Читать книгу Die Zwei und ihr Gestirn - Hans Sterneder - Страница 5

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Es mochte eine Stunde später sein, dicht vor Mitternacht.

Das Schloss lag in der wohltätigen Ruhe des Schlafes, schweigsam umschlossen von der Finsternis der geheimnisvollsten Nacht des Jahres.

Plötzlich blitzt in einem Fenster Licht auf. Es ist, als habe das Schloss ein Auge aufgetan und blicke in die Dunkelheit. Nach einer Weile schließt es sich wieder. Doch bald darauf schlägt es ein anderes auf, und dies scheint scharf in die Finsternis zu spähen, denn sein Glanz nimmt ständig zu, bis es in strahlender Helle weit in die Nacht leuchtet.

Clarence hatte keine Ruhe finden können. Es war eine Erregung in ihm, die ihn nicht schlafen ließ. Die Worte des Onkels beim Weihnachtsbaum hatten ihn mit einer wundersamen Macht erfüllt; hohe, beseligende Gefühle zogen unklar, aber in namenloser Beglückung durch seine Brust. Er war ganz von dem Vorsatze erfasst, Christus in sich zu gebären. Onkel Tom trug dies klare Licht sieghaft in sich! Er will werden, wie Thomas Doo ist.

Dazu war tiefe Freude in ihm. Die Leiden des Heimwehs waren gestillt und so wunderbar und weich von ihm gefallen, wie in lauen Hochsommernächten sich die Sternschnuppen von den glänzenden Gestirnen lösen und zauberhaft in der schweigenden Tiefe des samtblauen Himmels vergehen. An ihrer statt tanzte und sang seliges Heimatglück durch sein Herz.

Daheim, daheim! Wieder vereint mit allem, was seine Seele ausmachte – und Weihnacht dazu!

Er hatte es nicht mehr im Bette ausgehalten. Nein, diese Nacht mochten andere verschlafen! Leise war er aufgestanden und behutsam mit seinem Licht über den langen Korridor und die Treppen hinab in den Musiksaal geschlichen, wo der stattliche Baum im Geflimmer seines reichen Schmucks stand. Benommen von dem würzigen Harzduft zog er lange mit tiefen Atemzügen den köstlichen Lebensodem des Wald­riesen in sich. Beinah scheu trat er dann an ihn heran und entzündete in großer Feierlichkeit Kerze um Kerze, bis die ganze Tanne im vollen Glanze ihrer Lichter strahlte.

Und nun liegt er seit geraumer Zeit regungslos auf dem weichen Fell eines Nordlandbären, hat die Zeit und sich vergessen.

Langsam brennt Kerze um Kerze nieder, doch je mehr der Lichtglanz erlischt, desto schöner wird der Baum. Eine seltsam geheimnisvolle Lebendigkeit kommt in ihn. Nun brennen nur mehr ein paar Lichtlein nahe dem Boden tief im Geäst drinnen. Immer riesenhafter wächst der Baum aus dem Dunkel des dämmerigen Saales, über dessen Decke unheimliche Nachtvögel mit weitgebreiteten, pechschwarzen Schwingen zu fliegen scheinen.

Das magische Glühen schließt den Riesen zu einem dunk­len Wesen zusammen, in dessen Innern die rätselhaften Zentren seines Lebens zucken und pulsen.

Immer trunkener werden Augen und Herz des Jungen. Seine leicht entzündliche, traumhafte Seele ist gänzlich gelöst und schwingt und kreist mit im Rhythmus des Baumes. Er fühlt es bewusst, dass sein wirkliches Sein gar nicht mehr in ihm ist. In körperentbundener Schau erlebt sein höheres Ich die Weihnachtstanne und sich selbst.

Nun kämpfen die letzten Flämmchen um ihr Leben. Unruhig flackern sie auf mit wehenden, langen Fahnen, sinken jäh zusammen, ersterben in fahlem, bläulich-weißem Licht. Doch diese Ruhe ist wie der letzte Schlaf eines Menschen vor dem großen Heimgang; wie ein letztes Kräftesammeln und Sichbesinnen der Seele. Und wie der Sterbende erwachsen sie noch einmal jäh in überraschender Kraft und Stärke, steilen hoch auf und brennen in ruhiger, beinah überirdischer Klarheit. Kein Ungestüm des Lebens, keine hastende Unruhe ist mehr in ihnen; sie stehen in der regungslosen Feierlichkeit ihres großen Wissens. Und lautlos, ohne das leiseste Aufheben, sinken sie jäh zusammen und sind nicht mehr.

Ganz finster ist es im Saale.

Schwarz steht der Baum vor ihm, in der feierlichen Gewalt seiner Ruhe.

Ein einziges Licht nur brennt noch tief in seinem Innern: das Herz des Weihnachtsbaumes! Und plötzlich wird es Clarence klar, dass der Baum noch nie so schön war, auch nicht in der prangenden Fülle seiner Lichter, wie jetzt, wo nur sein Herz allein leuchtet, erhaben und groß. Einzelne seiner Äste liegen schon im Frieden der Nacht, um das Herz aber flimmert es wie ein überirdischer Kranz von Licht, in dem alles in wunderbarer Klarheit atmet, zittert und lebt.

Von diesem Herzen erleuchtet, erglüht eine rote Glaskugel wie der blutgefüllte Kelch des Grals voll verzaubernder Kraft in den Wellen eines weichen, goldhellen Lichtes.

Und nun hat sie das ganze Wesen des Knaben gefangen und seine Seele vollends in sich gezogen. Je mehr dieselbe aus seinem Körper tritt und sich in der glutroten Kugel sammelt, umso mehr wird sie von jenem Trancezustand übersinnlicher Feinfühligkeit durchdrungen, der ihm von Kind an eigen gewesen und den man stets für krankhafte Verträumtheit gehalten.

Weit geöffnet sind die Augen des Entrückten.

Und nun ist sie mit einem Schlage wieder um ihn – diese andere Welt!

Ihm vollkommen unbewusst, hat seine Seele wieder die große Schranke des Menschseins überschritten und ist in das geheimnisvolle Reich getreten, das aus den Strahlenfäden der Sterne gewoben scheint, und so zart ist wie kein Blumenkelch auf Erden und so lautlos zu verschwinden vermag wie das Licht der Mondsichel, das im Frührot des aufziehenden Morgens verblasst.

Verzückung durchwogt die Brust des Knaben. Verklärt schaut er auf die wundersamen, lieblichen Wesen, die mit den ersten Gedanken aus dem großen Traumdunkel seiner Mensch­werdung herübergewandert zu sein schienen und die lautlosen Gespielen seines Lebensmorgens waren, lange ehe er mit hilflos stammelndem Wort den Menschen von ihnen hatte erzählen können.

Und es ist der erste tiefe Schatten seines Lebens gewesen, als ihm bewusst geworden, dass die anderen seine Spielgefährten nicht zu sehen vermochten.

Diese Gestalten aber schienen dauernd um ihn zu sein, und, wenn er sie auch später nicht mehr ständig sah, so fühlte er sie doch, besonders, wenn er ganz allein war und seine Seele sich so recht in sich selbst zurückziehen konnte oder sich in die Schönheit der Gotteswelt hineinträumte.

Doch die unbefangene Glückseligkeit seines Kindheitsparadieses sollte ihm jäh vergiftet werden.

Unheilbar ist die schwere Wunde, die der Vater seiner Seele geschlagen, als er ihm gegen das Ende seines siebenten Lebensjahres streng verboten, von diesen unwahren Dingen zu reden, die nicht mehr zu seinem Alter passten und ihn in die Gefahr der Lügenhaftigkeit brächten. Wie von Fausthieben getroffen, war er vor dem Vater gestanden, doch so sehr er sich auch bemüht, ihm klarzumachen, dass diese Wesen keine Ausgeburten seiner Phantasie seien – der Vater hatte ihn nicht verstanden und schroff abgewiesen.

Seit jener Stunde kam sich Clarence trotz der zärtlichen Liebe, welche alle für ihn hegten, wie ausgestoßen vor und verkroch sich mit seiner geheimnisvollen Welt tief in sich.

So war es gekommen, dass der ohnehin weit über seine Jahre hinaus ernste, ja beinahe schwerlebige Knabe immer in sich gekehrter wurde. Und es war einzig nur dem wohltätigen Einflusse Sir Thomas Doos zu verdanken, der mit feinem, verständigem Sinn die innere Starre immer wieder lockerte und aus ihr die Freude für die erhabene Schönheit der Natur zu wecken verstand, dass Clarence nicht schwermütig wurde.

In dieser Zeit begann er seine Spielkameradin, die kleine Isabel, des Gärtners vierjähriges Kind, vorsichtig auszufragen und ihr in den sorgfältig gewählten Verstecken im Park von Wichteln, Gnomen und Elfen zu erzählen. Wohl legte sich warmes Rot auf ihre Wangen, aber nur zu bald musste er zu seiner bitteren Enttäuschung merken, dass auch die hellen Augen des kleinen, zarten Mädchens seine Lichtkinder nicht sahen.

Diese Erkenntnis bedrückte ihn sehr, denn er hatte sich mit all seiner Hoffnung an den Gedanken geklammert, dass diese heimliche Welt, wenn sie schon den Großen sich verschlösse, doch umso sicherer das Gut aller Kinder sei. Er grübelte oft stundenlang, ob es dann überhaupt möglich sei, dass eine Welt, die allen verschlossen schien, einzig nur ihm geöffnet sein könne.

Immer wieder aber kamen Zeiten, wo diese Wesen mit solcher Klarheit und Wirklichkeit vor ihn traten, dass alle Zweifel verblassen mussten. Aber der Zweifel ist ein quälendes Gespenst, das sich hartnäckig in der Brust jedes Menschen verklammert, die es einmal geboren hat!

So war es begreiflich, dass er später, als er auf der Schule zu Glasgow einige Vertraute gewonnen, erneut aufs Vorsichtigste diese Frage zu berühren begann. Und seine innere Angst steigerte sich geradezu zur Verzweiflung, als er erfahren musste, dass es sich mit ihnen nicht anders verhielt als mit der kleinen Isabel. Sie waren felsenfest überzeugt, dass es diese Dinge nicht gäbe und sie nur Märchen seien.

Clarence hatte in dem Institut einen einzigen Freund, dem er mit der ganzen Hingabe seiner Seele zugetan war, Edgar Clifford, der Sohn des Grafen von Clifford, dessen Güter an jene seines Vaters grenzten, und der ihm schon dadurch als ein Stück seiner geliebten Heimat nahe war. Ihm vertraute Clarence vor ungefähr Halbjahresfrist das große Rätsel seines Lebens an, als ihn eines Tages die dunkle Angst besonders peinigte.

Edgar, der seinen Freund von den düsteren Schatten dieser schwankenden Ungewissheit befreien wollte, hatte in kluger Weise in einer der folgenden Unterrichtsstunden an den alten Professor der Naturgeschichte die Frage gestellt, welches Bewenden es mit den Märchengestalten der Natur habe, worauf er ihnen ausführlich erklärte, dass die Wissenschaft solche Wesen weder kenne noch je irgendwo in den Erdschichten gefunden habe und es sich hier einzig und allein um Gebilde der Phantasie handle, mit denen die jungwüchsige Menschheit der Frühzeit die Natur bevölkert und symbolisiert habe.

Doch so wohlgemeint die Absicht Edgar Cliffords gewesen, sie erreichte gerade das Gegenteil.

Clarences Stimmung schlug jäh in dumpfen Trübsinn um, so dass der Rektor und die Professoren ernstlich um ihn besorgt wurden. Mühsam beherrschte er sich zwar in Gegenwart der Menschen, doch sowie er allein war, schlug brennende Verzweiflung durch seine Seele.

Ursache dieses gefährlichen Gemütszustandes war, dass er auf Grund der vielen absprechenden Meinungen in den schrecklichen Gedanken hineingetrieben wurde, sein Gehirn sei krank.

Und die Spukgestalten kamen nach wie vor, waren da, huschten und schwebten; doch wie zum Hohn, wie zur Pein, verschwanden, zergingen sie jedes Mal vor seinen greifenden Augen wie Nebelphantome, sobald er sich anstrengte, sie mit der scharfen Zange seines Verstandes zu erfassen und zu betrachten. Wie er sich aber, was immer seltener geschah, in einem Augenblick befreiten Hinsinnens befand, waren sie sogleich um ihn.

Der verzweiflungsvolle, heimliche Kampf um die Wahrheit dieser Erscheinungen und die sich immer mehr zur Lebensschwermut steigernde Angst vor einer furchtbaren, inneren Krankheit fraßen derart an seiner Kraft, dass der Junge schließlich nur mehr mit Aufbietung seines ganzen Willens den Anforderungen der Schule nachkommen konnte.

So bedurfte es nur eines kleinen Umstandes anlässlich eines Schlittenvergnügens, um seinen ohnehin mehr wie zarten und geschwächten Körper so zu erkälten, dass ihn schweres Fieber überfiel und viele Tage lang ans Bett fesselte. Jede freie Minute war Edgar Clifford am Lager seines Freundes.

Der Arzt hatte einen bedenklichen Schatten in der linken Lunge festgestellt und von dem herbeigerufenen Vater sofortige Herausnahme des Knaben aus der Schule verlangt und ihm dringend nahegelegt, mit dem Kranken auf ein Jahr nach dem Süden zu gehen.

Das war vier Wochen vor Weihnachten gewesen.

Und nun liegt er tief in der Nacht vor dem Christbaum und ist ganz eingesponnen in die andere Welt, die sich so unirdisch vor ihm bewegt wie der Schatten einer über die Erde ziehenden Wolke.

Plötzlich erlischt das Licht. Nachtdunkel ist es im Saal.

Durch diesen starken Wechsel des Sinneneindrucks erwacht Clarence aus seiner Versunkenheit.

Doch das Glück ist so groß, dass es ihn nicht überrascht, die seltsamen Wesen noch immer um den großen Waldbaum spielen zu sehen. Allmählich aber befreit sich der von den weichen Netzen des Gemütes gefesselte Verstand ganz aus dessen Banden, und im selben Maße wechselt die Stimmung. Befremdet erst, dann beklommen, ängstlich, erregt starrt Clarence auf diese lieblichen Geschöpfe, die für ihn von Minute zu Minute furchtbarer werden.

Und plötzlich hat sie ihn wieder erfasst, die Todesnot seiner Seele!

Mit aller Kraft bohrt er seinen Blick in diese Erscheinungen, bemüht er sich klarzuwerden, ob sie Wirklichkeit sind oder Fieberphantasien aufziehenden Wahnsinns.

Alles, was durch ihn zuckt, ist das Werk weniger Sekunden. Seine Pulse fliegen, sein Herz klopft, dass es ihm den Atem benimmt. Kalter Schweiß tritt auf seine Stirne.

Er prüft sich, vergegenwärtigt sich Ort und Stunde; fühlt, dass er wach und vollkommen bei Sinnen ist, bei erschre­cken­der Klarheit! ... Er sieht die Wesen, wie er seine Hand vor sich sieht, den Schmerz der eingegrabenen Nägel im Fleische spürt … Ja, sie sind! sind! und wenn sie die ganze Welt nicht schaut …

Er hat zu angestrengt in sich hineingespäht, um zu bemerken, dass die Erscheinungen schwächer geworden sind, schemenhaft blass wie zerfließender Morgennebel.

Mit der ganzen Macht der Verzweiflung will er neuerdings gegen sie vorstoßen.

Doch die eiskalte Welle seines Verstandes hat noch nicht sein Haupt verlassen – da verschwinden die unheimlichen Gebilde ganz.

Von Grauen geschüttelt, starrt der Junge vor sich ins Leere, Dunkle …

Nichts, … nichts! – –

Und sein Verstand ist doch hell, ebenso scharf und klar wie zuvor, als er die Wesen sah.

Sein Gehirn rast.

Wahrheit, Wahrheit! Was um des Himmels willen ist die Wahrheit!?

Mit der Wildheit der Todesnot stiert er vor sich, will er das Dunkel erhellen, die Gestalten entdecken, fangen und prüfen. Doch so verzweifelt er sich auch müht, die Dunkelheit bleibt so unbelebt, wie sie tonlos ist! ... Er kann ja auch nichts hören! Das Blut in ihm wallt, kocht, stürzt und tost!

Allmächtiger Gott! Ewiger großer Vater, hab Erbarmen mit mir! Verlass mich nicht, lass mich nicht untersinken in die Fluten des Wahnsinns! Es kann nicht sein, dass Du das willst, der Du gut bist gegen alle Geschöpfe! ...

Aber ich war zuvor wach! ... Ja, ich weiß es, dass ich tagwach war wie jetzt – und ich habe diese Wesen gesehen!

Und nun bin ich nicht minder wach, oh, eher viel mehr noch wach – und sehe sie nicht!

Wie soll denn jetzt sein, was zuvor nicht war! Sind es nicht Wellen, die aufsteigen und verschwinden, Schatten, die durch mein Gehirn ziehen, meine Vorstellung trüben! Und dieses Etwas in mir, dieses grauenhaft Unaussprechliche, das die Klarheit meines Ichs trübt: der Wahnsinn!

Wie von Fiebern gestoßen, schüttelt es den Körper des Jungen.

Beide Fäuste über die Augen gepresst, schreit er wild auf wie ein peinvoll gemartertes Tier, wirft sich auf die Erde, die Stirn immerzu auf den Boden schlagend, als könne er sich auf diese Art von dem entsetzlichen Dämon befreien, der sein Inneres verheert, fährt plötzlich empor wie von einem heftigen Schlage getroffen, irrlichtert verstört in frierender Angst nach allen Richtungen des Saales, springt gänzlich auf und schießt, wie von Furien verfolgt, dem Ausgang zu, stürzt die Treppen empor, atemlos, seiner kaum bewusst, rast über den langen Korridor in das Schlafzimmer des Vaters und liegt mit zuckendem Körper in seinen Armen.

Erst gegen Morgen weicht der Bann, vermag der Knabe, der seit Stunden bebend an der Brust des Viscounts geruht, mühselig zu stammeln, zu erklären.

So erfährt Sir John, was sein Kind durch Jahre heldenhaft in sich getragen und durchlitten hat.

Als die letzten Sterne der Heiligen Nacht über Schloss Abbodsford verblassen, verfällt Clarence in tiefen, bleischweren Schlaf.

Die Zwei und ihr Gestirn

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