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3. Alles fließen lassen

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Der berühmte Hauptsatz des altgriechischen Philosophen Heraklit Alles fließt bezog sich auf den gesamten Kosmos, und wir wissen erst heute, wie Recht er hatte: Unser Universum dehnt sich in die Unendlichkeit aus, Milliarden von Galaxien bewegen sich durch dieses Universum und kreisen um sich selbst und umeinander, wie es in ihnen auch die Sterne und ihre Trabanten tun. Das Gleiche geschieht auf der Mikroebene, wo die Moleküle und die Atome durch die Räume fluten, sich verbinden und wieder trennen und selbst wieder in Teile zerfallen, die umeinander kreisen. Alles bewegt sich: Das, was wir Strukturen nennen, bewegt sich nur langsamer als das, was wir Prozesse nennen: es gibt keine Erstarrung, nie etwas wirklich Statisches.

Was für die anorganische Welt gilt, stimmt umso offensichtlicher für die Welt des Organischen und Lebendigen. Für die Gestalttherapie stand immer das Wachstum im Vordergrund, einfach weil sie eine Therapie sein will, der es vor allem um die Weckung und Wiederbelebung verschütteter oder gehemmter Lebensressourcen geht. Wachstum aber bedeutet immer auch Vergehen: Jede Geburt führt zu einem Tod, jedem Wachstum folgt ein Schrumpfen.

Anders als beim Leben wissen wir allerdings nicht, ob die anorganische Welt Anfang und Ende kennt. Gab es etwas vor dem Urknall? Gibt es Paralleluniversen? Was ist Unendlichkeit? Wir wissen es nicht und unsere Vorstellungskraft versagt hier gegenüber den mathematisch formulierten Vermutungen. Das Leben dagegen hat immer Anfang und Ende. Geburt und Tod bestimmen das individuelle Leben. Aber auch als Ganzes beginnt das Leben an irgendeinem Zeitpunkt der Erdgeschichte und die meisten Gattungen von Lebewesen, die der Reichtum der Evolution hervorgebracht hat, nämlich 95 Prozent, sind schon wieder ausgestorben.

■ ›Alles fließt‹ heißt: Alles ist vergänglich. Die Tatsache, dass wir Menschen um unsere eigene Vergänglichkeit wissen, hat anthropologisch zwei Konsequenzen:

1. Dass der Mensch ein Sinn suchendes Lebewesen ist und

2. dass ihm die Zeit immer knapp und kostbar ist.

Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus fest in seine Umwelt eingebunden; es kennt keinen Zeithorizont, sondern nur die Dauer der Gegenwart; sein Antrieb ist das Streben nach Überleben, sei es des Einzeltieres, sei es der Gattung; es weiß nichts von seiner Sterblichkeit – seine Todesangst ist eine Funktion seines Überlebenstriebs. Der Mensch aber weiß, dass er sterben wird und seine Todes angst ist die Angst vor der Auslöschung seiner Identität, seiner Persönlichkeit, seiner Unverwechselbarkeit.

Der Tod wirft dem Menschen Fragen auf: Warum ich? Warum überhaupt? Wozu dann überhaupt leben? Und wenn schon leben, was für ein Leben? Kann das Leben des Einzelnen zu einer Rechtfertigung oder einem Trost oder einer Einsicht führen, die einem die Tatsache des Todes erträglich macht? Kurz: Der Tod verlangt nach Sinngebung, nach einem Sinn des Lebens, denn diesen zu suchen, zwingt der Tod dem Leben auf, mit dem er untrennbar verbunden ist. Deshalb steht das Wissen um den Tod am Beginn jeder Kultur. Und deshalb auch kann es kein gutes Leben geben, ohne sich der Frage des Todes zu stellen.

Nicht dass es auf die Frage nach dem Sinn des Lebens jenseits rein subjektiver Lebensentwürfe eine Antwort geben könnte, die Objektivität beansprucht. Natürlich können religiöse Antworten sozial gestützt und institutionell verankert werden (so war es während des größten Teils der Geschichte), aber ihr absoluter Wahrheitsanspruch ist nach der Aufklärung unhaltbar geworden. Gestalttherapie setzt auch hier auf Erfahrung: Sie ist, wie Laura Perls sie definiert hat, »existential, experiential, experimental«. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, an den Grenzen seiner eigenen Existenz Erfahrungen zu machen, die ihn zu Sinnentwürfen führen, welche ihm zumindest eine gewisse Gelassenheit gegenüber dem Tod ermöglichen. Die Verortung der eigenen Existenz im Kosmos gehört meines Erachtens auch zu den von Perls und Goodman so bezeichneten »Persönlichkeitsfunktionen des Selbst«, die zur Entfaltung zu bringen allerdings eine gewisse Reife verlangt (vgl. dazu auch Dreitzel 2004, 111/112 und Tabellen 6a und 7).

Das ist die eine Konsequenz unseres Wissens um den eigenen Tod. Die andere ist, dass unter dem Schatten des Endes alle Zeit immer knapp bemessen ist. Dass wir um dieses Ende wissen, nicht aber seinen Zeitpunkt, das macht das Problem der knappen Zeit zu einer Terminfrage. Alles Paktieren mit dem Teufel kreiste stets auch um den Termin des Ablaufs der Kontrakte, dem Zeitpunkt, zu dem der Preis fällig wurde. Schon der Lauf des Lebens selbst ist im Kleinen wie im Großen immer von Endpunkten geprägt, von der ständigen Frage: Wie viel Zeit bleibt mir noch? – bis ich zur Schule gehen muss, bis ich Geld verdienen muss, bis ich einen Lebensgefährten gefunden haben sollte, in der ich noch Kinder bekommen kann, um noch mein Werk zu vollenden, um noch etwas von der Welt zu sehen, um noch körperlich rüstig zu sein, um noch geistig beisammen zu sein (H. Weinrich, 2005).

■ Aus dem gestalttherapeutischen Modell der Kontaktwelle lässt sich lernen, dass es am Höhepunkt jedes Kontaktprozesses, wenn die Energie am größten ist, um das Loslassen aller absichtsvollen Ich-Funktionen des Selbst geht (vgl. vom Verf., 2004, Schaubild 1, auf der Innenseite des vorderen Umschlags). Geschieht das nicht, versucht man auch hier, die Kontrolle zu behalten, statt sich dem Fluss des Lebens hinzugeben. Dann kann es nicht zu einem sättigenden, erfüllenden Kontaktprozess kommen und es bleiben wichtige Bedürfnisse ganz oder teilweise unbefriedigt. Anders gesagt: Es kommt zu einem narzisstischen Prozess, in dem der Mensch sich in den Spiegelungen seiner selbst verfängt (vgl. Dreitzel 2004, Schaubild 15 und die Kommentare dazu).

Es lohnt sich, dieses Bild einer Welle auf die ganze Biografie eines einzelnen Menschen zu übertragen. Dann zeigt sich, dass es – beginnend mit dem energetischen Höhepunkt des Lebens im Alter von 45 bis 55 Jahren – darauf ankommt, vieles an Besitz, an Plänen, und an bisher gehegten Vorstellungen, Einstellungen und Gewohnheiten aufzugeben und sich dem Leben auf neue Weise anzuvertrauen und hinzugeben. Dass der Tiefpunkt an Lebenszufriedenheit heute in genau diese Lebenszeit fällt, hängt vielleicht damit zusammen, dass viele Menschen, die bis dahin mit den Normen und Zwängen der Leistungsgesellschaft zurechtkommen mussten, sich mit diesem Loslassen sehr schwer tun. Jedenfalls habe ich das in der therapeutischen Arbeit mit Menschen in dieser Lebensphase oft beobachtet und miterlebt.

Der Buddhismus lehrt uns, dass viel Unglück im Leben daraus entsteht, dass wir an Menschen, an Dingen, an Gewohnheiten und an Vorstellungen anhaften; dass wir uns von ihnen nicht lösen können, weil wir glauben, die Abenteuer des Lebens nur mit dieser persönlichen Beziehung oder mit dieser Ausrüstung bestehen zu können. Gewiss, nur wenige Menschen werden dann zu echten »Messies« (der englische Fachausdruck für diese Störung ist »compulsive hoarding syndrom«), die ihre Wohnungen mit angesammeltem Zeugs vollstopfen, bis sie sich nicht mehr in ihnen bewegen können. Schon sehr viel mehr Menschen aber haben zu viel unnötigen Besitz angehäuft, von dem sie sich nicht trennen können, und merken es erst, wenn die Umstände sie zwingen, ihre Wohnung zu wechseln. »Überhäufter Besitz besitzt den Besitzenden«, heißt es schon lakonisch im Tao Te King (Laotse, 2002). Aber am meisten ersticken Menschen sich selbst, weil sie sich nicht lösen können von zur emotionalen Gewohnheit gewordenen Bindungen, von eingefleischten Routinen und von Vorstellungen, die längst zu Vorurteilen geronnen sind.

Immer im Leben kommt es darauf an, mit leichtem Gepäck zu reisen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

■ Dazu gehört last not least auch die Vorstellung von dem, was wir selbst sind, unsere Idee von unserer Selbst-Identität. Eine der bemerkenswertesten Lehren der Gestalttherapie enthält deren Begriff des Selbst als »Kontaktgrenze in Bewegung« (PHG 2006, Teil III Theorie des Selbst, vgl. auch M. Mehrgardt & E. M. Mehrgardt, 2001). Hier gibt es keine feste Identität, kein Ich als eine psychische Instanz und nicht einmal den Gedanken einer stabilen Persönlichkeit. Stattdessen wird das Selbst als der Inbegriff dessen verstanden, was wir in unseren jeweiligen Gegenwarten im unablässigen Kontakt mit der Umwelt jeweils erleben und erfahren. Alles fließt, sogar unser Selbst. Wir sind nicht das, was wir in unserer Vergangenheit waren, sogar dann nicht, wenn wir für diese Vergangenheit Verantwortung übernehmen. Stattdessen erfinden wir uns ständig neu, indem wir neue Erfahrungen machen, Neues dazu lernen und uns mit neuen Menschen und neuen Ideen identifizieren – und indem wir dann uns selbst und anderen unsere Geschichte neu erzählen. Wir sind ein Bündel von Kompetenzen und Selbst-Erzählungen, die nur zur Anwendung kommen, wenn sie gebraucht werden – wir sind frei!

Der psychisch gesunde Mensch hat nur wenig Charakter, wenn wir Charakter als die Summe unserer festgelegten Haltungen verstehen. Vielmehr besteht unser Charakter nur aus denjenigen Sedimenten früherer Erfahrungen, die wir nicht mehr aufzurühren wagen, und aus früheren »Introjekten«, die uns daran hindern, dem Leben offen gegenüber zu treten. Auch die Gehirnforschung bestätigt inzwischen: das Ich ist eine Illusion. Und »das Selbst ist kein Ding, sondern ein Vorgang« (so T. Metzinger, 2010). Michael Gazzaniga, ein anderer führender Gehirnforscher, kommt in seinem Buch »Die Ich-Illusion« (M. Gazzaniga, 2011) zu dem Schluss, »dass Hirnaktivität nicht irgendwo im Hirn stattfindet, sondern im Raum zwischen miteinander wechselwirkenden Gehirnen« (zitiert nach U. Babel und U. Schnabel, 2012). Dass entspricht der konstruktivistischen Grundthese der Gestalttherapie, nach der wir unsere Wirklichkeit im intersubjektiven Kontakt miteinander konstituieren (vgl. zu diesem Themenkomplex auch Teil III, 4).

Lassen wir also unser Leben fließen und vertrauen wir auf die Gaben unserer Umwelt sowie auf unsere eigenen Ressourcen.

Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust

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