Читать книгу Die Zwei und ihr Gestirn - Hans Sterneder - Страница 9

Оглавление

6

In regungsloser Feierlichkeit ragt der mächtige Kegel des Vesuv über dem Golfland von Neapel.

In gewaltiger Wucht thront er über den himmelblauen, schiffereichen Wassern. Auf seinem Haupte wurzelt eine riesenhafte Pinie aus Rauch, deren Schirm weit ins Golfland reicht; sie scheint uralt zu sein, wohl so alt wie der Berg, dessen Feuer sie schuf.

Berg, Land und Meer schweigen. Es ist früh am Morgen.

Da wird es am Rande der Stadt, gegen den Vesuv zu, lebendig.

Ein seltsames Geklapper, wie wenn Aberdutzende von Kindern mit Holzhämmern auf Bretter schlügen, erfüllt die Straße. Helle Schreie steigen immerzu aus dem eigentümlichen Lärm, jetzt laut und hoch wie Ruf, wie Anpreisung, dann wieder gedämpft wie zornige Mahnung.

Seit Menschengedenken weckt allmorgendlich das merkwürdige, rufdurchwobene Geklapper die Vorstadt.

Seit Menschengedenken kommt alle Morgen die große Ziegenherde diese Straße herunter; geführt von einem eben der Schule entwachsenen Jungen.

Immer war es so; keiner kennt es anders. Und so scheinen es auch immer dieselben Tiere zu sein. Nur der Ziegenhirte weiß, dass auch die Tiere wechseln, so wie die Jungen.

Dieser nun ist wie die andern alle – barhäuptig, barfüßig, den großen Brotsack an der Seite. Lustig zappelt und schlottert die viel zu weite Hose um seine hurtigen Beine; laut knallt seine Peitsche.

Sein Gesicht ist braun, so sonnenbraun wie eine frisch aus der Hülle gepellte Steineichel; sein Haar, pechschwarz und glänzend wie der Teer, mit dem sie im Hafen unten die Schiffe anstreichen, züngelt und ringelt sich in wirren Lo­cken um sein Gesicht.

Das Gesicht aber ist es, das ihn von allen anderen Ziegenjungen, überhaupt von allen Buben der Stadt unterscheidet!

So schön ist dieses Gesicht, dass die Fremden wie gebannt stehen bleiben und nimmer wegfinden, wenn sie dem Jungen begegnen. Doch so edel der schmale Kopf, so feingeschwungen die Augenbrauen und Lippen sind, und wie melodisch der Wohllaut seiner Sprache auch ist – das Schönste an diesem göttergeliebten Jungen sind die Augen. Groß, beinahe übergroß, schwarz und von einem Glanz, dass sie funkeln und sprühen wie exotische Edelsteine.

Diese Augen scheinen überall zu sein, scheinen alles zu sehen – sind ein einziger, nimmer endender Strahl seligster Lebenslust!

Und sie sagen die Wahrheit! Bei der Madonna! Er ist glück­lich, glücklich, wie der lapislazuliblaue Himmel nicht seliger sein kann, frisch und lebendig, wie das Meer, das an die Klippe schlägt und in dem sein Vater jede Nacht die Netze auswirft!

Ja, er ist noch keinen Tag seines Lebens traurig gewesen! – Warum denn auch! Warum soll er denn traurig sein! Und wofür soll denn Traurigkeit gut sein!? Dort ist der Vesuv, da drüben liegt das Meer; sind die schon jemals traurig gewesen? Er hat sie noch nie so gesehen – höchstens zornig! Und seine Augen blitzen.

Er muss immer so wie das Meer sein und wie der Himmel und manchmal auch wie der Feuerberg!

Ecco, so ist er! So ist der kleine Ziegenjunge, so ist Nazzaro Dotti!

Trampelnd klappert die Herde die gartenreiche Straße herunter; langsam, ganz langsam. Tut ein paar Schritte, ... bleibt stehen, ... tut wieder ein paar Schritte. Nazzaros Au­gen sind auf jedem Tier, gehen zu jedem Fenster; aus seinem Munde tönt immerzu der gleiche Ruf:

„Latte! ... latte fresco! Milch, frische Milch!“

Und in den Fenstern erscheinen Frauen, lassen an langen Schnüren kleine Körbe hinunter, rufen und winken, und Nazzaro nickt, holt Gefäße, hockt sich neben eine Ziege, den Kopf an die Weiche gepresst, das Geschirr zwischen den Beinen und melkt mit flinken, geschickten Händen die dampfwarme Milch hinein. Brummt manchmal, flucht, wenn die Ziege nicht ruhig stehen und sich von den andern verleiten lassen will, bringt den vollen Behälter wieder zum Korb, ruft seinen hellen Gruß hinauf, schimpft oder springt zwi­schendurch schnell zu einem naseweisen Tier, das eigen­brötlerische Gelüste hat, und melkt wieder weiter.

So zieht Nazzaro Dotti, der zwölfjährige Bub, das einzige Kind des Fischers Francesco Dotti, allmorgendlich die Straße herab.

Seit Tagen freut er sich auf diese Straße, auf diese schöne Villa im großen Park, und so oft er sich ihr nähert, späht sein scharfes Auge nach dem Gartenzaun.

Dort steht dann jedes Mal, halb im Gebüsch verborgen, ein fremder, vornehm gekleideter Junge in seinem Alter und schaut verstohlen heraus.

Nazzaro weiß, dass ihm nichts entgeht, dass er mit seinen großen, ein wenig verträumten Augen jedes Tier, besonders aber jede seiner Bewegungen, jeden seiner Laute in sich zieht; und das macht ihm Spaß.

Ecco! Da steht er wieder! ... Am großen Portal steht er heute! Nicht mehr hinter den Büschen? Nazzaro weiß nicht warum, aber er freut sich darüber hell! Laut tönt sein Ruf, scharf schnalzt seine Peitsche. Mit der ganzen Offenherzigkeit des Südländers sieht er den fremden Knaben an. Lacht, dass alle Zähne mit den Augen um die Wette blitzen, und grüßt.

Da legt sich auch auf das ernste, blasse Gesicht des Fremdlings ein leises Lächeln, freudig halb und halb noch scheu, und er nickt ihm zu.

Und während Nazzaro nun bei einer Ziege hockt und emsig in den Eimer melkt, öffnet der Knabe die Gartentür und tritt heraus.

Und steht nun dicht neben Nazzaro und streichelt mit zarten, schmalen Fingern das Tier.

Da hält der Junge im Melken inne, hebt den Kopf, und lustig sprudelt er: „Capra! Ziege!“

„Capra?“, wiederholt fragend der Knabe, nun seinerseits auf das Tier weisend.

„Si, si!“, überstürzt sich Nazzaro Dotti förmlich vor großer Freude; weniger darüber, verstanden worden zu sein, als mit dem vornehmen Knaben zu sprechen.

Und mit dem Zeigefinger mehrmals auf die Milch im Eimer weisend:

„Latte! Questo è latte!“

Der Fremde lacht schon freier: „Io capisco, latte! Ich verstehe! Das ist Milch!“

Nazzaro strahlt über das ganze Gesicht:

„Si, si! latte dolce!“ Legt die Hand auf den Bauch, reibt ihn und dreht dabei die Augen verzückt zum Himmel: „Buono! buonissimo!“

Und eine wartende Handbewegung machend, drückt er das züngelnde Gewirr seiner rabenschwarzen Locken neuerdings an die Flanke einer Ziege und arbeitet so wacker drauf los, dass der weiße Strahl aufspritzend große Schaumblasen wirft. Erhebt sich dann rasch, spuckt, sprudelt ein paar Worte, die der andere nicht versteht, springt zum Haus hinüber, das Gefäß zurück in den Korb stellend und mit einem anderen wiederkommend und eifrig auf die Herde zeigend: „Cinquanta pezzi! Fünfzig Stück!“

Da nur ein Kopfschütteln die Antwort ist, umfährt Nazzaro die ganze Herde und hebt fünfmal hintereinander seine Hände, die Finger weit gespreizt.

„O capisco! Cinquanta capre!“

Doch dort hinten will eine Ziege nimmer mit, wendet sich, steigt auf den Mauersockel des Parkzaunes und knabbert Laub durch die Eisenstäbe. Aber schon hat sie der scharfe Blick gefasst, gell tönt ein Pfiff aus seinem Munde, und weil sie nicht gleich hört, fliegt ein energischer Fluch hinterdrein. Da scheint sich das Tier zu besinnen, steigt verdrossen herunter und kommt mit gleichgültig gesenktem Kopf zur Herde zurück.

Und da nun Nazzaro das Gefühl hat, dass es der Einleitung genug ist und sich mit dem Jungen, trotz seiner Vornehmheit, gut reden lässt, stellt er an ihn die Frage: „Fores­tiero? Fremder?“

Der hebt die Hand zur Stirn und macht mit ihr die drehende Bewegung, die besagt, dass er nicht verstehe.

Nazzaro kommt ihm zu Hilfe: „Non da Napoli? Nicht aus Neapel?“

Der andere hebt den Kopf: „O capisco! Io –“

Doch bevor er sprechen kann, sprudelt es ihm schon wieder entgegen: „Tedesco!“

„No!“

„Inglese?“

„Si, si!“

Nazzaro Dotti strahlt!

„O, Inglese?“ Und sich ordentlich in die Brust werfend: „All right! O yes! Very well!“

Und sich mit einer Wichtigkeit an den jungen Engländer wendend, die drollig ist: „Do you speak English? O yes!“

Und der kleine neapolitanische Ziegenjunge denkt dabei in der Einfalt seines Herzens nicht im Geringsten daran, dass es sich bei einem Engländer wohl von selbst versteht, dass er englisch spricht; doch das ist ja alles auch vollkommen einerlei! Er will seinem neuen Bekannten ja nur zeigen, dass er seine Sprache „beherrscht“, und in heller Freude kauderwelscht er zusammenhanglos noch eine Menge Vokabeln und Ausdrücke herunter, bis der andere hellauf lachen muss.

Als Nazzaro Dotti aber dies helle, befreite Lachen hört, wird er vollends lebendig, tut einen übermütigen Luftsprung, beginnt mit seiner wohllautenden Stimme ein englisches Lied zu singen, wie er es von den Matrosen unten im Hafen gelernt hat, bricht jäh ab, und seine Hand um den Arm des andern legend, quillt es herzlich aus ihm: „Mi piaci! Ich kann dich gut leiden!“

Und der fremde Knabe versteht, was er sagen will, versteht es mehr an der innigen Wärme des Blickes als aus jenen Worten, und aus seinen frohen Augen spricht Dankbarkeit. Er nimmt die Hand des Ziegenjungen und drückt sie fest.

Und dieser herzlich, dabei auf sich zeigend: „Mi chiamo Nazzaro Dotti! ... Come ti chiami? Wie heißt du?“

„Ich heiße Clarence O’Neill!“

„Clar – ?“

„Clarence!“

„O che difficile! Wie ist das schwierig!“

Aus dem obersten Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses gellt ein Frauenruf. Nazzaro macht einen Ruck, bewegt wieder die Hand gegen den jungen Bekannten, was soviel heißen soll wie: Warte, hab einen Augenblick Geduld!, hockt sich nieder, neigt den Kopf schräg empor und fragt noch einmal:

„Clar – ?“

Und als ihm Clarence nun langsam den Namen vorspricht, sagt er ihn während des ganzen Melkens zäh und hartnäckig so lange halblaut in den Eimer hinein, bis er ihn leicht und geläufig aussprechen kann.

Zurückkommend vom Hause, ruft er mit einer Freude, der man zärtliche Zuneigung deutlich anhört, das eine Wort, klar und richtig:

„Clarence!“

Da überdeckt sich auch des Angesprochenen Gesicht mit schöner Wärme, und er spricht langsam und mit Betonung, so wie man etwas zu tragen pflegt, das kostbar ist und behütet sein muss:

„Nazzaro!“

Und es ist etwas in dem Klang, wie sie die Worte sprechen, und etwas in ihren Blicken – ein Unerklärbares, eine Innigkeit, ein unbewusstes Zueinanderdrängen ihrer Seelen, so dass die beiden Worte klingen wie ein Bekenntnis und ein Bündnis. Und es ist ihnen beiden so vertraut zumut, als wären sie einander gar nie fremd gewesen!

„Vieni con me? Gehst du mit mir?“, fragt Nazzaro und deutet die Straße hinunter. Clarence nickt.

„Avanti!“ – und sein Ruf ist noch einmal so hell wie alle die Tage vorher – er macht mehrere Schnalzlaute mit der Zunge, ruckartig setzen sich die Tiere in Bewegung.

Schulter an Schulter, gleich groß und beinah wie Brüder, gehen die beiden neben der Herde her: Clarence O’Neill, der Sohn des reichen Viscount O’Neill aus Schottland, und der Ziegenjunge Nazzaro Dotti, der nichts sein Eigen nennt, als was er am Leibe trägt! Und dies ist nicht viel!

So zieht Clarence durch die Straßen des Vorstadtviertels mit, bis die letzte Ziege ausgemolken ist. Alles ist ihm so reizvoll: die wunderliche Herde in den engen, malerischen Gassen zwischen den hohen, mit grünen Fensterläden geschmück­ten Häusern. Nazzaros ganzes Gebaren, das in jeder Bewegung so sicher und selbstverständlich ist, das bunte Leben und Treiben in den Straßen ..., alles berührt ihn so fremdartig, so märchenhaft – und doch weiß er, dass es nicht dies alles ist, das ihn zieht, ja, das ihn bannt, willenlos mitgehen heißt, sondern dass es dieser kleine neapolitanische Ziegenjunge, dieser Nazzaro Dotti ist – oder vielmehr: eine rätselhafte Macht, die ihn vom ersten Augenblick an zu ihm trieb; eine Macht, die sein Innerstes erregt, die ihn täglich in aller Frühe ans Gitter zwingt und ihn dort harren lässt, bis der fremde Junge mit seiner Herde vorbeikommt.

Immer wieder wird Nazzaro von Jungen jeden Alters angerufen, doch er hat nur einen flüchtigen Gruß, einen kurzen Ruf. Er ist jetzt nicht der Straßenjunge, der vogelfrei und heiter durch die schöne Welt streifen kann – er ist jetzt im Berufe!

Als sie später, auf dem Heimzug, wieder zu Clarences Gartentor kommen, in dessen Rahmen ein ängstlich ausspähender Diener steht, zeigt Nazzaro mit dem Zeigefinger mehrmals auf seine Brust und sprudelt heraus:

„Questa sera verrò di nuovo! Quando il sole tramonta ... aspettami!“

Clarence verzieht schmerzlich das Gesicht. Es tut ihm jedes Mal leise weh, wenn er sein „Non capisco, Nazzaro!“ sprechen muss.

Der legt begütigend die Hand auf seine Schulter und macht ein Zeichen, aufzupassen. Er blickt zur Sonne empor, deutet auf sie: – „Sole!“

Clarence nickt: „Capisco! Questo è il sole!“

„Si, si!“, bestätigt Nazzaro zufrieden: „Quando il sole tramonta ...“ Er legt die beiden gefalteten Hände an die eine Wange, legt den Kopf in die Seite und drückt die Augen zu.

Über Clarences Gesicht blitzt Freude; er hat verstanden: „Sole dormire! Wenn die Sonne schläft –“

„O yes! Very well! Sole dormire ... sleep – Io ritorno!“

Er deutet auf sich, die Herde, die Straße hinauf und macht mit hakig gekrümmten Fingern die Bewegung des Herunterkommens. Und sich besinnend: „I come.“

„Capisco, capisco!“ Clarence lacht hell.

„Tu devi aspettarmi! Sollst auf mich warten!“, redet Nazzaro Dotti eindringlich auf seinen Freund ein, und dieser nickt begeistert: „Aspetto!“

„Evening, evening!“, stürzt das Wort hinterdrein, und die Hand auf des anderen Brust legend: „Sicuro!“

Hinter der Pforte steht verborgen der Viscount und beobachtet mit überraschter Freude, wie sich die beiden Jungen gerade mit blitzenden Augen die Hände geben und einander zuwinken. Als er dies ungewohnte Leuchten in den sonst so ernsten und bleichen Zügen seines Kindes sieht, legt sich ein glückliches Lächeln auf sein Gesicht.

Hell aber tönt es noch mehrmals aus dem köstlichen Geklapper der heimwärtstrottenden Herde:

„A rivederci, Clarence! A rividerci, good bye!“

„A rividerci, Nazzaro!“

Als der Lord das Englisch hört, tritt er lachend neben seinen Sohn hinaus und winkt mit. Und Nazzaro, der mit seinen adlerscharfen Augen in dem winkenden Manne den Vater erkennt, reißt vor Freude den Brotsack von der Schulter, wirft ihn hoch in die Luft, tut dazu einen tollen Sprung, dass die Ziegen neben ihm erschreckt Reißaus nehmen und ruft mit jubelnder, glockenheller Stimme mehrmals sein: „Good bye!“

Vater und Sohn aber bleiben Hand in Hand auf der Straße stehen, bis Nazzaro Dotti mit seiner Ziegenherde oben beim letzten Eukalyptusbaum um die Ecke verschwunden ist.

Abends steht Clarence, lange bevor die Sonne noch hinter der trutzigen Festung von Sant´ Elmo untergegangen, auf der Straße vor ihrer Villa und wartet mit sehnlichem Herzen auf das Kommen Nazzaros.

Unverwandt späht sein Auge zur Stelle hinauf, wo er erscheinen muss.

Endlich taucht er mit seiner Herde auf. Freudig geht Clarence dem Freunde entgegen, der ihn sofort ungestüm mit dem Wunsche übergießt, dass er ihm das „rifugio“ zeigen möchte, wo seine Ziegen schlafen, und Clarence willigt fröhlich ein.

So ziehen sie durch die Vorstadt hinaus in die abendliche Ebene. Gewaltig steht vor ihnen der machtvolle Kegel des Vesuv, und es scheint, als wolle sein drohendes Rauchgewölk, das sich tief auf ihn hinabsenkt, bei Einbruch der Nacht seine Hänge herab und tückisch ins Tal zu den Menschen kriechen; unheimlich nahe steht der Feuerberg, so dass Clarence ein wenig beklommen über den so ungewohnten Anblick zu ihm emporschaut.

Dumpf stampfen die Hufe der Ziegen durch den dicken Staub. Hinter ihnen weht eine dünne Fahne. In tiefem Schweigen liegt die olivgrüne Ebene vor ihnen, überdeckt mit den hohen, nachtschwarzen Schirmen unzähliger Pinien, durchnetzt von den langen Rebenketten edlen Weines. Rote, blaue und gelbe Gehöfte leuchten schwach aus dem warmen Ton des Abends.

Die Herde hält vor einem langgestreckten Bau. Nazzaro springt vor und öffnet den Schlagbaum des großen Tores. Ungestüm drängen die Tiere hinein.

Vor Clarences Blicken dehnt sich ein riesiger Hof, nach allen vier Seiten von Wohnräumen und Stallungen eingesäumt; der linke, weitaus größere Teil desselben in lauter Hürden geteilt, in denen meckernd und blökend ein ganzes Gewusel von Ziegen und Schafen sich ruhelos bewegt.

Platzgewohnt steuert Nazzaros Herde ihrem Zaune zu, drängt sich durch das enge Gatter wie die schäumende Masse eines Wildbachs. Nur ein paar alte, große Tiere wollen nicht, streben zur Küche, wo es auf weitem, offenem Herde über dem großen, flackernden Feuer in pechschwarzen Kesseln brodelt. Stehen mit schnuppernden Nüstern vor der Tür, begehren herausfordernd ihren Naschbissen von der emsig hantierenden Frauensperson, scheinen geflissentlich Nazzaros Mahnrufe zu überhören. Es bereitet Clarence einen ganz besonderen Spaß, das listig verschlagene Spiel der Tiere zu beobachten, wie sie mit sichtbarlich verdrossenen Ziegengesichtern, den Flüchen Nazzaros nachgebend, von der Tür weg sich der Hürde zuwenden, scheinbar willig vor ihrem Hüter einhertappen, unvermittelt jedoch nach beiden Seiten ausreißen und mit weitausholenden, hopsenden Bock­sprün­gen erneut der Küche zustreben und, als sie erneut Nazzaro und seine Peitsche dicht hinter sich sehen, sich nun ergeben in seinen Wunsch zu fügen scheinen und, die bärtigen Köpfe verdrossen gesenkt, der Hürde zutrotten, plötzlich aber die Taktik wie auf Kommando ändern und nach allen Seiten auseinanderstieben, lauernd jedes für sich in der Ferne stehen bleiben, so die Gelegenheit abpassend, sich der Küche wiederum nähern zu können, bis das kleine Menschlein die Verfolgung einer ihrer Schwestern aufnimmt.

„Maledette bestie! Porca malora!“

Nazzaro, der sich heute, seines Gastes wegen, im vollen Glanz zeigen will, zuckt wie ein Blitz durch den Hof hinter den Tieren her. Da diese aber den ausgesprochenen Ehrgeiz zu haben scheinen, vor dem Fremden ebenfalls im vorteilhaftesten Lichte zu stehen, heben sie ein so tolles Jagen an, dass es auf dem Hofe zugeht, wie wohl nicht ärger einst beim dionysischen Freudenfest der wein- und liebesseligen Mänaden.

„Porca quell’ ora maledetta!“ Nazzaro schießt fluchend hinter den Tieren her – doch die Ziegen haben vier Beine! Clarence kann sich kaum halten vor Lachen, zu drollig ist das Bild. Das Vergebliche seines Treibens einsehend, hält Nazzaro plötzlich inne und schreit mit lauter Stimme: „Giovanni, Michele, Sebastiano! venite aiutar!“ Sogleich kommen zwei halbwüchsige Jungen aus den Ställen, und nun haben sie die widerspenstigen Tiere im Nu in der Hürde!

Vom Tor erschallt lautes Rufen. Heftig fliegen die Flügel auf, und von mehreren Männern überragt, ergießen sich ganze Scharen von Schafen in den Hof. Nazzaro bemüht sich Clarence klarzumachen, dass sie von der Weide kommen.

Als alles in Ordnung ist, führt er seinen Freund zu den braunen Campagnolen. Die Hirten geben ihm die Hand, lachen mit gutmütig blitzenden Augen, mit schneeweißen Zähnen. Fragen ihn mit viel Umständlichkeit, wie lange er bleibe. Ob es ihm bei ihnen gefiele? ... Laden ihn ein, oft zu ihnen zu kommen! ... Und ob er mit ihnen auf die Weide wolle? Clarence ist begeistert.

Die Frauensperson in der Feuerküche ruft zum Nacht­essen. Die Hirten und die Ziegenjungen gehen hurtig in die Küche, langen saubere Holznäpfe und blühweiße Pappelholzlöffel vom Wandgestell. Die Padrona gießt ihnen eine würzig duftende Suppe von Broccolistrünken ein. Auch der Gast muss seine Schüssel hinhalten; wie gern tut er das! Behaglich kauern sie mit ihren dampfenden Näpfen vor der Küche auf den Steinplatten und löffeln. Noch nie hat Clarence etwas so gut geschmeckt wie diese Hirtensuppe! Nazzaro leckt Rand und Boden der Schüssel mit der Zunge blitzblank, die anderen machen es ebenso. Warum soll er es da anders machen! Und immer wieder, während sie schlürfen, funkeln ihn von allen Seiten rabenschwarze Augen an, ermunternd, herzlich, strahlend vor Freude, dass sich der fremde „cavaliere“ bei ihnen wohlfühlt, dass sie zu ihm gastlich sein, ihn bewirten können.

Dabei ist der Abend eingebrochen

Die Tiere ruhen; zum Teil sind sie in den Ställen oder liegen auf dem Boden der Hürden, einige stehen mit neugierigen Augen an den Zäunen.

Der abendliche Hirtenfrieden liegt breit in Clarences Brust. Und das alles, den Zauber dieser Menschen in ihrer kindlichen Hingabe, die Traulichkeit der erdruchigen Tiere, die Größe der Landschaft, alles dankt er dem guten Nazzaro! Dankbar sucht seine Hand jene des Freundes. Der versteht ihn und lacht selig.

Und Nazzaro weiß, was sich gehört, was er ihm und seinen Eltern schuldig ist! Er deutet auf das Firmament, an dem die ersten Sterne leise aufblitzen und gemahnt zum Aufbruch.

Herzlich geben ihm alle die Hand, schütteln sie fest. „A rivederci! A rivederci!“

Stolz und gewichtig stapft der kleine Nazzaro Dotti neben ihm über den Hof; die Hände tief in den Hosentaschen.

Weit steht ihm der Brotsack weg, baumelt schwer an seiner Seite. Er hat nun zwei große Flaschen Milch drinnen, die er täglich heimbringt.

Über der weiten Ebene liegt erstes Nachtdunkel. Hell ziehen die Sterne am weiten, klaren Firmament auf. Wie drohende Wegelagerer stehen die finsteren Umrisse der Pinien ringsum. Dunkel liegen die Gehöfte. Schauen dort und da mit roten Augen in die Nacht. Weiß zieht sich das Band der Straße durch die schweigende Flur. Clarence ist wie verzaubert. Ist es denn Wachen, Wirklichkeit? Aber neben ihm geht ja Nazzaro, Nazzaro Dotti! Und da hinten liegt das große Gehöft, er sieht es noch deutlich ...

Da deutet Nazzaro auf einen kleinen Hügel neben der Chaussee, zweigt ab und ist mit ein paar Sprüngen oben. Hohe Zypressen steilen in schmalleibiger Schlankheit in den Himmel. Nazzaro lässt sich nieder, macht eine geheimnisvolle Gebärde. Sucht in seiner Tasche, zieht eine Schalmei heraus und beginnt zu flöten. Weich und schwermütig, wie das Bild um sie, erschallen die Töne, fließen über den Hügel ins Land hinaus, verschmelzen mit der Nacht und werden eins mit ihr. Steigen auf zum Himmel wie Opferdünste der Erde. Silbern rieselt das gleißende Licht der Sterne auf den nachtdunklen Zypressenhügel.

Und Clarence ist ganz gefangen von den alten Volksweisen, und nun ist doch wieder alles ein Traum, ein unaussprechlich seliger Traum!

Da bricht das Spiel ab, und Nazzaro legt die Hand auf seine Schulter. Und als Clarence den tiefen, treuherzigen Blick dieser Augen sieht, kommt es über ihn mit einer Macht, die der scheue, zurückhaltende Knabe bis jetzt nicht gekannt, und überwältigt und wie von einem geheimnisvollen, unerklärlichen Urdrange gezogen, wirft er sich Nazzaro an die Brust. Und der kleine arme Hirtenjunge legt sanft seinen Arm um ihn und lehnt seinen Kopf an ihn wie eine Mutter.

Lange sitzen sie schweigsam nebeneinander, Schulter an Schulter, die Hände fest umschlossen.

Länder und Meere trennen ihre Heimat, eine ganze Welt ihre Herkunft, sie aber denken nicht das eine und nicht das andere; sie haben nicht das leiseste Verwundern in sich, dass sie vor wenigen Tagen voneinander noch nichts gewusst.

Sie fühlen nur die beglückende Macht, die sie unwiderstehlich zusammentreibt und die so stark und süß ist, als käme sie aus der Ewigkeit.

Und durch ihre Seelen weht eine Vertrautheit, als wären sie eins seit aller Zeit.

Die Zwei und ihr Gestirn

Подняться наверх