Читать книгу Die Zwei und ihr Gestirn - Hans Sterneder - Страница 7

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Zwei Tage später trat der Mond in eine besonders günstige Stellung.

Sir Thomas Doo, der die letzten Tage viel um Clarence gewesen und es auf wundersame Art zuwege gebracht hatte, dass der zerrüttete Knabe sichtlich unter seinen Händen aufgeblüht war, blieb den ganzen Tag zu Hause. Der Pförtner hatte den Auftrag bekommen, niemanden vorzulassen.

Nur der alte, weißhaarige Diener, der zum Ärgernis des anderen Gesindes verschwiegen war wie der jahrhundertealte Efeu, der die Fenster des Schlosses umspann, wusste, dass sein Herr heute, wie er es oft zu tun pflegte, gefastet hatte und wie ein Mönch in seiner Zelle im Bibliothekszimmer sich eingeschlossen hielt. Nun war längst die Nacht über das tiefverschneite Land niedergesunken.

Als die lautlose Stille des großen, behaglich durchwärmten Raumes von neun wohlklingenden Schlägen der Kaminuhr durchtönt wurde, erhob sich Thomas Doo aus dem Lehnstuhl, in dem er seit Stunden gelesen, entzündete einen großen, aus schwerem Silber getriebenen siebenarmigen Leuchter und trat mit ihm auf den Korridor hinaus.

Mit leise wehenden Fahnen glitten die sieben Flammen den nachtdunklen Gang entlang, verfolgt von einer schwankenden Schemengestalt, die lautlos im Lichtkreis hinterdrein huschte.

Mit seinem eigentümlich federnden, entschlossenen Schritt stieg Thomas Doo die Wendeltreppe des großen Eckturmes hinauf, bis er vor einer dickbohligen Eichentür stand, die den Weg mit abwehrender Kälte sperrte. Man sah auf den ers­ten Blick dem ganzen Gefüge dieser Tür an, dass sie Hüterin eines Geheimnisses war, und so zog es denn die Dienerschaft immer wieder mit nahezu magischer Gewalt vor sie. Doch so viel sie auch mit ihrer Neugier daran herumtappten, sie ergab sich keinem Schlüssel. So hatte sich langsam die Legende herausgebildet, dass hinter dieser Pforte ihr Herr, um den ständig etwas wie ein großes Rätsel war, mit Geistern seine Zusammenkünfte hielte. So hieß denn der Turm bald in ihrem Munde nur mehr der Gespensterturm, und die männliche Dienerschaft hatte ein Hauptvergnügen daran, dem weiblichen Gesinde derart überhitzte Gruselgeschichten aufzutischen, dass dieses die Nähe der Wendeltreppe bei Einsinken der Nacht wie das Feuer mied.

Thomas Doo öffnete die Tür mit einem vierhörnigen Schlüssel, der zwei zusammengeschweißten Mondsicheln glich, und trat ein.

Der Raum war von geradezu verblüffender Nüchternheit. Die in den Ecken emporstrebenden Pfeiler trugen auf ihrem Knospenkapitäl das mit zierlichem Netzgebälk geschmückte Spitzbogengewölbe. Wände und Kuppel waren schlicht mit Kalk getüncht.

Breit fiel das silbrige Licht des Mondes durch das hohe Fenster herein, floss über den Fußboden und lag voll und gleißend auf der Platte eines pechschwarzen Eichentisches, der in der Mitte des Gelasses stand, in welchem sich nur noch ein ebensolcher Stuhl und Schrank befand.

Thomas Doo stellte den Armleuchter nieder, rückte Tisch und Stuhl derart, dass sie nach Oste standen, entnahm dem Schranke die magischen Utensilien, löschte die Kerzen und trat ans Fenster.

Bewegungslos lehnte er hier geraume Zeit, das grell beschienene Gesicht wie versteinert, sich in stärkster Konzentration mit der magischen Silberscheibe des Mondes verbindend, dabei tief und regelmäßig atmend. Sein edelgeschnittenes, tief durchgeistigtes Antlitz änderte sich zusehends, das Auge wurde seherisch.

Ruhig löste er sich vom Fenster, entzündete die beiden äußeren Kerzen. Machte mit locker gespreizten Fingern mehrere magnetische Striche über Tisch und Stuhl, ohne die Gegenstände zu berühren, und bedeckte sie dann mit schwarzen Seidentüchern.

Zeichnete mit der Kreide in ununterbrochener Linie ein weit über Mannesgröße ragendes Pentagramm, stellte Tisch und Stuhl darauf, zog in lückenloser Kurve um die fünf Zacken einen Kreis, seine Vereinigung mit ganz besonderer Sorgfalt schließend, gleichzeitig auf dessen Linie mit der Konzentrierung seines ganzen Willens den Akaschagürtel aufrichtend, der ihn undurchdringlicher wie Stahl und Granit vor der Berührung mit der Meeresflut fremder, im Raume schwebender Gedanken und astraler Wesen bewahrte und gleichzeitig jeden seiner eigenen Gedanken wie den in einen Käfig gesperrten Vogel festhielt. Dieser Akaschagürtel würde sich jedem Hellseher als hauchdünner Glassturz gewiesen haben, unter dem der Magier saß, vollkommen abgeschnitten von der geistigen Welt, so dass alles, was er von jetzt an dachte und seinem Kopfe als unvergängliche Wesenheit entstieg, gefangen war. Er beabsichtigte diese Nacht, unter der günstigen Konstellation des Mondes, Clarences Horoskop zu errechnen.

Nachdem er noch das heilige Pentagramm – einen goldenen Fünfstern an schwarzem Edelholzgriff – und die Horoskopscheibe aufgelegt hatte, begann er die Arbeit. Zahlen reihten sich an Zahlen, verbanden sich mit Winkelmaßen, Graden und Sternzeichen, marschierten in rastloser Emsigkeit über das schneeige Weiß der Blätter wie Bataillone anstürmender Soldaten und standen nun hier in scheinbar regungsloser Stummheit. Vor den Augen Sir Thomas Doos aber wandelten sie sich in geisterhafte Gestalten: lauernde Dämonen der Krankheit, Lichtengel des Glückes, Genien edler Veranlagungen, düstere Nornen der Schwermut, strenge Herolde der Gottheit.

Immer, wenn er sich niederbeugte, um einen Planeten in eines der Häuser des Himmels und in die Grade des Tierkreises einzuzeichnen, war es ein Teil Schicksal, das er niederschrieb.

Und die Strahlen der planetarischen Winkelanblickungen lösten sich seinem feinen Ohr als Musik und tönten in ihm als Lebenslied. Es war ein edel feierlicher Sang, der sich da formte, doch die Harmonie der Trigone und Sextile wurde immer mehr von dem wilden Donnergedröhn und Blitzgezuck der feindseligen Quadraturen gestört. Dazu schritt Merkur der Sonne voraus, was eine kurze Lebensbahn anzeigte.

Immer ernster wurde das Gesicht des Sehers. Plötzlich verspürte er das unbehagliche, ihm nur zu gut bekannte Gefühl im Sonnengeflecht über seiner Magengrube und das starke Wehen von Eisesschauern; ruhig hob er das Antlitz, und – mit hartem, festem Auge das furchtbare Wesen fassend, das lauernd am Rande des magischen Kreises stand und ihn mit Blicken ansah, die das Mark eines gewöhnlichen Sterblichen erstarrt hätten, falls er nicht unter dieser grässlichen Erscheinung in sofortigen Wahnsinn verfallen wäre – nahm er das heilige Pentagramm und hob es abwehrend gegen den gefürchteten Dämon. Um den Kreis kroch und krümmte es sich in den phantastischen Gebilden der Elementarwelt, die daraufhin sogleich ins Nichts verschwanden. Nur das furchtbare Unwesen bewegte sich nicht und hielt den Flackerblick seiner glutrot in den Höhlen liegenden Augen hasserfüllt auf das heilige Zeichen gerichtet, dabei die eisigen Ströme seiner Intelligenz mit aller Macht auf den Magier sendend.

Da entzündete der Meister, die große Gefahr wissend, eilig das Weihrauchbecken, warf einen alten, mit kabbalis­tischen Zeichen bedeckten Pergamentstreifen in die aufwallenden Dämpfe, streckte das magische Schwert machtvoll gegen das Ungeheuer und rief: „Adonai, im Namen des drei­einigen Gottes, befehle ich dir: – weiche!“

Da begann das Phantom zu schwanken, wildeste Wut verzerrte sein Gesicht, blitzjäh war es verschwunden.

Thomas Doo rechnete gelassen weiter.

Längst hatte der Mond das Fenster gewechselt und seinen Lichtstreif behutsam aus der Turmstube gezogen; nun schickte er sich seit zwei Stunden an, ihn ganz langsam wieder zum anderen Fenster hereinzurollen.

Die Wachskerzen waren tief herabgebrannt.

Endlich legte Doo die Feder weg; das Horoskop war fertig. Sinnend saß er, beide Hände an die Schläfen gestützt, geraume Zeit über der karmischen Sternenscheibe. Auf seinem Antlitz lag großer Ernst.

„Schicksal! Erhabenes, ewiges Schicksal!“, murmelten seine Lippen; dann legte er langsam die Bogen zusammen.

Lange Zeit war er hernach noch beschäftigt, alle Gedanken zu zerstören, damit keiner zu Clarences sensitiver Seele dringen konnte. Als Letztes löste er die Akaschamauer über dem magischen Kreise auf.

Ruhig trat er nun ans Fenster. Der Mond stand tief am Himmel.

Wieder blickte der geheimnisvolle, einsame Mann lange in das weiche, intuitive Licht. Die himmlische Schicksalstafel funkelte im Glanz aller Sterne … Auf dem schwarzen Eichentische verlöschten plötzlich, wie von einem Hauche ausgeblasen, die beiden Kerzen.

In diesem Augenblicke schloss sich vor dem entrückten Auge des Versunkenen der ganze, gleißende Sternenhimmel zu einer Einheit zusammen und stand vor ihm als der riesenhafte Mensch des Makrokosmos: der Adam Kadmon.

Und mit einem Male wandelte sich das Bild, und der Himmelsriese hielt in seinen Händen klar und deutlich die Gestalt Clarence O’Neills, genau so wie auf den Gemälden der alten deutschen Meister Gottvater den gekreuzigten in seinen Händen hält.

Es war ein namenloser Zug des Friedens in dem Antlitz des Sohnes …

Die Zwei und ihr Gestirn

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