Читать книгу Der Schrei des Hasen - Hans-Ulrich Jörges - Страница 8

Оглавление

Was, zum Teufel, tat ich hier? Nie zuvor und niemals danach habe ich mich so weit entfernt von meinen moralischen Standards, von meinem Überzeugungskern, von Herz und Verstand. Was hat mich so deformiert, in wenigen Jahren, dass ich, der Kriegsdienstverweigerer, nach hochnotpeinlicher Befragung des Gewissens in erster Instanz anerkannt von einem Prüfungsausschuss, nun hier stand, auf freiem Feld, mit einem Gewehr in der Hand? Neben mir zwei der drei Freunde aus der Frankfurter Wohngemeinschaft, zeittypische Linksradikale wie ich, auch sie bewaffnet. Die halbautomatischen Kleinkalibergewehre – jede Patrone wird als Einzelschuss abgefeuert, nur die erste aber vom Schützen in den Lauf gehoben, die folgenden automatisch aus dem Magazin nachgeladen –, jene durchaus tödlichen Waffen also haben wir zu dritt bei einem Händler in der Frankfurter Innenstadt gekauft. Nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt. Das war Anfang der 70er umstandslos möglich, Volljährigkeit reichte. Ich war 20. Wir wurden nicht gefragt, wofür wir die Gewehre denn bräuchten. Aus freien Stücken tischten wir dem Waffenhändler das Märchen auf, wir wollten uns einem Schützenverein anschließen, um dort, auf dessen Schießanlage, gelegentlich das zu betreiben, was der Klub Sport nannte.

Schießsport aber bewegte uns, die wir uns gegenseitig Genossen nannten, keineswegs. Die Bewaffnung sollte uns vorbereiten auf revolutionäre Zeiten. Irgendwie. Diffus. Vorbereiten auf die linke Revolution in der Bundesrepublik, von der wir spätpubertär fantasierten bei Joints und Roll ‘n’ Roll und die, davon waren wir überzeugt, ohne Waffengewalt gegen die Büttel des Systems nun mal nicht zu haben war. Eine Revolution ist kein Deckchensticken, hatte Mao geschrieben in seiner kleinen, roten Bibel. Oder auch rüsten gegen einen faschistischen Putsch, den wir nach den unlängst durchgedrückten Notstandsgesetzen und nach unseren eigenen Demonstrationserfahrungen mit der Polizei an den Brennpunkten Frankfurts in greifbarer Nähe wähnten. Benno Ohnesorg war 1967 bei Protesten gegen den Berlin-Besuch des Schahs von Persien im Halbdunkel eines Hinterhofs von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras, vier Jahrzehnte später als Stasispitzel enttarnt, per Kopfschuss getötet worden. Im folgenden Jahr wurde Rudi Dutschke, Ikone der Rebellen, auf dem Kurfürstendamm in Berlin von einem verhetzten Rechtsradikalen niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt.

Die schießen wieder, die wollen uns umbringen! Der Satz wurde zum Mantra der Linksradikalen. Die Schöpfer des linken Terrorismus, die Gründer der Roten Armee Fraktion (RAF), fügten hinzu: Also müssen wir uns bewaffnen. Auch ich nahm den verhängnisvollen Satz: »Die schießen wieder« auf, wog ihn ab und stimmte dem Befund zu. Selbst meine Mutter, deren Liebe die linksradikale Verdrehung des Sohnes nicht zu brechen vermochte, teilte die Sorge, instinktiv. Sie hatte noch aus der Zeit vor der Flucht und Übersiedlung der Familie aus der DDR ein Sperrkonto bei der Sparkasse meiner Thüringer Heimatstadt. Ein paar Tausend Mark, die sie nicht ausgeben, nur in streng limitierten Kleinstbeträgen abheben durfte, wenn sie zum Besuch ihrer Schwester zurück in den Osten kam. Sie hätte das Konto auflösen und das Geld der Schwester schenken können. Doch sie entschied sich anders, aus Sorge um den Sohn. »Falls du mal ins Exil in die DDR gehen musst, wirst du das Geld gut gebrauchen können«, eröffnete sie mir eines Tages. Ich hatte nur Spott dafür übrig. Niemals! Den Sozialismus der DDR verachtete ich. Unfrei, bürokratisch, degeneriert. Ich schwadronierte, wenn die Eltern nach meinen Vorstellungen fragten, und das war ziemlich oft, von einer Räterepublik, radikaldemokratisch, kulturrevolutionär. Die Räte sollten laufend basisdemokratisch neu gewählt werden und damit die Veränderungen der Zeitstimmung widerspiegeln. Unreif, chaotisch, dieses Konzept, zugegeben. Aber ungemein spannend. »Fantasie an die Macht«, lautete die Parole des revolutionären Mai 1968 in Paris, die mir am besten gefiel.

Dem Terrorismus aber wollte ich mich nicht verschreiben. Untergrund kam nicht in Frage, jedenfalls nicht so, wie ihn die RAF vorexerzierte. Militärisch. Rigide. Zum Fürchten. Auch wenn ich zu Hause, wie die anderen auch, das Schießeisen in den Händen hin und her wendete, an die Schulter legte, imaginäre Ziele ins Auge nahm und mit leerem Magazin abdrückte. Wir putzen die Dinger wie andere ihre Motorräder. In einer pervers aufblühenden Waffenliebe. Doch auch in dunkler, wühlender Furcht. Die Waffe konnte das Leben anderer beenden, auch das eigene. Das gelblich-transparente Waffenöl, mit dem ich Lauf und Magazin einstrich, gab diesem ambivalenten Gefühl den Geruch. Man vergisst ihn nie wieder. Aber es musste ja sein. Wer sich nicht wehrlos abknallen oder ins KZ stecken lassen wollte, musste sich vorbereiten. »Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen«, dozierte Mao. Und das erschien mir durch und durch plausibel, dem halbgaren, aufs falsche Gleis geratenen Moralisten. Beseelt von den höchsten Idealen der Menschheit. Doch im Nu abgestürzt von diesen Gipfeln.

Illegale wollten wir indes nicht werden, wir Politpubertären. Wir spürten, dass wir uns dem Sog in den Untergrund widersetzen mussten. Die Gewehre mussten eingehegt werden, zur Verfügung stehen, doch nicht zur Aktion drängen. Also besorgten wir uns Waffenbesitzkarten bei der Polizei. Das war ohne großen Umstand möglich. Man saß eine halbe Stunde auf einem Behördenflur, füllte einen Antrag aus – und erhielt die Karte, die zum Besitz des Gewehrs berechtigte. Das beruhigte das Gewissen, das sich noch nicht vollständig geschlagen geben mochte. Es gestaltete sie noch mit, diese prekäre Phase des revolutionären Bürokratismus, der staatlich geduldeten Vorbereitung zum Aufstand. Wenn die Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen sie sich eine Bahnsteigkarte, soll Lenin gesagt haben. Wenn sich Linksradikale gegen den vermeintlich faschistischen Staat bewaffnen, beantragen sie bei bei der entsprechenden Behörde desselben eine Waffenbesitzkarte, hätte es analog heißen müssen. Für uns.

Die Gewehre schlummerten, eingehüllt in grüne Jagd-Futterale, in den Schränken der Wohngemeinschaft. Doch ihre Besitzer drängte es zum Ausprobieren, zur Schießübung. Wir wollten wissen, wie die Dinger wirkten, wie weit es die tödlichen Kugeln trug. Also fuhren wir an einem Sonntagvormittag im Herbst, das Wetter war trüb, feucht und kalt, aus Frankfurt hinaus, um irgendwo ein freies Feld zu suchen, weit abseits des nächsten Dorfes. Die Knarren lagen im Fußraum vor der Rückbank des Käfers. Wir hatten die im Futteral unverkennbaren Schießprügel ganz offen am Riemen über der Schulter aus dem Haus im Frankfurter Nordend getragen, zum Auto. Wir haben doch nichts zu verbergen, wir haben Waffenbesitzkarten, wir fahren zum sonntäglichen Sportschießen.

Wir mussten eine Weile suchen, bis wir irgendwo im Hessischen ein abgeerntetes Feld in sanft gewellter Landschaft ausgemacht hatten. Ich ließ das Futteral im Auto zurück, ging voran und trug das Gewehr offen in der Rechten. Das Magazin schon geladen. Was suchten wir eigentlich genau? Einen markanten Stein? Einen Baum? Ein Tier? Wir hatten das im Ungefähren gelassen und damit auch die Frage unbeantwortet, welches Tier man überhaupt mit der Kugel statt mit Schrot jagen dürfe. Das hatte Folgen.

Ich stapfte unschlüssig über das gepflügte Feld, die Begleiter rechts und links zur Seite. Die schwere, nasse, schwarze Erde klebte an den Schuhen, Kälte kroch in die Jacke. Der Blick schweifte über die Fläche. Und blieb an einer Furche hängen. Da lag etwas. Geduckt, starr. Ein Hase. Die Ohren angelegt. Wäre er aufgesprungen und um sein Leben gerannt, die ungeübten Schützen hätten ihn gewiss verfehlt. Doch er blieb sitzen, wähnte sich unerkannt. Den nehmen wir. Ich war der Anführer, ich hob das Gewehr an die Schulter, zielte – die beiden anderen folgten – und drückte ab. Die Kugel traf den Hasen in den Leib.

Was nun folgte, kann ich nicht mehr vergessen. Der Hase schrie. Einen Schrei, wie ich ihn noch nie gehört hatte. Und danach nie wieder hörte. Hell und hoch. Wie ein verletztes Kind. Hockte aber immer noch in der Furche und schrie und schrie. Vermutlich konnte er nicht mehr fliehen. Und wir, die drei Jäger, wurden gepackt von Entsetzen. Welch Grauen erregender Schrei. Schier endlos. Ohne Atempause. Ganz hell, ganz hoch. Der Jagdimpuls erstickte in Panik. Schluss mit diesem Schrei! Hör auf! Wir schossen mehrfach. Zweimal, dreimal, viermal. Liefen schießend auf den Hasen zu. Standen vor ihm. Er schrie noch immer. Ganz hell, ganz hoch. Dem Leiden ein Ende zu bereiten, ging nur durch feigste Tat. Den Nahschuss. Der Hase sah den Schützen dabei an. Mich. Ich meinte, er blicke mir in die Augen. Und ich drückte noch mehrfach ab, bis der Schrei erstarb. Mitleid mit der Kreatur würgte mich. Ich schämte mich. Abgrundtief.

Wir liefen zum Auto zurück. Stracks. Schweigend. Flüchtend. Im Innersten erschüttert. Wenn das ein Mensch gewesen wäre? Wie schreien verwundete, angeschossene Menschen? Vermutlich nicht so kindlich hell wie der Hase. Eher kehlig, dunkel, heiser. Doch nicht weniger grauenerregend und peinigend für den Schützen. Nie wieder. Niemals wieder würde ich mit dieser Waffe losziehen, wann und gegen wen auch immer. Nun hatte ich erlebt, was ich bei der Gewissensprüfung für Kriegsdienstverweigerer abstrakt ins Feld geführt hatte. Nun wusste ich auch, warum mein Vater, der als junger Gefreiter aus dem Krieg zurückgekehrt war, danach nie wieder ein Gewehr anfassen wollte. Nicht mal an der Schießbude auf der Kirmes. Er war Scharfschütze gewesen, Jahre an der Ostfront, dann am Ende im Ruhrgebiet. Kampf um Häuser und Fabriken. Elfmal war er verwundet worden, tiefe Narben und Krater übersäten seinen Körper. Als er nach Hause kam und sich zum Hochzeitsfoto mit der Mutter stellte, war er dürr und bleich, wirkte ausgeblutet und halb verhungert. Wie hatte er geschrien, als er getroffen wurde? Elfmal. Von Kugeln und Granatsplittern.

Der Schrei des Hasen war die Wasserscheide meines Lebens. Die Gewaltfrage war geklärt. Ein für alle Mal. Ich kroch zurück auf mein ethisches Fundament. Ich nahm mich heraus aus dem militanten Linksradikalismus, auch wenn ich da noch eine Weile mitschwamm, unschlüssig, orientierungslos, zog eine Grenzlinie, riss mich am Ende geradezu los. Das bleibt zu erzählen. Das Gewehr stand fortan in der hintersten Ecke meines Kleiderschranks, verborgen von Mänteln und Sakkos. Nie mehr geputzt. Der Zweite von der Hasenjagd übrigens wurde später Pressesprecher der Deutschen Bundesbank, der Dritte Antiquar in Frankfurt. Auch sie hatten sich befreit, jeder auf seine Weise.

Hier muss ich ein Geständnis ablegen, eine Versuchung der Feigheit beichten. Die prägende, quälende Episode mit dem Hasen konnte und wollte ich zunächst nicht in Ich-Form erzählen, sondern in der dritten Person, aus großer Distanz also. Denn der, um den es da ging, ist mir im Nachhinein rätselhaft wie ein Fremder. Ich wollte ihn nicht mehr an mich heran- oder in mich hineinlassen. Nur unter Qual und Scham, bei angestrengter Erinnerung der Zeitumstände, rückt er mir wieder nahe. Es hilft ja nichts, es gibt kein Entrinnen: Der war ich, der bin ich, der werde ich sein. Der mit der Waffe. Damals. Ich hatte verdrängt, wie so viele aus meiner Generation des Linksradikalismus. Sie beschweigen bis heute die Schreie in ihrer Erinnerung. Ich kann das nicht, ich will das nicht. Ich will rückhaltlos ehrlich sein. Verdrängen konnte und kann ich nicht für alle Zeit. Der Verirrung muss ich mich stellen. Denn ich halte sie für zeittypisch. Es ist daraus zu lernen. Für mich. Für andere. Und für andere Zeiten.

Das Gewehr, das nun unbeachtet im Schrank stand, das sich aber nicht aus dem Gewissen fortstellen ließ, begleitete mich noch einige Jahre. Was tun damit? Wie beseitigt man eine Waffe? Irgendwo in einen Fluss oder See werfen? Ich habe das in Erwägung gezogen und schreckte doch davor zurück, weil mich der Gedanke lähmte, jemand könne das Gewehr finden, reinigen – und benutzen. Als das Haus, in dem ich inzwischen die einstige WG-Wohnung mit meiner Freundin teilte, 1975 bei der Aktion Winterreise, einer bundesweiten Razzia gegen den Terrorismus, durchsucht wurde – ich war als Journalist ein paar Tage bei BP in London –, wurde die Waffe im Kleiderschrank nicht entdeckt. Unbegreiflich. Das Mietshaus im Frankfurter Nordend wurde wegen Brigitte Heinrich durchsucht, die im Erdgeschoss lebte, Kontakte zum Terrorismus hatte und bei der Razzia festgenommen wurde. Später saß sie für die Grünen im Europaparlament. Auch andere Bewohner dieses Hauses waren bemerkenswert, ich komme darauf zurück.

Das Gewehr nahm ich später mit nach Bonn, Helmut Schmidt war Kanzler, dann nach Berlin. Dort stand – ein Relikt der Nachkriegszeit – nach alliiertem Recht noch die Todesstrafe auf illegalen Waffenbesitz. Erst in München, Strauß regierte Bayern, vernichtete ich die Waffe. Ich zerschlug sie auf dem Betonboden meines Kellers im ehemaligen Olympiadorf, wo 1972 Palästinenser die israelischen Sportler als Geiseln genommen hatten. In einem Haus auf der anderen Straßenseite, damals das Mannschaftsquartier der Israelis, waren wieder Juden in Deutschland ermordet worden. Exakt in jener Zeit, als ich mich in Frankfurt bewaffnet hatte. Der Gedanke machte die Waffe im Keller unerträglich. Ich drosch zunächst den Kolben ab, dann verbog ich den Lauf. Und warf die Reste in den Müllschlucker.

Das war zu Beginn meines fünften Lebens. In dem jetzt, am Übergang zum sechsten, ein Brief der Noch-CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer neben mir auf dem Schreibtisch liegt. Sie wünscht mir »ein besinnliches Weihnachtsfest und Gottes Segen für das neue Jahr« 2021. Nichts könnte den Spannungsbogen dieses Lebens in sieben Jahrzehnten und zwei Jahrhunderten bildhafter beschreiben.


Der Schrei des Hasen

Подняться наверх