gekommen. Sollte er lange warten? Nein, entschied er sich und war schon hinter ihr her. Sollte ihr etwas zustoßen, wäre er so zumindest rechtzeitig zur Stelle. Beim Verlassen des Börsegebäudes wurde er wieder von der Sonne geblendet, doch es hätte auch schneien können und ihm wäre warm gewesen. Er sah gerade noch, wie sie, oben an der Metallstiege angekommen, auf die Straße trat. Hastig erklomm er selbst die Stiege und folgte ihr dann mehr oder weniger unauffällig auf ihrem Weg durch die Innenstadt, ein Stück weit hinter ihm sein Hund, der sich nur widerwillig damit abfand, jetzt nicht getragen zu werden, sondern selbst laufen zu müssen.

Sperling behielt die vorauseilende Schöne die ganze Zeit über fest im Auge, verfolgte jede Bewegung der bezaubernden Fremden und malte sich aus, wie sie sich lieben würden, denn dass sie sich lieben würden, davon war er überzeugt.

Streifige Wolken kündigten einen Wetterwechsel an, doch das tangierte ihn nicht. Ein wenig außer Atem erreichte er den Melkerhof, wo sie bereits auf ihn wartete.

Im Wahn gefangen

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