Читать книгу Der Schrei des Hasen - Hans-Ulrich Jörges - Страница 12
Die Armut des Westens
ОглавлениеDie Ankunft im anderen Deutschland war ein Schock. Wir stürzten vom relativen Wohlstand der DDR in die nackte Flüchtlingsarmut der Bundesrepublik. Der Goldene Westen war für uns nicht vorgesehen, wir sahen, wir spürten ihn nirgends. Jedenfalls nicht in dem nordhessischen Dörfchen Abterode, unweit der Kreisstadt Eschwege und damit der innerdeutschen Grenze, wo ich meinen Vater wiedersah. Die bohrenden Fragen, die sich angesammelt hatten, konnte er nicht beantworten. Warum sind wir hier? Warum geht es uns so schlecht? Sollen wir etwa für immer hierbleiben?
Der Westen begrüßte mich mit einer vollgeschissenen Hose. Das passte. Nicht etwa, dass ich selbst in die Hose gemacht hätte, aus Angst, aus Verzweiflung. Nein, ich bekam eine braune, kurze Hose aus Bleyle-Strickstoff durch eine Kleiderspende der Caritas – und die hatte versäumt, das vermeintlich gute Stück vor seiner Übergabe zu reinigen. Es klebte darin die verkrustete Hinterlassenschaft des Vorbesitzers. Seine offenbar wohlhabende Mutter – Bleyle war nicht billig – hatte wohl beschlossen, das Braune im Braunen lieber wegzuschenken als auszuwaschen. Ich ekelte mich davor und trug die Hose nie.
Wir wurden empfangen wie die meisten Zonenflüchtlinge dieser Jahre. Wir waren nicht willkommen, wurden bestenfalls herablassend beäugt, zumeist aber mit Nichtbeachtung bestraft. Die Migranten, die ihren armseligen Status mit einem Flüchtlingsausweis nachweisen durften, wurden wie Konkurrenten behandelt, Konkurrenten um Wohlstand, Arbeit und Wohnraum. Wir landeten in einer Holzbaracke und stapften bei Regen durch den Matsch vor der Tür. Womöglich waren in der Behausung unter den Nazis Zwangsarbeiter untergebracht gewesen.
Meine Eltern fanden zum Glück eine kleine Wohnung im Dorf bei einem Ziegenzüchter. Er wohnte mit seiner Frau unten, wir im ersten Stock als Untermieter. Ziegen stinken, und das, was sie von sich geben, erst recht. Vor der Haustür stanken Misthaufen und Jauchegrube. In deren grünlich-braune Suppe bin ich beim Spielen gleich zweimal gestürzt, mit Haut und Haaren. Ich stank erbärmlich und kippte Gülle aus den Gummistiefeln. Der Ekel reichte ein Leben lang. Niemals gab ich Ziegenkäse oder Ziegenmilch eine Chance. Nachdem ich damals die erste Ziege gestreichelt hatte, roch ich angewidert an meinen Händen.
Das Leben auf dem Hof war primitiv. Geheizt wurde mit Holz im Brennofen, aber nur in der Wohnküche. Im Haus gab es weder Badezimmer noch Toilette. Wer austreten musste, hatte quer über den Hof, um eine riesige Scheune herum, am Ende auf einem Brennnesselpfad zu einem hölzernen Plumpsklo zu laufen, wo im Sommer die Schmeißfliegen summend Vollversammlungen abhielten. Nachts war der Weg unbeleuchtet und eine Taschenlampe gab es nicht. Das vor Angst schlotternde Kind starrte mit aufgerissenen Augen ins Dunkel und tastete sich voran, durch die Tür des Scheißhauses, auf den stinkenden Trichter. Das war so fürchterlich, dass ich die Sache eines Nachts abzuwenden versuchte und mich für das große Geschäft schon vor der Haustür auf den Misthaufen der Ziegen hockte. Da öffnete sich die Tür und ich saß mit blankem Hintern im hellen Licht. Unter den Augen des wütenden Bauern. Meine Eltern wurden schreiend geweckt und hatten öffentlich zu geloben, dass sich eine solche Schweinerei niemals wiederholen werde. Der Bauer züchtete indes nicht nur Ziegen, er mästete für den Eigenbedarf auch ein Schwein. Ich wurde schockierter Augenzeuge meiner ersten Schlachtung. Drei Männer hatten der Sau Stricke um die Beine gebunden und zogen sie daran auf den Boden. Der vierte sollte sie mit dem Beil betäuben. Er schlug ihr mit dem stumpfen Ende vor den Kopf, traf sie aber nicht richtig, sodass sich das Tier in Todesangst losriss und quiekend, die Seile an den Beinen hinter sich herziehend, über den Hof rannte. Es dauerte eine Weile, bis die Mörderbande das Tier zu fassen bekam und wieder auf den Boden warf. Diesmal schlug der Vollstrecker mit dem spitzen Ende der Axt zu und der Kopf der Sau platzte auf. Danach wurde ihr mit dem Messer in den Hals gestochen, um das herausquellende Blut in einer Schüssel für die Blutwurst aufzufangen. Ich war tierlieb und durch den brutalen Mord schwer schockiert. Anfangs. Sobald die Leiche aber heiß gebadet und rasiert war, aufgeschlitzt und von den Innereien befreit, sobald sie also als Nahrungsmittel erkennbar wurde, verebbte die Abscheu vor dem Töten. Ich hatte immer Hunger und bekam denn auch als Zeuge etwas ab vom Ertrag der Bluttat.
Überhaupt: Wir zählten zu den Armen im Dorf. Wir hatten keine Landwirtschaft und nährten uns überaus mühsam. Fleisch war selten auf dem Tisch. Eher Quark und Kartoffeln, Eier und Senfsoße. Also bettelten die Kinder der armen Leute Anfang Dezember, wenn die Schweine geschlachtet wurden, bei den Bauern. Man versteckte sich hinter Büschen und Schneehaufen, bis es dunkel wurde, schlich sich dann an die Tür des Hofs und warf ein Emailleschüsselchen in den Flur. Unterm Scheppern des Gefäßes wurde ein ritueller Spruch aufgesagt. »Kling, klang, Dippchen fang, Wurst und Fleisch und Kraut dermang.« So ist er mir jedenfalls in Erinnerung geblieben. Dann rannte man zurück ins Dunkel und wartete, bis sich die Tür wieder öffnete und der Bauer die mit Wurstsuppe oder Kesselfleisch und Sauerkraut gefüllten Schüsseln herausstellte. Ich eilte, wie meine Spießgesellen, durch die Kälte nach Hause, wo die Familie schon erwartungsvoll um den Küchentisch saß, bereit für den seltenen Schmaus.
Wir alle waren entwurzelt, fremd in diesem Deutschland, mein Vater aber fand anfangs auch beruflich keinen Halt. Beim Finanzamt kam er nicht unter, obgleich er den Beruf des Steuerprüfers ja nicht in der DDR, sondern noch im alten Reich gelernt hatte. Ich vermute, dass er bei seiner Vernehmung nach der Flucht die Wahrheit gesagt hatte: SED, Parteiausschluss, Stasi, Dekonspiration. Im Kalten Krieg der 50er-Jahre war das auf westlicher Seite eine Misstrauen erregende Melange. Keine Brücke zur Beamtenlaufbahn. Beamte mussten ja jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung … Also schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch. Ein Tankstellenpächter mit großer Reparaturwerkstatt für schwere Lastwagen beschäftigte ihn als Aushilfe, eine Musiktruhenfabrik am Ort steckte ihn in einen Lkw und ließ ihn Geräte ausliefern, ein Bäcker schickte ihn samstags mit einem Kombi los, um Brot auszufahren. Ich hockte währenddessen unter dem Küchentisch des Bäckers, gut verborgen hinter der tief hängenden Decke, und erforschte den spannendsten Winkel seiner Tochter Ella. Danach durfte sie meinen entdecken.
Mein Vater eröffnete mir später, als er den sozialen Aufstieg aus dem Nichts geschafft hatte, er habe, im Lastwagen unterwegs mit Musiktruhen, hin und wieder überlegt, ob er an den Pfeiler einer Autobahnbrücke rasen solle, um seinem verkorksten Leben ein Ende zu bereiten. Nur der Gedanke an seine Kinder habe ihn davon abgehalten. Ich war irritiert. Nicht auch der Gedanke an seine Frau? Oder war das nur ein Spruch?
Einmal fuhr seine Vergangenheit ins Dorf. Aufsehenerregend. Ja, geradezu sensationell. Ein amerikanischer Straßenkreuzer mit riesigen Heckflossen schaukelte über die nicht asphaltierte Straße und zog einen Schwarm johlender Kinder hinter sich her. Die hatten ein solches Schiff noch nie zu Gesicht bekommen. Ich auch nicht. Da sah ich, zu meinem Entsetzen, dass es in den Hof unseres Ziegenzüchters einbog, zwei Men in black ausstiegen und das Haus betraten. Schwarze Anzüge, dünne schwarze Krawatten, schwarze Hütchen. Einer der beiden hatte auch noch schwarze Haut. Mutmaßlich der erste Schwarze im Dorf. Mir war klar: Die wollen zu meinem Vater. Es waren offenbar CIA-Leute, die hier zum Hohn auf jede geheimdienstliche Tarnung höchst komfortabel einritten und meinen Vater zu seiner bewegten Vergangenheit im Osten befragten. Mich machte das dem Dorf noch fremder. Alle zerrissen sich darüber die Mäuler. Wir waren nicht nur Flüchtlinge, sondern auch noch geheimnisvolle Exoten.
Fast an jedem Wochenende fuhren wir an die Grenze, voller Heimweh. Blickten hinüber nach Thüringen und winkten den Bauern, die dort auf den Feldern ernteten oder Heu machten. Gelegentlich winkte auch mal einer zurück. Die Grenze bestand damals nur aus einem Stacheldrahtzaun, nicht viel anders als der Zaun einer Viehweide. Minen und Selbstschussanlagen gab es noch nicht. Wenn man nah heran trat an den Stacheldraht, liefen Wachposten auf der anderen Seite direkt an einem vorüber, man hätte nach ihnen greifen können. Einmal stand neben meinem Vater und mir ein eigentümliches Männchen, runzelig und mit wirrer Frisur, dem vorne die Zähne fehlten. »Kommt rüber, hier könnt ihr Weißbrot fressen«, rief er der Doppelstreife zu, die vorbeilief, die Maschinenpistolen über der Schulter. Die beiden ließen sich nicht provozieren, sahen ungerührt geradeaus.
Der Satz vom Weißbrot hat sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Er hat mich lange beschäftigt. Stammte der Zahnlose auch aus dem Osten? War er wegen Weißbrot abgehauen? Warum gerade Weißbrot? War das der Ausdruck von Wohlstand? Gab es das drüben nicht? Konnte man nur wegen Weißbrot flüchten? Und was mochten die beiden Grenzsoldaten denken, als sie den Satz gehört hatten? Mir jedenfalls taten die Posten leid, mir war die ganze Szene peinlich. Irgendwie waren die Grenzwächter doch Landsleute aus dem Land, in dem ich geboren war. Würde ich vielleicht nicht auch irgendwann Streife gegangen sein, wenn meine Eltern geblieben wären? Und verlockte der Weißbrotspruch zur Flucht – oder schreckte er davon ab? Weißbrot wollte ich jedenfalls nicht mehr essen, seit diesem Erlebnis. Weißbrot ist ein Luxus für Zahnlose.
Das Auskommen der Familie war schäbig. Das köstlichste Mahl jener Zeit waren mühsam im Wald gepflückte und von meiner Mutter für den Winter eingemachte Blaubeeren, als Beilage zu Pfannkuchen. Dreimal im Jahr gab’s ein wenig Schokolade, an meinem Geburtstag, an Ostern und zu Weihnachten. Ansonsten tat’s auch ein Apfel. Oder eine Handvoll grüne Stachelbeeren, die ich irgendwo vom Strauch gestohlen hatte. Die Kleider waren abgelegt, die Pullover kratzig. Ich trug im Herbst Strumpfhose unterm kurzen Beinkleid. Das war ein kleiner Fortschritt, denn im Osten trug ich noch Strapse und befestigte daran lange Strümpfe. Ein Junge mit Strapsen! Die, immerhin, war ich nun los.
Spielzeug bastelte ich mir aus dem, was herumlag auf dem Hof oder in der Natur wuchs. Pfeil und Bogen etwa. Gekaufte Spielsachen hatte ich kaum. Einmal schenkten mir meine Eltern einen hölzernen Lastwagen mit Kippmulde hintendrauf. Die Auflage baute ich umgehend ab, sie war mir zu langweilig, und ersetzte sie durch eine leere Zigarrenkiste, die ich auf den Lkw nagelte. Bei meinen Eltern kam das handwerkliche Meisterstück indes nicht gut an. Ich bezahlte es bitter, mit einer Ohrfeige.
Das Dorf bot mehr als genug Ablenkung und Abenteuer. Im Frühjahr sammelte ich Maikäfer in einer Kiste, im Sommer Kartoffelkäfer im Plastikeimer – und ließ sie von den Hühnern unseres Ziegenzüchters aufpicken. Das Massaker erfüllte mich mit heiligem Schauer. So nah lagen sie also beieinander, Leben und Tod. Des einen Tod bedeutete des anderen Leben. Ich hockte über dem Richtplatz und streichelte mal das Opfer und mal die Henkerin. Im Herbst half ich bei der Kartoffelernte und freute mich feucht-klamme Stunden lang auf das Feuer, in dem am Ende Kartoffeln geröstet wurden. Sie wurden einfach in die Glut geworfen und als die Schale aufplatzte, mit einem Stock herausgerollt, in der Handfläche geschält und gegessen. Eine Köstlichkeit für Hungerleider.
Einmal besuchte uns Oma Toni, die Mutter meiner Mutter, aus Bad Salzungen. Sie besah sich das Elend, in dem wir hausten, voller Mitleid. Ein wenig schockiert. Uns Kindern hatte sie Schokolade aus der DDR mitgebracht, die in Wahrheit aber gar keine war, sondern aus Kakaoersatzstoffen bestand. Schmeckte grauenhaft, doch so ausgehungert, wie wir waren, verschlangen wir sie dennoch gierig. Der Besucherin war es auch gelungen, Silberbesteck aus dem Familienerbgut über die Grenze zu schmuggeln, an ihrem Körper versteckt. Nun hatten wir wenigstens ein prächtiges Besteck für die Festtage, auch wenn es auf den Tellern weniger prächtig aussah.
Zum Trost gab es noch Ärmere im Ort. Die Familie Kohn. Mit elf Kindern, wie die Orgelpfeifen. Der Vater war Alkoholiker und hielt ein paar Ziegen, die Mutter war beleibt und ungemein gutmütig. Die Kinder liefen mit verfilzten Haaren und mehrfach abgelegten Klamotten herum, in den Augenwinkeln gelbe Krusten. Im Dorf nannte man sie die Köhnchen. Wenn eines dieser Köhnchen eingeschult wurde, hielt es als einziges Kind eine leere Zuckertüte im Arm, die schon seine Geschwister getragen hatten. Ich wurde mit einem Köhnchen eingeschult und es tat mir unendlich leid. Auf dem Klassenfoto von der Einschulung bin ich mit der Kleinen zu sehen, trage eine zu kurze Strickjacke über der Cordhose und habe den blonden Pony schräg über die Stirn geschnitten. Das Köhnchen, dessen Vornamen ich nicht erinnere, trug ein verschossenes Kleid. Wir waren ein Pärchen, von der Not getraut. Immerhin: Meine Zuckertüte war gut gefüllt.
Ich spielte mit dem zotteligen Mädchen, half ihm in der Schule und verwöhnte es gelegentlich mit einer Süßigkeit, die ich allerdings selbst erst organisieren musste. Kleinstkriminell. Wenn mein Vater einen Brief geschrieben hatte, schickte er mich damit zur Postfiliale, die in einem kleinen Lebensmittelladen nebenher geführt wurde. Ich kaufte von den paar Groschen, die mir mein Vater mitgegeben hatte, allerdings keine Briefmarke, sondern warf den Brief unfrankiert in den Kasten und kaufte von dem Geld etwas Süßes, das ich mit dem Köhnchen teilte. Das hatte ich schon auf dem Weg zur Post abgeholt. Es war ein großes Glück mit uns beiden. Bis eines Tages der Posthalter zu meinen Eltern nach Hause kam und stockend, mit schlechtem Gewissen, vorbrachte, er wisse ja, dass es uns nicht gut gehe, dass wir als Flüchtlinge viele Entbehrungen zu tragen hätten, aber auf Dauer könnten wir unsere Briefe nicht ohne Briefmarken einwerfen. Mein Vater schluckte das schweigend, entschuldigte sich und versprach Besserung. Aber er verriet mich nicht. Als der Mann gegangen war, packte er mich allerdings am Schlafittchen und fragte mich ganz ruhig: »Siehst du ein, dass du eine Strafe verdienst?« Ich bejahte ohne Zögern, denn ich glaubte, er würde mich begnadigen, wenn ich die Schuld eingestand. Denn warum musste man strafen, wenn der Delinquent geständig und reuig war? Das war ein Irrtum. Ich musste mich bücken, das Gesäß hinhalten und bekam eine Tracht Prügel, von der Hand des Scharfrichters.
Fortan hatten das Köhnchen und ich Diät zu halten – das Köhnchen ungleich strengere. An einem Weihnachtsfest brauste die Nachricht durchs Dorf, wie der Vater seine Frau und die elf Kinder verladen hatte. Er kam am Heiligen Abend betrunken aus dem Wirtshaus, griff sich vor dem Haus ein Brett und schlug es im Dunkeln krachend auf die Mauer des Misthaufens. Dann betrat er die Wohnküche, wo alle mit großen Augen auf die Bescherung warteten. Der Vater aber beschied ihnen, er habe soeben das Christkind erschossen – den Schuss hätten sie ja gehört –, dieses Jahre gebe es nichts. Meine Fantasie reicht nicht, um mir vorzustellen, was in meinem Köhnchen vor sich ging und wie es dieses »Fest« verbracht hatte. Immerhin: Einen ärmlichen Weihnachtsbaum hatte die Mutter besorgt und in der Küche aufgestellt. Ich schaute am zweiten Feiertag vorbei, bewunderte den dürftig geschmückten Baum und brachte meinem Köhnchen eine Orange und Nüsse.
Bei uns brannte einmal der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer lichterloh. Wir hatten echte Kerzen am Baum und als die an Heiligabend entzündet waren, die Bescherung gerade zelebriert werden sollte, fing ein Ast Feuer. Im Nu schossen die Flammen den Baum empor, es ging um Sekunden, um einen Wohnungsbrand, womöglich ein Feuer im gesamten Haus zu verhindern. Mein Vater war geistesgegenwärtig. Er riss den Vorhang zur Seite und das Doppelfenster sperrangelweit auf, griff den brennenden Baum ganz unten am Stamm und warf ihn mit der Spitze voran im hohen Bogen aus dem Fenster. Er landete im Hof, der Schnee erstickte die Flammen zum Teil, doch der größte Teil der filigranen Christbaumkugeln, alte Familienstücke, aus der DDR hinübergerettet, zerbrach. Ein unwiederbringlicher Verlust. Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen? Mag sein. Bei uns fraß er vom kleinsten.
Mit unserer Familie aber ging es über die Jahre langsam aufwärts. Mein Vater kam schließlich doch beim Finanzamt unter. Allerdings nur als Angestellter, was er sein Leben lang blieb. Der Beamtenstatus wurde ihm hinhaltend verwehrt, vermutlich wegen der SED-Mitgliedschaft und der Unterschrift für die Stasi. Karriere machte er dennoch. Er war wieder in die SPD eingetreten und besuchte öfters einen Landtagsabgeordneten, der ihm helfen wollte, wieder in Lohn und Brot zu kommen. Ich vermute, er hat ihm am Ende auch geholfen. Der gefestigte soziale Status war schon daran abzulesen, dass sich mein Vater einen gebrauchten Motorroller zulegte. Mit dem fuhr er die Familie sonntags – Mutter, Tochter und Sohn jeweils einzeln hintendrauf – in die Natur. Der kleine Wohlstand der nicht mehr ganz so armen Familie kam voran, der Motorroller wurde gegen ein Auto eingetauscht. Es war ein fast dreißig Jahre alter Vorkriegs-DKW. An dem Oldtimer waren nur die Motorhaube, die Abdeckung des Kofferraums und die geschwungenen Kotflügel aus Stahl. Der Rahmen war aus Holz, Wagendach und Seitenteile der Karosserie bestanden aus gelb und schwarz beschichteter Pappe. Wir polierten die gelben Teile mit Bohnerwachs. Das Sozialprestige dieses Gefährts war allerdings gleich null. In jenen Jahren machte man mit einem VW, einem Opel oder wenigstens einem Goggomobil etwas her. Nachkriegsproduktionen.
Die Familie eines Freundes fuhr ein Goggo, was mir als Verkörperung von Wohlstand erschien. Das winzige Auto war eierschalenfarben und hatte rote Kunststoffsitze. Als ich einstieg, überkam mich ein Gefühl von Luxus. Unser DKW hatte zwar einen größeren Innenraum, dafür aber abgewetzte graue Stoffsitze. Gefahren wurde der knatternde Zweitakter mit einer Krückstockschaltung, die nach unten geknickt aus dem Armaturenbrett ragte. Jedes Mal, wenn die Familie einen Sommerausflug auf den Hohen Meißner unternahm, machte das betagte Gefährt an schwierigen Steigungen schlapp und wurde kriechend von allen anderen überholt. Schließlich blieb es stehen, weil der Kühler kochte. Ich wurde mit einer Flasche in den Wald geschickt, um einen Bach zu suchen und Wasser zum Nachfüllen zu holen. Das war abenteuerlich. Und ungemein mühsam. Beheben ließ sich der Mangel nicht. Vier Personen waren für den Motor einfach zu schwer. Selbst mit leeren Geldbörsen.
Der Einschulung ging ein Test voraus, um die Schulreife der Kinder zu beurteilen. Alle Neuen wurden an einem Samstag einbestellt, in eine Klasse gesetzt und bekamen den Auftrag, auf einem Blatt Papier etwas zu »schreiben«. Ich hatte schon ein paar Wörter gelernt und brachte die in Schönschrift aufs Blatt. Mama, Papa, Auto, Haus … Aber nach einer Zeile hatte meine vorschulische Bildung schon ihre Grenze erreicht. Ich schaute mich um in der Klasse und sah zu meinem Schrecken, dass die anderen schrieben und schrieben und schrieben. Ihr ganzes Blatt voll. Also begann ich noch mal: Mama, Papa, Auto, Haus … Zwei Zeilen. Als die Blätter eingesammelt wurden, war ich verzweifelt. Überzeugt, als Einziger durchgefallen zu sein. Wie erleichtert war ich, als mir meine Mutter am nächsten Tag eröffnete, ich sei zugelassen und der Beste beim Test gewesen. Als ich einwandte, die anderen hätten doch viel mehr geschrieben, antwortete sie mir, die hätten nur in großen Schleifen herum gekritzelt. Ich aber hatte schon Wörter geschrieben …
Die Schule gab mir Halt. Die Lehrerin, eine Dame über 60, begegnete mir freundlich und gab mir zu verstehen, dass ein Flüchtlingskind besondere Zuwendung verdiente. Aber Freundschaften jenseits der Bäckerstochter und meines Köhnchen sind mir nicht in Erinnerung. Die Sprösslinge der Bauern schnitten mich. Ich spielte auf dem benachbarten Hof, im Stall bei den Kühen, im Garten, am Bach, auf den Feldern. Meist aber allein. Stürzte einmal in der Scheune von einem Balken hoch oben unterm Dach tief hinunter und landete auf dem strohbedeckten Boden. Die Luft blieb mir weg, ich konnte nicht mehr atmen. Öffnete den Mund, wieder und wieder, versuchte Luft zu ziehen. Konnte aber nicht. Und dachte schon: Jetzt stirbst du. Da wich die Atemlähmung, im letzten Moment. Ein andermal geriet ich, hinten auf dem Wagen eines Bauern sitzend, mit einem Bein in die Speichen eines Rades. Hätten die Ochsen stürmischer gezogen, wäre das Bein gebrochen worden. Vor Angst war ich indes unfähig, dem Bauern vorne zuzurufen, er solle halten. Der blickte sich zufällig um – und sah meine Not. Ich konnte dem Rad entkommen.
Wie auch dem Dörfchen, das mir zwei Jahre lang nicht zur neuen Heimat geworden war. Irgendwann kam mein Vater nach Hause und eröffnete der Familie, wir würden demnächst nach Fulda umziehen. Dort habe er eine Stelle als Betriebsprüfer am Finanzamt gefunden. Alle freuten sich, das dörfliche Elend, die Perspektivlosigkeit hinter sich zu lassen. Fulda, das hieß Rückkehr in städtisches Leben, nicht weit von der Heimat entfernt. Niemandem aus der Familie war das Herz schwer, als wir im Oldtimer des Vaters vom Hof fuhren, dem Möbelwagen hinterher. Endlich ließen wir das Zwischenreich der Armut hinter uns. Nur ich war ein wenig traurig, als ich sah, dass mir das Köhnchen nachwinkte. Ich wusste, es war nun ganz allein.