Читать книгу Im Wahn gefangen - Hans-Otto Thomashoff - Страница 15
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ОглавлениеErleichtert und erschöpft von der Anspannung, in der er sich während des Schlagabtauschs mit seinem ungleichen Kontrahenten befunden hatte, sackte Sperling die wenigen Zentimeter zurück, die sein Bewegungsspielraum zuließ. Vartan hatte das Licht angelassen, und so konnte Sperling erstmals seinen eigenen Zustand und seine Umgebung genauer inspizieren. Um seine Hand- und Fußgelenke herum waren lederne Riemen geschnürt, die am Gestell des Bettes befestigt waren. Sie ohne das dazu notwendige Werkzeug zu lösen, war unmöglich. Er trug ein weißes Anstaltshemd und lag unter einer Decke, unter der seine nackten Füße hervorlugten. Außerdem hing um seinen Hals an einem Bindfaden ein Schlüssel, dessen Zweck ihm nicht einleuchtete, der aber offensichtlich nicht zum Lösen seiner Fesseln taugte.
Die Einrichtung des übermäßig hoch wirkenden Raumes war spartanisch. Direkt über ihm hing an der mit weißen Styroporplatten verkleideten Decke eine grell leuchtende Neonröhre. Die Wände waren cremeweiß getüncht. Ihm gegenüber standen ein karger Waschtisch ohne Spiegel, daneben ein schmaler Wandschrank aus Holz und der Stuhl, auf dem Vartan vorhin gesessen hatte. Schließlich gab es noch einen kleinen gelben Metalltisch direkt neben seinem Bett.
Wie sollte man in so einer Umgebung gesund werden, wenn man wirklich psychisch krank war, fragte Sperling sich. Sein Durst meldete sich wieder, ihm war, als habe er seit einer Ewigkeit nichts getrunken, und Hunger hatte er auch. Er fühlte sich elend und ausgemergelt, aber wenigstens sein Denken gewann die gewohnte Klarheit zurück.
Es klopfte kurz an der Tür, und ein blondes Geschöpf in einem zu engen weißen Kittel, das so gar nicht in dieses triste Umfeld passen wollte, betrat den Raum. »Guten Abend. Ich bin Schwester Hilde und bringe Ihnen das Abendessen.«
Sie hatte jedoch nichts bei sich außer ihren beiden ausladenden Brüsten. Sperling war irritiert.
»Was darf es denn heute für Sie sein? Es gibt Krautfleisch oder gefüllte Paprika.«
Die Normalität ihrer Frage traf Sperling unvorbereitet. Er starrte sie wortlos an, wurde dann seiner Hilflosigkeit gewahr. »Aber wie soll ich denn essen?«
»Ganz einfach, ich werde Sie füttern.«
Sie sagte das so, als sei es das selbstverständlichste der Welt. Nach kurzer Überlegung entschied er sich für das Krautfleisch. »Und bitte etwas zu trinken.«
»Hätten Sie lieber Hagebuttentee oder Pfefferminztee?«
Hagebuttentee erschien ihm in Verbindung mit dem Krautfleisch als das geringere Übel. Nach der Bemerkung, sie werde sofort zurück sein, verschwand die wundersame Erscheinung, und Sperling befürchtete fast, ihr kurzer Besuch könnte nur ein Wunschgebilde seiner Fantasie gewesen sein. Doch sie kehrte zurück mit einem Tablett in Händen, stellte es auf das Metalltischchen neben seinem Bett und hob die Plastikhaube vom Teller, auf dem dampfend und von eigentümlicher Farbe das abendliche Mahl lag. Ob es auf dieser Station nur Einzelzimmer gab, wie sonst war eine solche Speisenauswahl zu verantworten, kam es Sperling in den Sinn, als ihm der Krautgeruch in die Nase stieg.
»Bitte erst etwas zu trinken, ich verdurste.«
»Aber gern.«
Sie goss den Tee aus einer Thermoskanne in einen Plastikbecher, den sie ihm an den Mund hielt, und er trank ihn in einem Zug aus. Das heiße Getränk brannte in seiner Kehle, und die Wärme durchzog seinen ganzen Körper, doch sein Durst war von dem einen Becher nicht gelöscht.
»Bitte auch etwas Wasser.«
Auch das reichte sie ihm, und die kühle Erfrischung tat gut.
»Na, dann wollen wir mal, Inspektor.«
Sperling war überrascht. Wusste sie, wer er war, war sie beteiligt an dem üblen Spiel? »Sie nannten mich Inspektor?«
»Ach so, ja. Hier bei uns auf der Station bekommt jeder einen Spitznamen, der zu ihm passt. Sie sind der Herr Inspektor, und dann haben wir noch ein Orakel, einen Schauspieler, einen kleinen Nazi und viele andere mehr. Sie werden sich schon einleben bei uns, das ist bisher noch jedem gelungen. Und wenn Sie sich irgendwann in unserer Mitte richtig zu Hause fühlen, dann wollen Sie gar nicht mehr weg. Sie werden sehen.«
Während sie so plauderte, begann sie Sperling löffelweise mit dem Krautfleisch zu füttern, der sich dabei ertappte, wie er die Skurrilität seiner Lage bereits als beinahe normal erlebte.
»Und Therapie machen können Sie bei uns auch. Beschäftigungstherapie, Töpferkurs, oder wie wäre es mit der Trommelgruppe?«
»Ich hätte da eher an ein paar hundert Stunden Analyse gedacht.« Sperling hatte diesen Gedanken wirklich gehegt – die Liste seiner Neurosen war lang –, ihn jedoch wie alle echten Neurotiker ad infinitum vorerst verworfen.
»Ist ja ein Zufall. Ich habe früher in der Dialyse gearbeitet. Und eine feste Aufgabe mit Verantwortung bekommen Sie für den Stationsalltag zugeteilt, vielleicht das Amt des Fischefütterns?«
»Fische füttern?« Er hielt kurz inne, um zu kauen. »Ich kann doch gar nicht aufstehen. Da gehen die Fische sicher ein.«
»Ach, so etwas kommt vor. Aber das ist doch nicht so tragisch. Dann gibt es halt wieder ein paar neue.«
Sperlings erster Hunger war gestillt, doch er beschloss, die sich ihm bietende Gelegenheit zu nutzen, um mehr über Vartan in Erfahrung zu bringen, dabei aber nicht zu direkt vorzugehen. »Arbeiten Sie denn schon lange auf dieser Station?«
»Zwei Jahre sind es bald.«
»Und gefällt es Ihnen hier?«
»Ich glaube, ich möchte nie mehr etwas anderes machen. Es ist so wichtig, dass man in seinem Leben aufrichtig ist, Gutes tut und den Menschen hilft, diesen vielen armen Gestalten, die bei uns landen. Und was für Geschichten ich hier zu hören bekomme, da kann ich Ratschläge geben und werde wirklich gebraucht. Hier findet das richtige Leben statt in seiner ganzen Vielfalt. Außerdem ist die Zusammenarbeit in unserem Team ganz toll. Aber wieso erzähle ich Ihnen das eigentlich alles?«
Sie kicherte keck, und Sperling verlangte nach mehr Essen, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen.
»Und der Oberarzt?«
»Doktor Vartan? Der ist die Seele unserer Station, jeder mag ihn. Er ist so gut zu den Patienten. Darin ist er uns ein lebendiges Vorbild. Es gibt sicher keinen zweiten Arzt wie ihn. Er ist beinahe wie ein Vater zu uns, hat immer ein offenes Ohr und bleibt sogar oft nachts und am Wochenende hier, nur damit er möglichst sofort zur Stelle ist, wenn er gebraucht wird. Sie haben bestimmt schon bemerkt, dass ihm ein Auge fehlt. Er soll es verloren haben, als er einem Patienten, der sich umbringen wollte, das Messer abgerungen und ihm so das Leben gerettet hat.«
Sperling war zwar satt, doch er aß brav weiter und weiter, verlangte einen Nachschlag, trank mehr von dem Tee und lauschte verwundert der seinem eigenen Eindruck so krass widersprechenden Schilderung des Arztes, die die Schwester ihm bereitwillig abgab.
»Und gestern hat er uns mitgeteilt, dass er bald eine Privatklinik eröffnen will, draußen im Hoffmann-Sanatorium in Purkersdorf, und unser ganzes Team hat daraufhin sofort einstimmig entschieden, dass wir alle mitkommen wollen, wenn es so weit ist.«
Sperling wurde hellhörig. Wenn Vartan so großzügig für seinen Einsatz an ihm entschädigt wurde, ging es bei seinen Auftraggebern erst recht um viel Geld. Alice hatte offenbar kein bisschen übertrieben. Nur hieß das für Sperling, dass seine Aussichten dadurch alles andere als rosiger wurden. Tapfer ließ er sich mit dem Krautfleisch mästen.
»Sie haben wirklich einen unglaublichen Hunger. Ach, der Herr Doktor Vartan. Wissen Sie, im Vertrauen gesagt, wenn er nicht mit der Frau Doktor Farkic zusammen wäre – zumindest war er das bis vor Kurzem … und ich versichere Ihnen, da bin ich nicht die Einzige von uns Schwestern.« Sie gluckste verschämt, und ein flüchtiges Erröten huschte über ihre Wangen, was ihre offensichtlichen Reize noch unterstrich, wie Sperling sich eingestand.
»Aber die Farkic hat auf ihn aufgepasst wie ein Drache, Gift und Galle gespuckt, wenn eine von uns in seine Nähe gekommen ist. Er ist ja so ein guter … Mensch.«
Sie seufzte, und ihre Stimme hatte fast lasziv geklungen bei ihren letzten Worten. Sperling war mittlerweile vollkommen übersättigt, und verspürte auf einmal einen heftigen Druck auf seiner Blase. Angebunden, wie er war, konnte er weder aufstehen noch eine Harnflasche in Händen halten, ohne die Schwester um Hilfe bitten zu müssen, deren Erscheinung ihn keineswegs gleichgültig ließ. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er konnte nicht länger warten. »Meinen Sie, Sie könnten mir vielleicht eine Hand freimachen?« Er wand sich unruhig in seinen Fesseln.
Sie schaute ihn mitleidig an, verstand aber nicht sein dringendes Bedürfnis. »Das geht leider nicht. Der Oberarzt hat ausdrücklich betont, dass Sie äußerst gefährlich sind, und wir haben strikte Anweisung, Sie in der Fixierung zu belassen.«
Sperling fand es absurd, dass man ausgerechnet ihm, der trotz seines Berufs Gewalt verabscheute, Gemeingefährlichkeit bescheinigte, aber das war ihm im Augenblick egal. »Ich …«
Er schluckte, aber es ging einfach nicht mehr. »Ich …, ich muss mal.«
»Dann hole ich Ihnen die Flasche.«
Sperling lächelte gequält. »Wenn Sie meinen.«
Sie ging kurz hinaus und kehrte gleich darauf mit einer Harnflasche zurück. Ohne jedes Zaudern begann sie dann unter seiner Bettdecke zu fingern, und er reagierte wie erwartet. Zu seiner Überraschung war ihm seine Erregung deutlich peinlicher als ihr.
»Na, der will etwas anderes«, bemerkte sie lapidar und setzte sich unsanft mit der Flasche durch, was zwar im ersten Moment schmerzhaft, gleich darauf aber erleichternd für ihn war. »Haben Sie eine Frau?«
Er fragte sich, warum sie das gerade jetzt von ihm wissen wollte. »Nein, ich habe einen Hund. Sie meinen doch im wirklichen Leben als Inspektor oder, was war es doch gleich, als Kartenverkäufer?«
Sie nickte gütig, als könne er ja nichts für seine Verwirrtheit. Es stand eindeutig fest, er war als verrückt gebrandmarkt, und niemand hier würde ihm die Wahrheit glauben.
»Noch einen Bissen?«
»Nein danke. Ich glaube, es reicht.«
»Dann bereite ich alles für Ihre Nachtruhe vor.«
»Bitte, eine Frage habe ich noch: Wozu dient eigentlich dieser Schlüssel, den ich um den Hals trage?«
»Das ist Ihr Spindschlüssel, für Ihren Schrank dort.«
»Aber den kann ich doch gar nicht benutzen.«
»Das wird schon, warten Sie nur ab.«
Sie brachte das Tablett hinaus und kam noch einmal zurück, um seine Flasche zu leeren und auszuspülen. Dann löschte sie das Licht und ließ ihn mit einem milde gehauchten »Gute Nacht« allein, das dem Raum einen Moment lang eine warme Note verlieh, die sich jedoch schon bald in der gespenstischen Stille der Dunkelheit verflüchtigte.
Da bin ich nun, dachte Sperling, bewegungslos wie ans Kreuz genagelt, nur halt flach, nicht aufrecht. Lag man so auf der Couch in einer Psychoanalyse?
Sperlings Rücken schmerzte vom Liegen auch ohne die Nebenwirkungen der Medikamente. Wie lange würde er das noch aushalten? Die aufgezwungene starre Körperhaltung führte ihm seine Hilflosigkeit unmittelbar vor Augen. Er konnte wieder denken, das hatte er sich ausgehandelt, doch das brachte ihn keinen Schritt weiter. Ob er bereits vermisst wurde – nur, von wem?
Marilyn hatte sich sicher in der Küche des Lokals unten im Haus eingenistet, wo sie Stammgast war. Da verließ er sich ganz auf ihren unerschütterlichen Instinkt.
Für die Kollegen aus dem Dezernat war er im Wochenende.
Und Chiara? Hatte sie am anderen Ende der Leitung vielleicht mitbekommen, was geschehen war? Er sehnte sich auf einmal nach ihr, und doch war etwas zerbrochen. Sie hatte das stillschweigende Einverständnis zwischen ihnen, trotz aller Freiheiten zusammenzugehören, aufgekündigt, sei es aus Unachtsamkeit oder aus was auch immer. Wollte sie wieder ein Kind haben? Hatte sie den Verlust ihres Sohnes endlich überwunden? Ihr Mann und ihr damals zweijähriger Sohn waren bei einem Autounfall tödlich verunglückt, und sie hatte seitdem jede feste Bindung gemieden. Doch wer war jetzt dieser andere? Sperling grämte sich, dass er es vielleicht nie erfahren würde. Die trockene Heizungsluft verursachte ihm einen Juckreiz an den unterschiedlichsten Stellen seiner Haut, die sämtlich außerhalb seiner Reichweite lagen. Wie human doch eine Gummizelle sein musste im Vergleich zu diesen starren Ledergurten, dachte er, biss die Zähne aufeinander und spannte seine Muskeln an, bis das Jucken endlich aufhörte. Seine Mutter war hier in der Psychiatrie gewesen, und er wunderte sich nicht, dass sie nie mehr zu sich selbst gefunden, sich schließlich das Leben genommen hatte. Er hatte sie besucht hier, hatte die Bilder von ihren letzten Begegnungen verdrängt, wusste nicht einmal mehr die Nummer des Pavillons, in dem sie gelegen hatte, erinnerte nur, dass sie alle gleich ausgesehen hatten, als er damals durch das parkartige Gelände zu ihr gegangen war. Und der Geruch der Station, der hatte sich ihm eingebrannt, den würde er niemals vergessen.
Was war mit Alice, ob auch sie entführt worden war? Die Erinnerung an ihre jugendliche Leichtigkeit entglitt ihm, erschien ihm immer unwirklicher, wie ein verlockender Traum, den die raue Wirklichkeit ausgelöscht hatte. Sein ganzes Leben war bei näherer Betrachtung eine Aneinanderreihung von Abschieden. Stück für Stück verlor er alles, was ihm lieb war. War es da das Schlechteste, wenn er selbst vor der Zeit die Bühne verließ? Er musste kämpfen, doch in diesem Augenblick wusste er nicht mehr wofür. Reglos lag er umhüllt von der schwarzen Nacht und fand keinen Schlaf.