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Der tiefenpsychologische Heilungsbegriff in anthropologischer Beleuchtung
ОглавлениеNur von einem anthropologischen Standort aus kann die fatale Situation, in welche die Psychotherapie unter der Führung einer ausschließlich introspektiven Psychologie allmählich hineingeraten ist, überblickt und ein gangbarer Ausweg gefunden werden. Wir nennen den geforderten Gesichtspunkt einen »anthropologischen« in dem Sinne, dass er den ganzen Menschen, nicht nur seinen psychischen Bereich, ins Auge fasst. »Psychologie« ist eine nur auf das seelische Geschehen als solches gerichtete und nur ihm angemessene Betrachtungsweise. Der umfassende Ganzheitscharakter des Menschen wird uns aber erst sichtbar im offenen Blick auf seine Weltsituation. Nur in der partnerischen Erschlossenheit zur Welt hin ist das Selbst des Menschen, das wir als seine Personenmitte verstehen, in actu – und erst von dieser Selbsterschlossenheit her erschließt sich uns auch der lebendige Sinn der seelischen Vorgänge gesunder und kranker Art.
Dem Psychotherapeuten ist es somit aufgegeben, den Patienten in seiner partnerischen Beziehung zur Welt kennenzulernen und zu erkennen. Aber – das ist sogleich hinzuzufügen – ein objektives Kennenlernen allein genügt nicht. Um diesen Patienten als den ganzen Menschen zu »entdecken«, muss er, der Psychotherapeut, selbst in die partnerische Beziehung zu ihm eintreten. Das heißt: ich erkenne diesen anderen Menschen als Partner noch nicht wahrhaft, solange ich ihn in seiner Begegnungssituation zum »objektiven« Gegenstand meiner Erkenntnis mache, sondern erst dann, wenn ich ihn in meiner eigenen Begegnung mit ihm partnerisch erfahre. Werde ich aber nur so der Personenmitte im Andern, seiner potentiellen Ganzheit also, inne, dann kann erst recht auch die Heilung der Neurose, die, wie wir zeigen werden, Folge und Ausdruck einer eigenwilligen Begegnungsabsage des Selbst ist, nur geschehen auf Grund dieser direkten Begegnung von Arzt und Patient.
Damit ist der zentrale Heilungspunkt aufgezeigt, der in der psychotherapeutischen Behandlung primär zu konstellieren ist: das »Auge in Auge«2 die partnerische Konfrontierung, die der Arzt in personaler Begegnung hervorruft und dank welcher die Wiederherstellung der Begegnungsfähigkeit des Patienten in Gang kommt. Nur der aus der Herzenswachheit kommende Anruf erreicht die ansprechbare Mitte des in sich verschlossenen Patienten, erweckt und ermutigt ihn zur wahren Antwort und somit zur Selbsterschließung. Und erst auf Grund dieser rückhaltlosen Begegnung kann der seelische Konflikt verarbeitet werden und kann sich auch eine neue, rückhaltlos offene Begegnung mit der schicksalhaft zu bestimmten Welt ereignen.
Neurosenheilung vollzog sich letzten Endes stets auf diese Weise – eben aus der dialogischen Partnerschaft –, auch wenn der Psychotherapeut sie nur der tiefenpsychologischen Analyse zuschrieb. Darüber dürfen die Berichte analysierender Tiefenpsychologen, sofern sie ihre Heilungen lediglich auf Bewusstmachung, das heißt auf die bewusste Verarbeitung unbewusster seelischer Komplexe und Prozesse zurückführen, nicht länger hinwegtäuschen.
Die tiefenpsychologische Analytik unterschied bekanntlich von jeher zwischen dem rational orientierten Bewusstsein des Menschen und seinem irrational und komplexhaft sich manifestierenden Unbewussten. Mit dieser Unterscheidung erwirkte sie eine die peripheren Seelenbereiche durchbrechende Bewusstseinskonzentration auf die unbewussten seelischen Vorgänge und wurde so zur methodischen Vermittlerin einer psychologischen Beziehung des Menschen zu seinem innerlichen Selbststand. Durch diese introspektiv bewirkte Konfrontierung des neurotisch Leidenden mit seiner unbewussten »Psyche« kann, das sei zugegeben, ein interner Spannungsausgleich erzielt werden, der sich im Gesamtbefinden des Patienten günstig auswirkt. Doch darf dieser Spannungsausgleich nur als ein Vorstadium – besser noch: Zwischenstadium – der eigentlichen Heilung angesehen und bewertet werden. Die Erhellung und Begründung dieser Behauptung wird einen wesentlichen Teil unserer späteren theoretischen und praktischen Darlegungen ausmachen.