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Entwurzelt

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»Deckname: Andreas.« Die Formel wurde für mich zum Schlüssel für das Verständnis meiner Entwurzelung. Ich war vier Jahre alt, als »Deckname: Andreas« mein Leben zertrümmerte. Fortan fühlte ich mich heimatlos, gleichgültig, wo ich aktuell lebte. Achtzehnmal bin ich umgezogen. Da, wo ich geboren wurde und wo ich Heimat spürte, wurde ich fortgerissen: Bad Salzungen, Thüringen, DDR. »Deckname: Andreas«, darauf stieß ich erst nach der Wiedervereinigung beim Einblick in die Stasiakten meines Vaters. Ich war auf der Suche nach den Gründen, warum mir die DDR in den 70ern die Akkreditierung als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Ost-Berlin verwehrt hatte. Meine eigene Stasiakte war verschwunden, rätselhaft. Während ich in den Akten von Kollegen vielfach vermerkt war. Zwei Erklärungen sind dafür denkbar. Beide gehen davon aus, dass auf westlicher Seite jemand an der verweigerten Akkreditierung beteiligt war. Entweder ging es um einen Agenten in meiner Nähe, dessen Enttarnung nach dem Untergang der DDR zu verhindern war. Ich komme darauf zurück. Oder Jörges für die Süddeutsche Zeitung in Ost-Berlin war eine zu verstörende Vorstellung, weil das Blatt für die Vermittlung der Ostpolitik sozialliberaler Regierungen nun mal eine entscheidende Rolle spielte. Der Kerl ließ sich aber nicht einspannen in regierungsfromme Seilschaften, er hatte sich bei Reuters den Ruf eines quirligen, unberechenbaren Einzelgängers erworben, der größten Wert auf Unabhängigkeit legte.

In den Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit fanden sich indes nur meine Karte aus der Zentralkartei und einige Belege für abgehörte Telefongespräche, die ich als Reuters-Korrespondent in West-Berlin aus dem Büro geführt hatte. In der Kartei war ich unter PID und PUT erfasst. Die Kürzel standen für Politisch-ideologische Diversion und Politische Untergrund-Tätigkeit. Im Westen hätte man das ungezähmten Journalismus und hartnäckige Recherche genannt. Auf der Registrierungskarte, auf Deutsch geführt und in kyrillischer Schrift für den sowjetischen KGB übersetzt, fand sich indes auch ein Verweis auf meinen toten Vater, inklusive Aktenzeichen. Lag die Ursache für die Ablehnung in seiner Person, seiner DDR-Vergangenheit, vor der Flucht in den Westen? Ich beantragte Akteneinsicht.

Als ich zum Lesen in die ehemalige Stasizentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße kam, übergab mir die Sachbearbeiterin indes nicht nur eine Akte, sondern zwei. »Nehmen Sie erst mal Platz«, eröffnete sie mir. »Ihr Vater hatte eine Opfer- und eine Täter-Akte, wie wir das nennen. Er wurde von der Staatssicherheit verfolgt und bespitzelt, dann aber auch zur Mitarbeit erpresst.« Meinen Schock kann ich kaum beschreiben. Als ich gelesen hatte, packte mich auf der Rückfahrt nach Hamburg tiefe Verzweiflung. Hätte man die Stasiakten nicht besser vernichten sollen, restlos? Könnte man nicht besser leben, wenn man das alles nicht wüsste, was sie nun für alle Zeiten preisgaben?

Mein Vater, ein Stasispitzel. Erst später war ich dankbar für diese Enthüllung, über die ich mit ihm nicht mehr sprechen konnte. Denn sie zerstörte nicht nur seine Lebenslüge, die er mir als Begründung für die Entwurzelung der Familie und ihre Verpflanzung von Ost nach West erzählt hatte. Er sei 1945 aus dem amerikanischen Lazarett im Ruhrgebiet nach Bad Salzungen zurückgekehrt, als einfacher Gefreiter, nur mit dem Verwundetenabzeichen in Gold dekoriert, und in die SPD eingetreten. Als die mit der KPD vereinigt wurde, landete er in der SED. Und dort gerieten die Sozialdemokraten derart unter Druck, endete seine Erzählung, dass er schließlich keine andere Möglichkeit mehr gesehen habe, als in den Westen zu flüchten. So nachvollziehbar, so falsch.

Die Wahrheit, die mir nun die Akten erschlossen, sah anders aus. Meine Familie war, betrachtet man es in historischen Zusammenhängen, an der Nahtstelle zwischen Nationalsozialismus und Sozialismus zerrissen worden. Der Riss verlief mitten hindurch. Mein Vater, der auf den Namen Johann-Friedrich getauft war und sich lieber Hans nennen ließ, stammte aus proletarischen Verhältnissen. Sein Vater war Bahnarbeiter und brachte es am Ende zum Oberrottenführer. Er verlegte mit seiner Kolonne Bahnschienen. Fotos aus der Zeit erinnern an Bilder jener abenteuerlichen Gestalten, die den Wilden Westen für Dampfrösser erschlossen. Nach allem, was mir später erzählt wurde, war das Milieu dieser Kleinfamilie in der Tat sozialdemokratisch. Man wohnte am Rande der Kurstadt Bad Salzungen, nicht weit von Eisenach, auf einer Anhöhe, in einer Siedlung von Wohnblocks, die um einen großen, grünen Innenhof mit vielen Bäumen und Sträuchern errichtet waren. Die Siedlung wurde Zehnt genannt, vor der Nazizeit offiziell Friedrich-Ebert-Hof, dann Adolf-Hitler-Hof und ab 1945 wieder Friedrich-Ebert-Hof. Auch meine Eltern nahmen nach ihrer Hochzeit eine Wohnung auf der Zehnt, meine Schwester und ich wurden dort geboren, sie zwei Jahre vor mir.

Den Mittelpunkt der Stadt bildete ein See mit einem weißen Kurhaus und großbürgerlichen Villen. Von der Zehnt aus gesehen jenseits des Sees, in der Innenstadt, fast am Marktplatz, lebten in bürgerlichem Ambiente meine Großeltern mütterlicherseits. Sie hatten drei Töchter. Wie auch schon sein deutschnationaler Vater war mein Großvater Oskar Lehrer, allerdings wandelte er sich zum Nazi und wurde offenbar – gesicherte Erkenntnisse habe ich nicht – zum höchsten SA-Offizier im Ort. Er kehrte als Hauptmann der Wehrmacht aus dem Krieg an der Ostfront nach Hause zurück. Als die Amerikaner – die erste Besatzungsmacht – abzogen und Thüringen den Russen überließen, wurde er verhaftet und kam zunächst ins ehemalige Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, das die Sowjets als Internierungslager weiter betrieben. Von dort aus wurde er schließlich nach Sibirien deportiert, wo er in einem Bleibergwerk an Lungenentzündung starb. Ein heimkehrender Mithäftling überbrachte meiner Großmutter die Todesnachricht. Ich habe Oskar Hirsch nie kennengelernt, habe ihn auch nur auf einem einzigen Foto gesehen, in Wehrmachtsuniform mit Mütze. Er war künstlerisch veranlagt und malte gut. Mehrere Stillleben sind erhalten geblieben, das von der halben Zitrone auf dem Teller besitzt heute eine meiner Töchter.

Der soziale, kulturelle und politische Bruch zwischen den beiden Familien meiner Eltern blieb mir als Kind nicht verborgen. Die Großeltern hatten praktisch keinen Kontakt zueinander. Ich kenne kein Foto einer Familienfeier, auf dem sie miteinander abgelichtet worden wären. Jeder lebte in seinen Kreisen. Mein Vater erzählte später voller Häme, dass Oskar Hirsch lange herumgereist sei, um aus kirchlichen Taufbüchern und Aufzeichnungen von Standesämtern den Ariernachweis zu erbringen. Hirsch klang jüdisch, die Sache musste seiner SA-Karriere zuliebe geklärt werden.

Nachdem er von der Roten Armee verhaftet worden war, hatte sich seine Frau, meine Oma Toni, anfangs täglich auf der sowjetischen Kommandantur zu melden, die in einer herrschaftlichen Villa am See untergebracht war. Später brauchte sie nur noch einmal pro Woche vorzusprechen. In einem Zimmer ihrer Wohnung war ein junges sowjetisches Offiziersehepaar einquartiert. Das zersetzte alle Vorurteile gegenüber »den Russen«. Ich erinnere mich, dass wir eines Abends in der Wohnküche der Großmutter im großen Kreis um den Tisch saßen, bei Rührei, als sich die Tür öffnete, die beiden in Uniform hereintraten, höflich auf Deutsch grüßten, den Schlüssel vom Haken nahmen, sich verabschiedeten und in ihr Zimmer zurückzogen. Die Runde war beeindruckt und tauschte verblüffende Erfahrungen aus, die sie mit den beiden hatte. Sie sprachen perfekt Deutsch, waren in der hiesigen Kultur bewandert, spielten Geige und Klavier. So was! Ich machte meine eigenen Erfahrungen mit sowjetischen Soldaten. Wenn ich als Vier- oder Fünfjähriger mit einem Freund spielend am See unterwegs war und am Zaun der Kommandantur vorüber kam, beobachteten wir häufig Soldaten beim Basketballspielen im Garten und riefen ihnen ein paar russische Wörter zu, die wir auswendig gelernt hatten, ohne aber deren Bedeutung zu kennen. Das war nicht ohne Risiko, es müssen indes freundliche Begriffe gewesen sein, »Drushba« und »Mir« vielleicht, Freundschaft und Frieden. Denn die Soldaten kamen an den Zaun und schenkten uns Bonbons. Nicht nur amerikanische Soldaten haben also nach Kriegsende Süßigkeiten an deutsche Kinder verteilt.

Die Familie meiner Mutter war auch sozial tief gefallen. Ihr Haus wurde enteignet, ebenso der große Garten nebenan. Als meine Tante Lore bei einer Feier zum 1. Mai an der Tribüne der roten Partei- und Gewerkschaftsprominenz vorüberzog, rief ihr von oben die ehemalige Putzfrau der Eltern zu: »Jetzt sind wir dran!« Unterst zuoberst in der jungen DDR. Ich fand diese Erzählung nicht schlecht, als ich sie zum ersten Mal hörte. Mutter und Tanten hin oder her.

Mein Vater, als Mitglied der SED, machte unterdessen Karriere. Er hatte die Reichsfinanzschule im österreichischen Feldkirch absolviert, bevor er 1941 zum Arbeitsdienst und danach zur Wehrmacht eingezogen wurde. Nach dem Krieg begann er bei den Finanzämtern in Eisenach und Bad Salzungen, besuchte 1948 die Kreisparteischule der SED, stieg als Referent in der Landesfinanzdirektion auf und schrieb für die Zeitschrift Deutsche Finanzwirtschaft. Das war mit einem ordentlichen Gehaltssprung von 432 auf 679 Mark verbunden, nicht schlecht für DDR-Verhältnisse. Alles schien in sicheren Bahnen zu verlaufen.

Da wurde er politisch vom Gleis gestoßen, völlig unerwartet. 1951, im Jahr meiner Geburt, schloss ihn die SED bei der ersten Parteisäuberung aus. Weil er mit meiner Mutter verheiratet war, die im Stalinismus schematisch als Tochter eines »Nazi- und Kriegsverbrechers« eingestuft wurde – ein klassischer Fall von Sippenhaft. Von diesem Schlag erholte er sich nie wieder. Das Leben aller, auch meines, geriet aus den Fugen. Wegen des Parteiausschlusses wurde mein Vater auch aus der staatlichen Finanzverwaltung entfernt und musste sich beim VEB Kraftverkehr Eisenach als Hauptbuchhalter verdingen. Der Volkseigene Betrieb lebte im Schatten der Wartburg vom Busverkehr.

Mein Vater verbitterte. Seine Opferakte bei der Stasi legt davon Zeugnis ab. Ein Spitzel im Betrieb denunzierte ihn. Der Verfemte rieb sich für den VEB auf, besorgte etwa auf eigene Faust und mit Westmark der Verwandtschaft Ersatzteile für einen Mercedes-Bus, ging dafür nachts illegal, doch mit Wissen der Staatssicherheit, über die Grenze und kehrte anderntags wieder zurück. Im hessischen Tann, wo er geboren war, hatte er noch Verwandte, und in der Nähe von Kassel lebte eine Schwester meiner Mutter mit ihrer Familie. Dort holte er Hilfe. Der Stasispitzel »Cäsar« aber ruinierte seinen Ruf. »Jörges wird im Allgemeinen für den größten Lumpen im Betrieb gehalten«, schrieb der etwa. »Er lästert im Beisein seiner Kollegen katastrophal über unser dztg. Regime.« Den früheren ersten Sekretär der Partei im Betrieb habe er einen »dreckigen Lump« genannt, einem Mann der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft gedroht: »Sie als Funktionär d. DSF werden, wenn es anders kommt, verkehrt aufgehängt.« Aus Ungarn, so kolportierte »Cäsar« weiter, würden nach Ansicht meines Vaters absichtlich fehlerhafte Ikarus-Busse geliefert, da das DDR-Geld keinen Wert habe.

Mit einem Wort: Er wurde als »Gegner des Staates« denunziert. 1954, während der Fußballweltmeisterschaft, verteilte er ein Exemplar des westdeutschen Magazins Kicker unter den Kollegen. Vor der Volkskammerwahl im Oktober verkündete er laut »Cäsar«: »Die Ganoven haben diese Wahl schon für sich ausgearbeitet. Unter Ganoven sind die Regierungsmitglieder gemeint.« Die zuständigen Stasioffiziere bilanzierten jedenfalls im selben Jahr: »Jörges diskutiert negativ und verherrlicht den Westen.« Da war er erst einunddreißig. Und konnte nichts mehr werden. Nur noch in der Stasi.

Denn die legte 1954 den Gruppenvorgang Nordpol an, um die beiden wichtigsten Leute im VEB unter die Lupe zu nehmen, den Betriebsleiter und dessen rechte Hand. Im Betrieb arbeiteten 19 ehemalige Angehörige des Panzerregiments 2 aus Eisenach – eine auffällige Konzentration, die bei den Verschwörungsexperten sogleich den Verdacht der Spionage für den Westen nährte. Zumal einer der beiden Verdächtigen früher Kontakt zu einer Frau hatte, die 1952 wegen Militärspionage verurteilt worden war, 1954 wieder freikam und nun im Ruf stand, in Frankfurt am Main für die Organisation Gehlen, Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes (BND), zu arbeiten. Dass sich die Panzerleute vielleicht deshalb in einem Fahrzeugbetrieb sammelten, weil sie sich mit schwerer Technik auskannten, spielte bei den Erwägungen keine Rolle. Mein Vater geriet ins Räderwerk des Gruppenvorgangs, weil er das Vertrauen der beiden Zielpersonen genoss und sie als Buchhalter aus der Nähe beobachten konnte. Und weil das so war, reifte bei der Staatssicherheit der Plan, ihn anzuwerben. Das indes ging nur unter Druck, denn er war zum Oppositionellen geworden.

Also wurden zwei Konspirationen ausgeheckt. Der erste Plan beginnt mit dem Satz: »Jörges erhält eine Einladung zum Staatssekretariat für Kraftverkehr, zwecks Rücksprache über die Rentabilität des Betriebs.« Eine getürkte Sache, aber ein echtes Gespräch in Berlin. Dafür sollte mein Vater Unterlagen des VEB mitnehmen – und in jener Zeit galt Vertrauliches aus der Logistik des Staates als potenzielles Geheimdienstfutter. Auf der Rückfahrt jedenfalls, so der Plan weiter, sollte mein Vater im Zug unter dem Verdacht verhaftet werden, die Dokumente in West-Berlin feindlichen Geheimdiensten gezeigt zu haben. »Die Beobachtung durch Abtlg. VIII muss bis nach Erfurt erfolgen. Ein Mitarbeiter der Abtlg. XIII muß zugegen sein und zwar in Uniform der Transportpolizei, da geplant ist, den J. kurz vor Erfurt festzunehmen, weil bei der Kontrolle seines Gepäcks festgestellt wird, dass er in seiner Tasche Finanzunterlagen hat.« Und weiter: »Dem J. wird zur Last gelegt, dass er mit diesen Unterlagen evtl. in Westberlin war.« Ein abgefeimter Plan.

Man entschied sich dann aber für den direkteren, brutaleren Eingriff. Alle drei, die beiden Spitzenleute des VEB und mein Vater, wurden im März 1955 unter dem von der Stasi konstruierten Vorwurf verhaftet, rund 400.000 Mark aus dem Betrieb veruntreut zu haben. Ich war drei Jahre alt und habe zwei Erinnerungen an das Geschehen: Mein Vater war längere Zeit verschwunden und es gab in unserer Wohnung eine Hausdurchsuchung. Die beobachtete ich aus meinem Laufstall. Männer in langen, dunklen Ledermänteln und Schlapphüten stellten alles auf den Kopf, was mich in Angst und Schrecken versetzte. Meine Mutter erzählte mir sehr viel später, schon im Westen, ich hätte in die Hose gemacht und der strenge Geruch habe die Wühlarbeit der Besucher zu einem raschen Ende gebracht. In den Stasiakten ist zu lesen, sie hätten 44 Westmark und »faschistische Literatur« gefunden.

Die drei Verhafteten wurden unterdessen intensiv verhört. Einer der beiden anderen, so heißt es, habe Kontakte zum Ostbüro der FDP und zum NTS gehabt, einer antikommunistischen Widerstandsbewegung aus der Sowjetunion, die nach dem Krieg im westlichen Exil fortbestand. Mein Vater wurde freigelassen, weil sich die konstruierten Unterschlagungsvorwürfe bei einer Überprüfung der Bücher nicht bewahrheitet hatten. Die zweimonatige Haft hatte ihn indes zermürbt. Umgehend wurde er zum Gespräch einbestellt von einer Unterleutnantin der Staatssicherheit, die ihn wegen seiner kritischen Haltung im Betrieb zur Mitarbeit erpresste und fortan seine Führungsoffizierin war. Verweigere er sich, werde er seine Kinder acht Jahre nicht wiedersehen, drohte sie ihm. In der Opferakte heißt es dazu: »Jörges wurde nach seiner Entlassung auf Grund seiner im Betrieb geführten negativen Diskussionen im GV ›Nordpol‹ auf Druck angeworben.« Die Gelegenheit, einen Gedemütigten wie ihn dauerhaft an den Haken zu nehmen, wollte man sich nicht entgehen lassen. Das zerstörte ihn vollends. Am 4. Mai 1955 verfasste mein Vater handschriftlich eine Verpflichtungserklärung – nach Diktat, wie die Formulierungen vermuten lassen. Er sei bereit, »das Staatssekretariat für Staatssicherheit in der Erfüllung seiner Aufgaben zu unterstützen«. Ein eigenes Ministerium war die Stasi damals noch nicht, sie gehörte zum Innenministerium. Ich habe später als Journalist häufig und intensiv über die DDR-Staatssicherheit geschrieben, ich kannte Verpflichtungserklärungen. Als ich die meines toten Vaters las, war ich dennoch schockiert. Das ist keine Floskel. Er hatte mir nie auch nur eine Andeutung gemacht. Davon so wenig wie von seiner kurzen SED-Karriere, die mit Parteiausschluss endete. Er schämte sich. Er war ein Verlierer. Und er hatte sich erpressen lassen.

Es gibt also für mich zwei weiße Flecken in der Geschichte meiner Familie, einen aus dem Nationalsozialismus, den anderen aus dem Sozialismus. Ob meinem in Sibirien gestorbenen Großvater mehr vorzuwerfen war als nur die Offizierskarriere in der SA, weiß ich nicht. Als ich meine Mutter wiederholt und zunehmend drängend befragte, ob es Juden in Bad Salzungen gegeben habe und ob sie wisse, was mit denen geschehen sei, antwortete sie mir am Ende zögernd: Ja, es gab welche. Aber die waren eines Tages weg. Wie – weg? Das wisse sie nicht. Verschwunden. Und die Wohnungen? Da wohnten dann andere Leute. Das kann nicht alles gewesen sein, was sie wusste, erlebt oder gehört hatte. Ich habe selbst recherchiert, dass es in meiner Heimatstadt ein Außenlager des KZ Buchenwald gab. Der Bahnhof lag nicht außerhalb der Stadt, also müssen dort Häftlingstransporte angekommen und Häftlingskolonnen in gestreifter KZ-Kleidung und Holzpantinen unterwegs gewesen sein. Selbst wenn man das nicht persönlich beobachtet hatte, so wurde doch in der Stadt darüber geredet. Hatte mein zunächst nach Buchenwald gebrachter Opa Oskar damit zu tun? Und was hatte er im Krieg an der Ostfront getan? Eine Schwester meiner Mutter hat mir später versichert, er sei kein Kriegsverbrecher gewesen, nur Hauptmann der Wehrmacht und SA-Offizier, was allerdings für die stalinistische Säuberungspraxis nach dem Krieg ausreichen konnte. Beruhigt war ich ob der Beteuerungen der Tante aber keineswegs.

In der schriftlichen Begründung meines Antrags auf Kriegsdienstverweigerung schrieb ich später, ich sei »an der Wetterfront« der unterschiedlichen politischen Auffassungen von Vater und Mutter aufgewachsen. Mein Vater amüsierte sich darüber und machte Scherze über meine Mutter. Das hätte er sich besser verkniffen. Meine Mutter hatte es in der Hand, die Mauer vor seiner eigenen Vergangenheit einzureißen. Dennoch bin ich heute voller Mitleid mit beiden, weil sie zu Opfern der deutschen Geschichte wurden, in unterschiedlichen Milieus, und weil ich die Umstände ihres persönlichen Scheiterns verstehe.

Mein Vater wurde laut Akte von »Gen. Ultn. Glaser«, Genossin Unterleutnant Elly Glaser, als »Geheimer Informator« geführt. »Linie, auf der die geworbene Person arbeitet: Spionage.« Der Mann, der nun »Andreas« hieß, wurde glänzend beurteilt. Von jener Stasioffizierin Glaser, die mit stark rechtsgeneigter Unterschrift zeichnete, und von Spitzel »Inge« unterstützt wurde. »Jörges ist eine gute Fachkraft, der sehr korrekt ist in seinen Abrechnungen. Er vertritt die Belange des volkseigenen Betriebes. Er ist sehr fleißig und scheut auch keine Überstunden. Politisch ist Jörges nicht einwandfrei, er ist in seinen Äußerungen negativ. Trotzdem ist er in seinem Charakter ehrlich und offen. Er führt ein gutes Familienleben und ist moralisch einwandfrei. Er ist bescheiden und trinkt nicht. Er raucht nur. Verschwiegen ist er ebenfalls.« Welcher Kontrast zu den Anschwärzungen aus »Cäsars« Feder!

»Andreas« sang nur ein Jahr. Unwesentliches, Klatsch aus dem Betrieb, soweit ich es beurteilen kann. Der Fall der beiden Spitzenleute war ja erledigt. Dann wurde er von Mitspitzel »Fritz« vor einer Kommission, die den Betrieb untersuchte, enttarnt – und er selbst dekonspirierte sich gegenüber Kollegen. Seine Doppelexistenz war unhaltbar geworden. Vielleicht wollte er mit dem Geständnis – oder war es eine Prahlerei? – selbst Schluss machen. Ich hätte ihn gerne danach gefragt.

Er flüchtete schon in der folgenden Nacht über die Grenze nach Hessen. Meine Schwester und ich wurden in dieser Nacht von der Mutter geweckt und ins Wohnzimmer geführt. Dort war heftig gezecht worden, die Luft war geschwängert von Zigarettenqualm. Mein Vater hatte, was ich damals nicht begriff, Abschied gefeiert von seinen besten Freunden. Und die verrieten ihn nicht, obwohl sie bei der Einladung gewusst haben müssen, worum es ging. Wir Kinder wurden aufgefordert, uns von unserem Vater zu verabschieden. Wir erfuhren nicht, warum. Gaben ihm ein Küsschen. Und gingen todmüde wieder zu Bett.

Am nächsten Morgen waren wir mit der Mutter allein. Der Vater war irgendwohin verschwunden. Wo er war, warum er gegangen war, wann und ob wir ihn wiedersehen würden, blieb zu meinem jähen Entsetzen offen. Alle Sicherheit war verloren. Auch die Heimat schon, bevor wir sie überhaupt verlassen hatten. Denn die Mutter eröffnete uns, die ganze Familie solle dem Vater folgen, umziehen ins Unbekannte. Irgendwohin. Bis es soweit war, sollte ein Jahr vergehen. Ein Jahr, in dem wir vom Vater nichts hörten, die Mutter zunehmend verzweifelt war und das Packen von Umzugskisten immer wieder durch schikanöse Kontrollen rückgängig gemacht wurde. Alles auspacken. Alles wieder einpacken. Ich erinnere mich, dass ich mit meiner Großmutter väterlicherseits einen Handwagen voller Äpfel aus unserem Garten zu einer Kelterei quer durch die Stadt zog und den Weg als emotionale Abschiedstour empfand. Ich wusste, dass ich diesen Weg nie wieder gehen würde. Und war tieftraurig. Nachdem die Kindheit bis dahin voller Glück gewesen war. In der gefilterten Erinnerung voller Sonne, voller Frühlingsgrün, voller Abenteuer.

Die junge DDR war fröhlich, es wurde viel und feucht gefeiert. Die Menschen wirkten wie entfesselt, sie waren froh, Krieg und Besatzung überstanden zu haben. Wir leben noch! Mein Vater wurde zahllose Male mit Papierhütchen und glänzendem Gesicht beim Zechen fotografiert, in Hochstimmung also. Das Kurhaus am See mit der großen Terrasse zum Wasser war Schauplatz vieler Feiern. Im Sommer gab es ein Seefest mit nächtlichem Feuerwerk – für uns Kinder der Höhepunkt des Jahres. Wir durften aufbleiben bis Mitternacht, als das Feuerwerk begann. Ein grandioses Schauspiel. Der sauertöpfische Sozialismus späterer Jahre war längst noch nicht in alle Ritzen der Gesellschaft gesickert. Obgleich der Stalinismus seine Entartungen über die eroberte Provinz stülpte und der schnurrbärtige Josef, der große Freund des deutschen Volkes, im Porträt von thüringischen Fachwerkfassaden herab schaute auf seine Eroberung.

Bad Salzungen, etwa 30 Kilometer von Eisenach entfernt, war im Krieg nicht zerstört worden. In der Erinnerung meiner Großmutter gab es nicht mehr als einen Bombenangriff auf den Bahnhof, der sie in Sorge um ihren dort arbeitenden Mann quer durch die Stadt eilen ließ. Außer dem See mit Kurhaus hatte das Städtchen eine zweite Sehenswürdigkeit: das Gradierhaus jenseits des Bahnhofs, umgeben von einem Park. In diesem Gradierhaus, einem hölzernen Gebäude ohne Außenwände, sickerte Salzwasser, aus dem Boden geholte heilende Sole, über Reisigwände nach unten. Das zerstäubte zu einem feinen Nebel, der tief inhaliert wurde und gut für die Atemwege war. Zum Schutz der Kleidung trugen die Kurgäste einen weißen Umhang. Das alles wirkte eher wie 30er- denn wie 50er-Jahre. Die DDR zehrte trotz des verheerenden Krieges noch von der Substanz des untergegangenen Reiches.

Wir litten keinen Mangel. Zwar wurden Grundnahrungsmittel in der frühen DDR auf Bezugsmarken ausgegeben, Kartoffeln etwa, die zu einem großen Haufen vor dem Konsum aufgeschüttet und dann streng gewogen abgegeben wurden, doch hielt meine Großmutter Stallhasen und Hühner. Die gaben einen prächtigen Sonntagsbraten. In der Not direkt nach dem Krieg hatte mein Vater mal einen Schwan vom See gefangen, geschlachtet und gebraten. Aber da nützte alles Schmoren nichts, er blieb ungenießbar zäh. Der Schlächter von Hühnern und Hasen trieb sein perfides Spiel mit den gruselnd zuschauenden Kindern. Bevor er den Hühnern mit der Axt den Kopf abschlug und sie dann herumtrudeln ließ, bis sie tot umfielen, hypnotisierte er sie. Drückte den Kopf herab auf die Erde und zog vom Schnabel aus eine gerade Linie in den Sand. Er konnte den Kopf nun loslassen: Das Huhn starrte wie gelähmt geradeaus und rührte sich erst wieder, als er es hochnahm. Den todgeweihten Hasen durften die Kinder ausgiebig streicheln – »Ach, du Armer!« –, bis er ihn an den Hinterbeinen nahm, mit dem Kopf herabhängen ließ und ihm mit einem zackigen Handkantenschlag das Genick brach. Dann stach er mit einem spitzen, rostigen Messer in die Kehle und ließ das Blut laufen. Schaudernd liefen die Kinder davon. Das Häuten erlebten sie nicht mehr. Meine Großmutter brachte die Felle in die Stadt zu einem Kürschner, dessen Souterrain-Laden ich nur angeekelt betrat, denn dort stank es bestialisch nach Verwesung.

Salat, Gemüse und Obst kamen reichlich aus den Gärten, die die Eltern und Großeltern bestellten. Und mein Vater vergor Beeren zu Wein. Ich wurde beglückt mit einem herrlichen Tretauto aus rotem Blech, um das mich alle Freunde beneideten, und einem großen Elefanten auf Rädern, der brummte, wenn man an einem Faden aus seinem Rücken zog. Ich zog oft und öfter, obgleich ich jedes Mal weinte, weil mich das Brummen in Schrecken versetzte. Die beiden ungewöhnlichen Spielzeuge sind im Rückblick höchst erstaunlich für die frühen Jahre der DDR. Mein Vater musste lange danach gejagt haben.

So wie er mit dem Zug nach Berlin fuhr und im Westen der Stadt Orangen und Bananen kaufte, als ich mit Scharlach auf der Isolierstation im Krankenhaus lag. Hiervon rührt ein Trauma meines Lebens. Denn als ich im Nachhinein alles erfahren hatte, was diese Anekdote ausmachte, stellte sich mir der Fall wie folgt dar: Mein Vater stand mit einer Krankenschwester an der Glasscheibe der Isolierstation und deutete hinein, auf mich. Der da solle das Paket mit den Früchten erhalten. Die Schwester aber gab es dem Jungen im Nachbarbett. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es eigentlich für mich bestimmt war. Der Junge nebenan begann also eine Orange zu schälen und der unbeschreibliche Duft, den kein Scharlach-Kind jemals gerochen hatte, füllte im Nu den großen Raum. Ich sah dem Jungen eine Weile beim Genuss zu, dann fragte ich vorsichtig, ob er mir ein Stückchen von der Orange abgeben würde. Das tat er umstandslos. Ein Stückchen. Mehr nicht. Danach schaute ich wieder zu. Immer wieder. Bis alle Orangen und Bananen vertilgt waren. Erst als ich wieder nach Hause kam und mein Vater fragte, wie denn das Obst aus dem Westen geschmeckt habe, erschloss sich uns das ganze Verhängnis. Es grub sich in meine Seele und zeugte den immerwährenden Wunsch, den Verlust zu tilgen. Noch heute esse ich außerordentlich viele Südfrüchte.

Meine Schwester erfuhr ihre eigenen Prägungen durch die Mängel der DDR. Sie nahm einmal unbemerkt eine Kartoffel von dem Haufen vor dem Konsum mit nach Hause. Dort entdeckte meine Mutter die Konterbande. Die kleine Diebin musste die Kartoffel weinend wieder zurücktragen und sich entschuldigen. Im Kindergarten erbrach sie den Reisbreit, den sie gegen ihren Willen zu essen hatte. Da zwang sie die Erzieherin, das Erbrochene erneut zu sich zu nehmen. Ich ersparte mir solche Erfahrungen und bleib nicht mal einen ganzen Tag im Kindergarten. Mittags lief ich weinend nach Hause und rief: »Ich will zu meiner Mama!« Die erbarmte sich.

Wir Kinder hatten drei riesige Abenteuerspielplätze. Einen hinter dem Wohnblock meiner Großmutter auf der Zehnt, mit Schaukel und Karussell, vor einer angrenzenden tiefen Schlucht. Die war teilweise etwas unheimlich, doch wild-romantisch für die kindliche Fantasie. Der zweite Schauplatz war die große Grünfläche zwischen den Wohnblocks der Zehnt. Wir konnten uns in den Büschen verstecken und aus den Zweigen der Hecken Bogen und Pfeile schnitzen. Ein Maibaum wurde jedes Jahr auf diesem Hof aufgestellt und von den älteren Kindern erklettert, bevor die Erwachsenen den Vogel von seiner Spitze holten. Ich hatte ständig aufgeschlagene Knie, denn ich pflegte die Stufen vor unserem Haus herabzustürzen, fast täglich. Das war mir aber egal, auch wenn das Blut lief. Das dritte Spielparadies war der junge Garten, den mein Vater außerhalb der Zehnt angelegt hatte. Im Sommer spielten wir im Gartenhäuschen, meine Oma versorgte uns mit Kuchen. Der Duft des Holzes dieser Hütte ist mir so bleibend in Erinnerung wie jener des Lacks der Holzspielzeuge in dem heute noch existierenden Kindergeschäft nahe dem Marktplatz.

Bei meinem ersten Doktorspiel mit einem Mädchen in einem Kelleraufgang wurde ich ertappt und beim Sonntagsbraten in der Wohnküche meiner Großmutter der wiehernden Heiterkeit der Erwachsenen preisgegeben. Im Winter wurde ich von den anderen Kindern ausgelacht, weil ich beim Schlittenfahren hinter der Zehnt zwar die Wäschestangen unfallfrei umfuhr, dann aber die sanfte Rechtskurve durch ein Gartentor hinab zu einem Flüsschen nicht schaffte, sondern geradeaus weiterfuhr, gegen den Maschendrahtzaun eines Hühnerstalls, wieder und wieder. Bis ich den plattgelegt hatte und die Hühner frei auf der Rodelbahn herumliefen. Zu unserem Hund Purzel hatte ich ein gespanntes Verhältnis. Das heißt: Er zu mir. Wenn ich nach seinem gefüllten Fressnapf griff, knurrte er mich gefährlich an und fletschte die Zähne. Ich gewann aber den Machtkampf, jedenfalls hat er mich nie gebissen. Er jedoch wurde von einem größeren Hund totgebissen. Meine Großmutter ließ ihn in der Frühe alleine vors Haus, er ging dann auf Entdeckungstour, erledigte seine Geschäfte, um dann irgendwann von alleine zurückzukommen. An seinem letzten Morgen kam er jedoch nicht mehr. Meine Großmutter hat ihn lange gesucht. Und dann, nach Stunden, tot gefunden, mit Bisswunden am Hals.

Mit meinem Großvater, der nach unserem Wechsel in den Westen früh an Asthma starb, unternahm ich regelmäßig Spaziergänge zu einer romantischen Bank unter einem Baum. Dort pflegte er uns einen Apfel zu schälen – und der war mein größter Kindheitsgenuss. Weiterlaufen wollte ich nicht, ich war fußfaul und kam rasch ins Jammern: »Opa, ich seh unser Haus schon gar nicht mehr.«

Die politischen Zeitumstände sickerten nur beiläufig in die kindliche Gedankenwelt ein. Noch zu Lebzeiten Stalins, er starb 1953, wurde in Bad Salzungen ein Stadtfunk installiert, Lautsprecher an hohen Masten. Überall. Auch auf der Zehnt stand einer. Verbreitete tagsüber Musik, Propaganda und Informationen: »Im Konsum gibt es Kartoffeln auf Marken.« Ich wurde einmal im Stadtfunk ausgerufen, weil ich meiner Mutter davongelaufen war, als sie mich vor einem Milchgeschäft warten ließ, während sie drinnen einkaufte. Das dauerte zu lange, mir wurde fad und ich beschloss, am Bahnhof meinen Vater von der Arbeit abzuholen. Der kam aber erst am Abend, also stand ich unschlüssig auf dem Bahnsteig herum, bis ich mich auf dem Rückweg in der Stadt verlief, weinend bei der Volkspolizei abgegeben wurde und die über Stadtfunk ausrufen ließ: »Der kleine Uli sucht seine Mama.« Er fand sie bald.

Wenn meine Großmutter von der Zehnt mit mir an der Hand in die Stadt zum Einkaufen ging, dann passierten wir oberhalb des Sees, unweit der sowjetischen Kommandantur, eine verwunschene Villa. Es war die örtliche Stasi-Niederlassung. Fahrräder lehnten an den Mauern. Jedes Mal zog mich meine Großmutter auf die andere Straßenseite, und als ich nach dem Grund fragte, antwortete sie: »Da hört man nachts Schreie aus dem Keller, weil sie Menschen schlagen.« Na ja … Die nächtlichen Schreie hatte sie ganz gewiss nicht selbst gehört, denn nachts trieb sie sich nicht in der Gegend herum. Gerüchte. Was man sich so erzählte damals. Aber wo man Rauch sieht, muss es auch Feuer geben. Die Staatssicherheit verbreitete einigen Rauch. Im Dachgeschoss über der Wohnung meiner Großmutter lebte eine Krankenschwester. Da sie alleine war, suchte sie die Nähe zu meiner Oma und tauschte sich häufig mit ihr aus. Als eines Tages zwei unbekannte Männer mit Hüten nach ihr fragten und die Treppe emporstiegen, kam sie nach dem Besuch weinend herunter und erzählte, das Duo habe sie zur Spitzelei gedrängt. Es waren Stasimitarbeiter, vermutlich suchten sie jemanden in der Nähe von Ärzten, die in jenen Jahren in großer Zahl in den Westen türmten, wo sie ein Vermögen machen konnten. Im Osten fehlten sie dann.

Die Zwischenphase der fortschreitenden Entwurzelung, im Wartesaal zwischen zwei Systemen, ging 1957 zu Ende. Die DDR legte keinen Wert mehr auf die nicht berufstätige Mutter mit zwei Kindern – noch dazu aus einem »falschen« Elternhaus. Sie ließ uns gehen. Wir wurden aus der Staatsbürgerschaft entlassen und durften ganz legal umziehen – daher auch später zu Verwandtenbesuchen in die DDR zurückkehren. Mit klammem Herzen verabschiedete ich mich von Freunden und Familie. Würde ich sie je wiedersehen? Die Umzugskisten wurden zugenagelt und zum Bahnhof gefahren. Auf dem Bahnsteig gab es einen tränenreichen Abschied. Wie jedes Mal, wenn wir später – Mutter, Schwester und ich, der Vater durfte nicht – zu Besuch in die Heimat zurückkehrten. Tränen bei der Ankunft. Tränen beim Abschied. Gezogen wurde der Zug von Bad Salzungen nach Eisenach von einer Dampflok. Wenn ich später wieder auf der Route fuhr, zurück nach Bad Salzungen, öffnete ich innerlich jauchzend das Fenster und streckte den Kopf hinaus, selbst im Tunnel. Wenn ich ankam, war das Gesicht rußgeschwärzt. Das machte mir nichts aus. Ich mochte den Geruch des Rußes.

Nun aber, bei der Ausreise aus der DDR, nahmen die Sinne nichts wahr. Ich war innerlich leer und als wir die Grenze passierten, am Bahnhof Gerstungen, wurde der Verlust schmerzlich. Auf DDR-Seite gaben Fahnen und Parolen, deren Sinn ich nicht verstand, ein buntes Bild. Auf der westdeutschen Seite, in Herleshausen, sah es dagegen grau und langweilig aus. Ich fiel in Verzweiflung, in ein tiefes Loch. Was wird bloß aus mir? Aus uns? Meine seelischen Luftwurzeln fanden keinen Halt. Dieses Gefühl erlebte ich zum ersten Mal, fortan aber immer wieder.


Der Schrei des Hasen

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