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Historische Einführung
ОглавлениеPsychotherapie gab es zwar schon immer, aber nicht als spezialisierte Berufstätigkeit, sondern mehr als individuelle Gabe Einzelner und meist nur als Beigabe der ärztlichen, priesterlichen oder pädagogischen Praxis. Psychotherapie als Beruf kennen wir erst seit wenigen Jahrzehnten, eigentlich erst seitdem Sigmund Freud die pathogen wirkenden unbewusst-seelischen Motivkomplexe entdeckte und zu erforschen begann und mit seiner psychoanalytischen Forschung Schule machte. Von seinen Schülern und Mitarbeitern, die ihren eigenen Weg gingen, sind Alfred Adler und vor allem, als der bedeutendste, C. G. Jung zu nennen, der sich schon 1913 von Freud trennte und seine besondere Richtung gewann.
Der Pionierarbeit Freuds und Jungs verdanken wir die Schöpfung einer grundlegenden Tiefenpsychologie, durch welche die Psychotherapie aus ihren bisherigen Dienstverhältnissen, nicht zuletzt aus den Fesseln der allgemeinen Medizin, der Neurologie und Psychiatrie, befreit und zur selbstständigen Disziplin erhoben wurde. Erst die Schaffung dieser selbstständigen Grundlage machte es möglich und notwendig, dass die Neurosenbehandlung jetzt nur noch von psychologisch geschulten und methodisch ausgebildeten Therapeuten rechtmäßig ausgeübt werden darf.
Die wissenschaftlichen Ergebnisse der modernen Tiefenpsychologie sind nur zu verstehen und voll zu würdigen, wenn wir bedenken, dass sie nicht aus der akademischen, insbesondere experimentell-psychologischen Forschung, sondern aus der psychotherapeutischen Praxis, also aus der engsten Fühlungnahme mit dem seelisch Leidenden, hervorgegangen sind. Unsere Pioniere waren leidenschaftliche Therapeuten, und aus eben dieser Leidenschaft mühten sie sich auch als Wissenschaftler, den zentralen Gegenstand ihrer ärztlichen Erfahrung: die menschliche Psyche zu ergründen und zu erfassen. Mit Recht also bezeichnen sie sich als Empiriker. Denn sie haben nicht ein fertiges Wissen an den Leidenden herangebracht, wie dies oft angenommen und behauptet wird, sondern sie haben ihre neuartigen ätiologischen Befunde und Erkenntnisse im heilungssuchenden Kontakt mit dem Kranken gewonnen. Darum sind ihre wissenschaftlichen Ergebnisse durchaus wirklichkeitsbezogen und empirisch erhärtet.
Es steht außer Zweifel, dass die Lehren dieser beiden Seelenforscher für die kommenden Psychotherapeuten-Generationen bahnbrechend bleiben werden. Denn hier ist eine in die Tiefen der menschlichen Seele vordringende Untersuchungs- und Behandlungsmethode gefunden und entwickelt worden, welcher der Psychotherapeut auch in der Zukunft nicht mehr wird entraten können. Er wird sie je und je, in ernstester Auseinandersetzung mit ihr, persönlich sich zu Eigen machen müssen. Das bleibt ihm keinesfalls erspart.
Aber es zeigt sich schon jetzt, dass der künftige Psychotherapeut sein wissenschaftliches und auch sein therapeutisches Interesse nicht mehr mit derselben Ausschließlichkeit auf die komplexen innerseelischen Vorgänge und Befunde wird konzentrieren dürfen, wie dies unsere Pioniere aus guten Gründen und in beispielhafter Weise getan haben. Denn wir erleben und erkennen heute die »Wirklichkeit der Seele« nicht mehr nur als in sich geschlossenen Eigenbereich des Individuums, sondern sie offenbart sich uns je länger je eindringlicher zugleich als zwischenmenschliches Phänomen im Raum des partnerisch gelebten Lebens. Hier erst, in den konkreten Begegnungssituationen mit der Welt als Schöpfung und Geschichte tut sich uns die menschliche Seele in ihrem wahren Seinsgrund auf, erschließt sie sich uns aus ihrer geheimnisvoll wirkenden Mitte.
Mit diesem Hinweis berühren wir bereits den Ansatzpunkt der Auseinandersetzung, zu der ich mich als einstiger Schüler und langjähriger Anhänger C. G. Jungs aufgerufen sehe.
Ich möchte hier vorweg einen bedeutenden Unterschied zwischen Jung und Freud anmerken, der sich für den Gang meiner Auseinandersetzung als sehr wichtig erweisen wird. Im Unterschied zu Freud, der primär den pathogen wirkenden unbewussten Seelenkomplexen gesondert nachforschte, gelang Jung eine totalere Konzeption, in die sich die Freudschen Forschungsergebnisse weithin einfügten und die sich für die weitere Seelenforschung als schöpferisch bewährte. Zu dieser neuartigen Konzeption kam Jung vermöge seiner Entdeckung und Erforschung eines grundlegenden, allumfassenden seelischen Kontinuums, in dem die Totalität der »Psyche« enthalten ist und auch – zum mindesten virtuell: im zentralen Archetypus des zu individuierenden Selbst – objektiv zur Anschauung gelangt. Dieses allumfassende seelische Kontinuum nannte er zuerst das »absolute«, später das kollektive Unbewusste.
Auf Grund dieser Entdeckung behandelte Jung die menschliche Psyche als eine selbstständige, in sich geschlossene Komplexität und Totalität, deren wissenschaftliche Erforschung und Begründung ihm nunmehr am Herzen lag. Denn die therapeutisch geforderte Ganzheit des Menschen erschien ihm erst dann gewährleistet, wenn der Patient als dieses einzelne Individuum in ein bewusstes Verhältnis zu seiner »totalen« Psyche tritt und in der Realisierung dieser seelischen Totalität sich selbst gewinnt – das heißt: wenn er dieses so erweiterte seelische »Binnenverhältnis« als eigenständige Welt auszubauen imstande ist.
An dieser resolut introspektiven Zielsetzung, der letzterdings die profunden wissenschaftlichen Ergebnisse seiner »Komplexen Psychologie« zu verdanken sind, hielt Jung durch alle Zeiten hindurch und bis zuletzt fest. Er stellte in seiner Lehre schließlich ein Bild des Menschen vor uns auf, dessen Lebensdrama sich vorzugsweise in der Innerlichkeit der Seele abspielt, mag auch dabei die mittlerische Bereicherung an der realen Welt eine gewichtige Rolle mitspielen. Dieses psychologische Menschenbild hat exemplarische Bedeutung und faszinierende Leuchtkraft. Um gewisser bleibender Gehalte willen werden wir es nicht auslöschen wollen. Aber wir werden ihm ein anderes, ein wesentlich anthropologisches, gegenüberstellen – ein Menschenbild, das »metaphysisch«1 begründet ist und jene bleibenden Gehalte der Jungschen Konzeption einbezieht.
Bevor wir ein solches anthropologisches Bild vom Menschen zu entwerfen versuchen, wollen wir uns darüber Rechenschaft geben, wie sich Freuds und später Jungs Lehren im Kreise der zeitgenössischen Psychotherapeuten ausgewirkt haben.
Ihre tiefenpsychologischen Leitlinien und Behandlungsmethoden haben sich, wie gesagt, durchgesetzt. Wenn sich auch eine besondere Freudsche und ein besondere Jungsche Richtung herausgebildet haben, so sind mit der Zeit doch wesentliche Elemente von der einen in die andere wechselseitig übergegangen, zumal sie ja beide die gleiche naturalistisch-psychologische Orientierung beibehielten. Dass diese beiden Schulen durch Jahrzehnte untereinander im Streit lagen, ist im Wendeprozess einer neuen Wissenschaft und Praxis nicht weiter verwunderlich und sei hier nur gestreift. Dieser Streit ist heute im Ausklingen, und es scheint, als ob die Komplexe Psychologie zu guter Letzt das Feld behaupte – dies allerdings nur in rein ideologischer Hinsicht. Und zwar darum, weil Jungs Konzeption des »Unbewussten«, wie gesagt, umfassender und geschlossener ist und deshalb alle psychologischen Ansätze Freuds und auch andere Richtungen in sich aufzunehmen vermochte.
Das für uns wichtige Resultat dieser historischen Entwicklung ist nun aber, dass die Psychotherapie sich in den letzten vier Jahrzehnten wachsend unter die Führung der Tiefenpsychologie gestellt hat, welch letztere eigentlich aus jener hervorgegangen ist. Die spezifisch psychotherapeutische Praxis ist ja doch der Mutterboden, auf dem sich diese neue empirische Wissenschaft installierte und aus welchem sie in all den Jahren unablässig ihre Nahrung zog. Auf diesem Boden ist sie herangewachsen und hat sie sich nicht nur ihr Ansehen, sondern auch ihre – wenn auch immer wieder bestrittene – Führerstellung errungen.
Wir anerkennen den Gang dieser Entwicklung in seiner positiven Bedeutung. Er war notwendig und auf ein vorläufiges Ziel hin auch förderlich. Trotzdem können wir uns heute nicht länger der Einsicht verschließen und müssen es auch offen aussprechen, dass sich die Psychotherapie im Gefolge der tiefenpsychologischen Forschung nachgerade in einem Circulus vitiosus verfangen hat, aus welchem sie sich, jedenfalls unter der Ägide der Komplexen Psychologie, nicht so leicht wieder befreien kann. Denn in der Lehre Jungs hat der Begriff der »Psyche« zufolge seiner Zentrierung im Kollektiven Unbewussten eine solche Überdimensionalität gewonnen, dass der Mensch auf der Suche nach seiner Ganzheit schließlich darin steckenbleibt: bei aller psychologischen Bereicherung, die Jungs Forschung zu danken ist, hat sich das Bild des ganzen Menschen in die seelische Immanenz reduziert und ist dabei verarmt.
Damit aber steht die Psychotherapie heute am Schlusspunkt einer Entwicklung, zu dem die tiefenpsychologische Forschung auf Grund ihrer Tendenz, das Unbewusste zu verabsolutieren, hintreiben musste.