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»Sie müssen mir helfen!«

Die Angst in ihrer Stimme war spürbar. Noch bevor er seinen Namen hatte nennen können, warf ihm die Unbekannte diese Worte durch das Telefon an den Kopf.

»Ja, bitte, mit wem spreche ich denn?«

»Es geht um meinen Vater. Er ist in höchster Gefahr!«

Sperling befand sich gerade auf dem Weg in die Mittagspause, hatte kurz innegehalten, als der Anruf gekommen war, wäre beinahe über seinen zu lang geratenen Zwergdackel Marilyn gestolpert und ärgerte sich jetzt darüber, dass seine Neugier größer gewesen war als sein Hunger. »Ich glaube, Sie sind bei mir nicht an der richtigen Stelle. Hier ist die Mordkommission. Das heißt, wir sind nur zuständig, wenn es einen Mord gegeben hat. Ich stelle Sie zu einem Kollegen durch.«

Er wollte sie abwimmeln. Wer in Gefahr war, lebte allem Anschein nach noch. Doch sie unterbrach ihn.

»Lassen Sie mich nicht im Stich.«

Ihre Not traf einen Nerv in ihm. Er versuchte, sich dagegen zu wehren. »Es tut mir leid, aber bei uns hat halt alles seine Ordnung.«

Ein solcher Satz aus seinem Munde, er biss sich auf die Zunge. Mit seiner Zuständigkeit war es wie bei den Leichenwagen, in denen keine Kranken transportiert werden durften, so wie umgekehrt in Krankenwagen keine Leichen. Sie waren kein Mordverhütungsdezernat, leider. Das Gesicht seines Vorgesetzten wollte er sehen angesichts einer Messingtafel an dessen Tür: »Oberst Stankovic, Verhütungsdezernat Wien«.

»Mein Vater ist Professor Lapinsky.«

»Aha.« Den Namen hatte Sperling nie gehört, wartete ungehalten auf eine Erläuterung.

»Sie kennen ihn sicher aus dem Fernsehen oder aus der Zeitung, der Biochemiker aus Heidelberg.«

»Der Biochemiker aus Heidelberg«, wie sie das sagte, als ob es dort nur den einen gäbe. Nicht, dass Sperling überhaupt einen Biochemiker gekannt hätte oder einen gewöhnlichen Chemiker oder auch sonst jemanden aus Heidelberg. Da beschlich ihn ein Verdacht. »Mit Verlaub, aber heißt das, dass Ihr Vater in Heidelberg und gar nicht in Wien ist?«

»Ja, das stimmt. Aber ich, ich lebe doch in Wien.«

Sperling räusperte sich, fragte sich, was ihn dieser nicht einmal existierende Fall überhaupt anging. Nervös blickte er auf seine Taschenuhr, wie um irgendetwas Sinnvolles zu tun, die Zeit, die er mit diesem Telefonat vergeudete, zu legitimieren. Hätte ihn nicht die Verzweiflung im Klang ihrer Stimme eigentümlich in ihren Bann gezogen, er hätte den in Wien üblichen, immer die Form wahrenden Umgangston über Bord geworfen und wäre dem Drängen seines wenig auf Etikette bedachten Magens gefolgt, der inzwischen zum Protest aufrief. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, rufen Sie mich also bei der Mordkommission an wegen eines Mordes, der sich erstens gar nicht ereignet hat und zweitens nicht einmal hier, sondern in Deutschland?«

Sein Bemühen um eine förmliche Sprache sollte seinen Worten Autorität verleihen, was sie ignorierte, vielleicht, weil sie die Gepflogenheiten der Stadt nicht kannte oder weil stärker war, was sie von ihm wollte. Sie wirkte verletzlich, war voller Furcht, das berührte ihn. Er hatte Hunger, und doch ertappte er sich dabei, wie er sich in Gedanken ihr Erscheinungsbild auszumalen begann. Die Direktheit ihres Hilferufes hatte etwas Schamloses an sich, dem er sich nicht entziehen konnte.

»Sie müssen mir helfen. Ich habe es schon überall versucht. Mein Vater ist ein Genie. Er hat die Lösung gefunden. Er weiß, wie man Schizophrenie heilen kann, für immer. Er ist die Hoffnung für Millionen Kranke. Deshalb sind sie hinter ihm her.«

»Die Kranken?« Sperling kannte sich nun gar nicht mehr aus, verlor die Geduld.

»Die Industrie mit ihren Machenschaften, sie wollen ihn beseitigen. Da ist eine Verschwörung im Gange.«

Eine Verschwörung, wie ein Signal wirkte dieses Wort. Sperling hatte genug. Wie oft schon waren ihm unsinnige Verschwörungstheorien aufgetischt worden, gefragt und ungefragt, bei seinen Ermittlungen oder einfach so, irgendwo im Gewirr der Gassen dieser Stadt, die den Irrsinn magisch anzuziehen schien. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aber könnte es sein, dass Sie selbst mit der Psychiatrie, ich meine …?«

»Ja sicher, gerade deswegen ist es doch so wichtig für mich. Sie dürfen mich nicht abweisen. Ich muss Sie treffen und Ihnen alles erzählen. Aber wir müssen vorsichtig sein, auch ich werde verfolgt.«

Sperling seufzte, während Marilyn, ganz Dackel, ausgehbereit an der Bürotür stand und ihn mit ihren dunklen Augen anbettelte. Warum ich?, schoss es ihm durch den Kopf, doch er hütete sich davor, das zu fragen. Irgendeine geisteskranke Person rief ausgerechnet ihn an, zwängte sich ohne Rücksicht in seine geschätzte Mittagspause, hielt ihn gefangen, verpflichtete ihn ganz gegen seinen Willen. Kam er nicht sonst immer zu spät, dann, wenn ein Mord bereits geschehen war und es kein Zurück mehr gab? Sperling war durcheinander, fühlte sich einer unsichtbaren Macht unterworfen, sah offenen Auges dabei zu, wie er sich auf etwas einließ, das ihn nicht nur um sein Mittagessen zu bringen drohte. Ratlos blickte er zu Marilyn hinab und beneidete sie um die Selbstverständlichkeit, mit der sie schwanzwedelnd auf ihr Recht pochen konnte.

Sperling gab also nach. In dem Versuch, das Beste aus der Situation zu machen, verabredete er sich mit der Unbekannten »zu einem kurzen Treffen«, wie er sagte, in der Börse. Sie arbeite dort in dem Blumenladen, hatte sie gemeint. Der Wiener Wertpapierhandel selbst hatte das prachtvolle Gebäude am Ring längst verlassen, weil er sich dessen Luxus nicht mehr hatte leisten können. Die Zeiten Maria Theresias, als Wien größter Börsenplatz der Welt gewesen war, lagen weit zurück. So wie das ganze Land entgegen dem Willen seiner Protagonisten lediglich noch eine Nebenrolle auf der Weltbühne spielte, hatte auch die Börse jahrelang in einem Etagenbüro in einer kleinen Seitengasse ihr karges Dasein gefristet. Erst jüngst war sie dann ausgerechnet in jenes Innenstadtpalais übersiedelt, in dem angeblich zum ersten Mal in Wien die Marseillaise erklungen war. Wie dem auch sei, an das Blumengeschäft lag ein Restaurant angeschlossen – eingebettet in die Pracht und in den Duft frischer Blüten –, weshalb Sperling sich für seinen außerordentlichen und ungewollten Einsatz zumindest mit einem guten Essen belohnt wissen konnte.

Draußen sprang Marilyn erleichtert voraus. Da sie nicht wusste, wohin sie gingen, drehte sie sich immer wieder vergewissernd um. Es war ungewöhnlich warm draußen. Als sei es ihr letztes Mal, bäumte sich die Sonne auf und gewährte den Bewohnern der Stadt eine Atempause vor den frostigen, nebelverhangenen Tagen und Nächten, aus denen es bald kein Entrinnen mehr geben würde. Sperling sog ihre Kraft ein, so tief es ging, ließ sich von ihren Strahlen in Gedanken zurücktragen zu den Sommerwochen am Meer. Dort, fern jeder Alltagsrealität, waren Chiara und er sich näher gewesen als jemals zuvor. Sie war seine langjährige Geliebte, seine einzige Vertraute, seine Ahnung vom wahren Leben. Und doch blieb ihre Beziehung verworren, war es ein Hin und Her, in dem sie lebten und sich liebten. Zu viel trennte sie. Sie entstammte einer steinreichen Reederfamilie aus Triest. Ihr Urgroßvater war vom Kaiser in den Adelsstand erhoben worden, und standesgemäß hatte er sich ein Palais in Wien in Hofburgnähe gekauft. Während Chiara in der Welt herumjettete und sich vor allem in Afrika für Wohltätigkeiten engagierte, war Sperling ein klassischer Wiener Staatsbeamter wider Willen. Aus dem Streben nach Sicherheit heraus war er dem Reiz des Beamtendaseins erlegen, obgleich es so gar nicht zu seiner wahren Natur passen wollte. Mehr durch Zufall, genauer durch die Empfehlung eines alten Schulfreundes, der seinen Posten zuvor innegehabt hatte, war er bei der Kriminalpolizei gelandet. Sein Vorgänger, ein Inspektor Federer, war einfach verschwunden. Wahrscheinlich hatte er Hals über Kopf das Handtuch geworfen und war ausgestiegen. Komplett auf irgendeine Südseeinsel. Sogar seinen Hund hatte er dagelassen, im Dezernat bei seinen Kollegen. Keiner hatte ihn in ein Tierheim geben und keiner hatte ihn haben wollen, und so war Sperling zusätzlich zu seiner Anstellung auch gleich auf den Hund gekommen. So verschieden Chiara und er auch waren, verband sie beide dennoch mehr, als andere je erfahren würden. Ihm war, als könne er sie jetzt beinahe spüren. Er lehnte sich auf gegen ihre Unerreichbarkeit. Der vergangene Sommer hatte sein Versprechen erfüllt, war jedoch unwiederbringlich zu Geschichte geworden. Sperling war wieder allein. Im Herbst hatten sie sich noch einmal gesehen, seither hatte er nichts von Chiara gehört. Aber brauchten sie nicht diese Trennungen, weil ohne die Distanz zwischen ihnen die Bedingungslosigkeit ihrer Liebe nicht aufrechtzuerhalten wäre? Oder redeten sie sich das nur ein?

Erst als Marilyn wie angewurzelt stehen geblieben war, weil sie sich weigerte, ihre Pfoten auf die in das Souterrain führende Metalltreppe zu setzen, bemerkte Sperling, dass er bereits am Ziel seines kurzen Spaziergangs angelangt war. Er hob den Hund hoch und trug ihn hinab. Das prachtvolle Stiegenhaus durchquerend, trat er auf eine unscheinbare Tür mit dem Namen des Restaurants zu, öffnete und fand sich in dem schmalen Gang direkt neben der Küche wieder, in der gerade Hochbetrieb herrschte. Von dort aus erreichte er den Speisesaal und zwängte sich zwischen geschäftig speisenden Büroangestellten und Damen auf Einkaufspause hindurch, bis zur halbrunden Verkaufstheke des Blumenladens, wo er, den Blicken einer der Verkäuferinnen nach zu urteilen, bereits erwartet wurde.

Der Hund auf dem Arm war das vereinbarte Erkennungszeichen, aber die Wartende schien nur Sperlings Augen zu sehen, gab sich wie von ihnen hypnotisiert. Das schmeichelte ihm, traf sich auch mit der lasziven Barmusik, die den Raum erfüllte, doch Sperling mochte ihre Begehrlichkeiten nicht erwidern. Hatte ihn seine Fantasie so trügen können, fragte er sich erschrocken. Er rechnete sich nicht zu den Menschen, die nach Äußerlichkeiten urteilten, aber ihre Erscheinung übte so gar keine Anziehungskraft aus auf ihn. Er fand die Art, wie sie ihn anstarrte, aufdringlich und ohne jeglichen Reiz. Er war beruflich hier, bestärkte er sich. Der wahre Beweggrund für sein Kommen, diese undefinierbare Anziehungskraft ihrer Stimme am Telefon, schien nie existiert zu haben. Sie sog ihn förmlich auf, doch er widerstand ihr spielend leicht und zog sich zurück auf seine Rolle als ermittelnder Kriminalbeamter in einem Fall, den es gar nicht gab.

Im Wahn gefangen

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