Читать книгу Das Geheimnis der Pandemie - Hans-Peter Grünebach - Страница 8
2. KAPITEL
ОглавлениеSie waren weder im Auftrag seiner Majestät noch als Kuriere des Zaren unterwegs, aber auch die »Cozy Bear« arbeiteten für einen Geheimdienst. Im Gegensatz zum smarten James Bond mit der Lizenz zum Töten gab sich der nur mittelgroße Andrej Yelnikow in seinem Jeansanzug, dunkelblonder Mähne und Nickelbrille unauffällig. Während Sean Connery schöne Frauen reihenweise en passant flach legte, blieb Andrej für das andere Geschlecht völlig unscheinbar. Außerdem liebte er Wladimir.
Sein Arbeitskollege war wie er ein »Cozy Bear«, Angehöriger der Hackergruppe im Militärgeheimdienst GRU und Koordinator für ihre technische Ausstattung. Seine subversiven und propagandistischen Einsatzgebiete waren Großbritannien und die skandinavischen Länder.
Wladimirs Arbeitszimmer hatte eine Sichtverbindung, eine Art Durchreiche zu Andrejs und eine Verbindungstür zu Igor Rominow.
Igor war der Chef ihrer Sektion. Er war zuständig für den deutschsprachigen Raum. Er entwarf oder prüfte alle deutsch- und englischsprachigen Texte für subversive Operationen im Netz. Seit einiger Zeit trug Igor seine schlechte Laune offen zur Schau, weshalb die Verbindungstür besser zu blieb. Igor war mit Nadja verlobt gewesen. Dann hatte sie ihn vor einiger Zeit wegen eines GRU-Generals verlassen. Inzwischen war sie mit Boris Semanov sogar verheiratet. Das hatte Igor nicht verschmerzt. Andrej machte sich Sorgen, dass Igor auf Rache hoffte und eines Tages durch eine unbedachte Handlung ihr freundschaftliches Arbeitsverhältnis in Gefahr bringen könnte. Der neue Mann an Nadjas Seite war nicht nur General, sondern immerhin der Leiter ihrer Sabotageabteilung, ein mächtiger Mann innerhalb und außerhalb des GRU. Zu seiner Abteilung gehörten zwielichtige Gestalten und auch das Biolabor des Oberst Dr. Sergej Yenchow, Chemiker und Mikrobiologe. Yenchow sagte man nach, er würde auch mit dem Nervengift Novitschok experimentieren und es dem FSB für Anschläge auf Abtrünnige und entgleiste Regimekritiker zur Verfügung stellen. Vor diesen Leuten mussten sich auch die »Cozy Bear« in Acht nehmen.
Die Hackergruppe wurde gepflegt und gehätschelt vom Abteilungsleiter Zersetzung, mit dem General Semanov schon aus Gründen der Expertise auf Zusammenarbeit angewiesen war. Das war ihr Chef, General Leonid Kulikow. Er war ein wegen seiner Erfahrung noch jenseits des Pensionsalters im Dienst gehaltener, umsichtiger und kollegialer Menschenführer. General Kulikow, dem sie alle mit Hochachtung gegenübertraten, soll schon mit dem Präsidenten der Föderation in der DDR zusammengearbeitet und mit ihm geboxt haben, sagte man.
Andrej hatte die Spur des ehemaligen russischen Geheimdienstmanns Sergei Tretkow aufgenommen, der im Jahr 2002 in die Vereinigten Staaten übergelaufen war. Er kannte Tretkow nicht persönlich. Sergej Tretkow hatte vor seiner Zeit für den eigenen Auslandsgeheimdienst gearbeitet, war durch die Amerikaner umgedreht worden und hatte sich kurz vor Entdeckung abgesetzt. Von den vielen Spitzenagenten des eigenen Auslandsgeheimdienstes wagten nur wenige den Verrat, denn die Jagd auf die Vaterlandsverräter hörte niemals auf. Trotzdem hatte sich Tretkow lange vor der geballten russischen Aufklärung versteckt halten können. Nun hatte er überraschenderweise einem Wochenmagazin unter seinem Klarnamen ein Interview gegeben. Die Amerikaner wiegten ihn offensichtlich in Sicherheit, machten ihn glauben, dass Russland kein Interesse mehr an ihm hätte. Da aber irrten sie. Das Interview führte Kurt Lately, ein dem GRU bekannter US-Journalist, der auf Agentenstories spezialisiert war; die erhöhten die Auflagezahlen der Zeitungen und Magazine. Tretkow plauderte aus dem Nähkästchen, kurz: Er palaverte über alte Kamellen. Er gab Beispiele für angebliches geheimdienstliches Handeln zum Besten, das meist schon Geschichte war. So würde er einen Agenten in eine Abteilung der New Yorker Bibliothek einschleusen, der über den dortigen Internetzugang, ohne seine Identität zu hinterlassen, Propaganda im Netz verteilen sollte. Dazu brauchte man nicht mehr in die USA reisen. Gähn. Die »Cozy Bear«-Hacker wussten es besser.
Andrej hatte beim Lesen inzwischen eine mitleidige Mine aufgesetzt.
»Welche Inhalte, Wege, Adressaten, wollen Sie wissen?«, hatte Tretkow den Journalisten rhetorisch gefragt.
»Die von Moskauer Geheimdienstexperten gut recherchierten wissenschaftlichen Berichte und Unterrichtsmaterialen, nur in Nuancen verändert, erreichten US-Publikationen auf dem E-Mail-Weg, sowie ausgewählte Radio- und TV-Sender, oder sie wurden auf ausgewählten Webseiten gepostet. Moskaus Influencing-Kampagnen dienen der Verunsicherung der Bevölkerung anderer Länder und sollen mit dem System nicht konforme Zielgruppen, im In- und Ausland destabilisieren. Maßgeschneiderte Angriffe mit gezielten Infektionen der internen elektronischen Datenverarbeitung von internationalen Organisationen, Parlamenten, Regierungen, Großunternehmen, wurden und werden von Moskau zum Spionieren und auch zum Sabotieren eingesetzt.«
Na, gut, da hat sich seit Tretkows Tagen nicht viel geändert. Andrej wusste natürlich, dass das britische National Cyber Security Center und auch andere Cyberagenturen versucht hatten, die Richtigkeit von Sergei Tretkows Aussagen zu belegen. Hier, wie bei den meisten Fällen aus der Vergangenheit, war es aber bei dem Verdacht, dass die Moskauer Nachrichtendienste dahintersteckten, geblieben. Das russische Außenministerium hatte die Vorwürfe dazu routinemäßig als haltlos zurückgewiesen. Das war, wie in der Vergangenheit auch, bei vermuteten Kriegsverbrechen der USA, im Irak oder in Afghanistan, gängige Praxis auf dem diplomatischen Parkett. Nach kurzer Zeit war der Vorfall in der öffentlichen Wahrnehmung sowieso vergessen.
Kurt Lately hatte das Interview nicht gelenkt, wie er sollte. Er war gar nicht zu Wort gekommen.
Tretkow hatte seinen Zuhörern und Latelys Lesern weitere Einblicke in die Strukturen russischer Agententätigkeit gegeben, zwar veraltet, aber doch ein klarer, nicht hinnehmbarer Verrat: »Die Enkel von Moskaus früherer KGB-Abteilung 16, an die sich Drehbuchautoren von Agentenfilmen sicher noch erinnern werden«, hatte er ausgeplaudert, »sitzen heute beim Inlandsgeheimdienst und beim Militärnachrichtendienst GRU. Gebündelt arbeiten junge Computerfreaks der Hackergruppe APT-29 für den Kreml, mit Privilegien ausgestattet. Eure Leute nennen sie ‚Cozy Bear‘.«
Hoppla, das betraf Andrej selbst und seine Hackergruppe. Diese Interna waren zwar noch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen, aber die amerikanischen Dienste wie CIA und NSA kannten sie natürlich, und das schon lange vor Sergei Tretkows Kamingespräch. Das Kampagnenziel des Interviews war also die öffentliche Meinung. Es ging also einmal mehr um Propaganda gegen Mütterchen Russland. Tretkow und nicht Lately hatte das Interview beendet. Was für ein arroganter Typ, dieser Sergej Tretkow, dachte Andrej. Und sagte laut vor sich hin: »Wir kriegen dich. Auch wenn du wahrscheinlich wieder abtauchen wirst, vielleicht mit einer neuen Identität, aber wir finden dich trotzdem.«
Andrej hatte erwartet, dass Lately noch mehr von Tretkow erfahren wollte. Zum Beispiel, ob Russland eine Offensive in Richtung baltischer Staaten plante. Dort lebten, wie im Westen bekannt, starke russische Minderheiten. Diesen fühlte sich russische Politik verpflichtet. Das sollte der Westen endlich verstehen. Oder, ob Russland bereit wäre, über seine Nuklearwaffenarsenale zu verhandeln. Da treiben die Amis die Rüstungsspirale an. Und wo chemische und Biowaffen gelagert wären. Aber auch da hätte Tretkow nur spekulieren können.
Tretkow war nach diesem Interview für offizielle Anfragen von Journalisten nicht mehr zu erreichen. Er hatte eine tatsächlich neue Identität angenommen.
Das werde ihn nicht schützen, meinte man bei den »Cozy Bear«. Und genau damit begann Andrejs Job. Er loggte sich erfolgreich in das Netzwerk des Magazins ein. In einer E-Mail entdeckte er den Namen desjenigen, der das Interview vermittelt hatte. Er ließ ein Suchprogramm durch sämtliche verschlüsselte Bibliotheken von GRU, FSB und Auslandsgeheimdienst laufen und wurde nach ein paar Stunden fündig. Es war ein CIA-Mitarbeiter. Nun wurde die Operation »Tretkow« eingeleitet. Über ein unvorsichtiges Telefonat des CIA-Agenten stießen sie auf die neue Tretkow-Identität. Der Rest war Formsache. Den neuen Aufenthaltsort erfuhren sie aus dem quasi-öffentlichen Register des betroffenen Einwohnermeldeamts.
Andrej hatte sein Tagwerk erledigt. Die Akte »Tretkow« ging an die Abteilung Sabotage. Tretkow würde seiner Bestrafung nicht entgehen.
Ein halbes Jahr später würde Misses Coleman ihren Mieter, Filippo Miller, leblos auf dem Boden seines Wohnzimmers finden.
Misses Coleman würde aufgeregt den Notarzt rufen, der bedauernd einen Herzstillstand nach Kreislaufversagen feststellt und den Totenschein unterschreibt.
Der verstorbene Mieter wird wie üblich durch einen Bestatter abgeholt werden. Für eventuelle auftauchende Kondolenzbesuche wird er zwei Tage aufgebahrt bleiben. Der Cousin, der ihn noch einen Tag vor seinem Tod besucht hat, wird nicht erscheinen. Man würde ihn auch nicht ausfindig machen können. Sein slawischer Akzent wird in Erinnerung bleiben und die kleine Box, die er mit sich getragen hatte.
Das Ordnungsamt von Kansas City wird die Habseligkeiten von Filippo Miller in die Hand eines Nachlassverwalters legen. Weil sich nach einer Frist niemand mit Erbanspruch melden wird, würde Filippo Miller endgültig eingeäschert. Akte geschlossen.
»Gute Arbeit, mein Junge«, lobte ihn General Kulikow bei der üblichen Morgenbesprechung, in der die Aufgaben des Tages verteilt wurden.
Andrej errötete und hoffte, dass die anderen Cosy Bear seine Verlegenheit nicht bemerkten.
Kulikow ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen sagte er in die Runde seiner Jungs: »Das Lob kommt von ganz oben. Das ist wichtig für unsere Abteilung, weil es im Apparat immer noch viele Betonköpfe gibt, die den Wert von Computerspionage nicht sehen wollen. Ihr wisst schon: Wenn es nicht wehtut, hat es auch keinen Nutzen. Die alte KGB-Schule.«
»Aber Tretkow wird es verdammt wehtun«, sagte Wladimir trocken und der Rest der Cosy Bear lachte. »Wer auf ein Pferd steigt, kann auch runterfallen«, sagte Igor ein bisschen geheimnisvoll, woraufhin Kulikow ihn warnend ansah. »Das ist nicht mehr unsere Baustelle«, sagte er, »denn von Pferden verstehen wir nichts, oder?«
Dann erhob er sich, und die morgendliche Runde war beendet. Und obwohl Andrej durchaus wusste, was mit Tretkow passieren würde, hatte er kein schlechtes Gewissen. Seine Arbeit hatte eben Konsequenzen. Punkt. Wichtig war nur, dass es nichts Persönliches geben durfte. Nicht so wie bei Igor.
Doch manchmal passiert es, dass der Konjunktiv der geheimdienstlichen Planung Kontakt mit der Realität bekommt. Dann halten alle Cozy Bears die Luft an.
Eine Woche nach dem Begräbnis meldete sich ein Beauftragter einer staatlichen Stelle mit einem Team von Spurensuchern. Man sagte der Vermieterin, es könne sein, dass ihr Mieter vergiftet worden ist. Aber sie fanden nichts.
Sie wurde gefragt, ob sie etwas angerührt hatte: »Nein!«, hatte sie wahrheitsgemäß gesagt.
Der Raum wurde trotzdem für vier Wochen versiegelt, ohne dass man ihr einen plausiblen Grund verriet.
Dann wurde der Nachlass abgeholt, und sie konnte das Zimmer zur Neuvermietung ausschreiben.
Ihr blieb zur Erinnerung an Filippo Miller nur ein Bild, welches er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte.
Es war das Foto eines lachenden jungen Mannes, vor dem Kreml auf dem Roten Platz in Moskau aufgenommen.
Mister Miller war so von ihrer Literaturbildung begeistert gewesen, dass er ihr das einzige Jugendfoto von sich, wie er erwähnte, schenkte. Noch nie hätte jemand gewusst, sagte er, dass sein Name auch das Pseudonym des deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe während seiner italienischen Reise war.
Als Misses Coleman das Bild jetzt noch einmal näher betrachtete, entdeckte sie, dass auf der Rückseite ein wegradierter Schriftzug seinen Eindruck auf dem Fotopapier hinterlassen hatte.
Sie fabrizierte mit Bleistift und Spitzer etwas Grafit und rieb die Späne in die feine Gravur, bis sie einen Namen lesen konnte: »Sergej Tretkow«.
Misses Coleman erinnerte sich an das Interview mit einem russischen Geheimdienstmann dieses Namens. Sie fand den Artikel in den geordneten Zeitungsstapeln in ihrem Keller. Dann suchte sie die Telefonnummer der Redaktion des Wochenmagazins und verlangte nach dem Redakteur Kurt Lately.
Lately reiste nach Kansas City, interviewte sie, den Arzt, den Bestatter, den Richter, den Bürgermeister. Ein Fotograf schoss überall Fotos.
So kam ans Tageslicht, dass der mächtigste Staat der Welt, die USA, nicht in der Lage gewesen war, den russischen Geheimdienstaussteiger Sergej Tretkow vor seinen Verfolgern zu schützen. Im Gegenteil. Kurt Lately entschuldigte sich in seinem Nachruf bei der Familie Tretkow, die freigekauft werden sollte, dass sein Magazin den Aussteiger sogar den Jägern präsentiert hatte, auf eine CIA-lancierte Pressemeldung hin.
Erst nach Tretkows Tod hatte Kurt Lately begriffen, dass er selbst mit großer Wahrscheinlichkeit Opfer einer CIA-Kampagne geworden war. Amerikanische Dienste hatten wahrscheinlich getestet, glaubte Lately, wie weit die Russische Föderation mit Cyberkriegsmitteln gehen würde, um Dissidenten und Verräter aufzuspüren.