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Einübung des Widerstands

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Fulda verwies uns sofort auf den gesellschaftlichen Platz, der für uns vorgesehen war: politisch und kulturell randständig. Oppositionell. Freisinnig. Wir waren kaum in den gelben Wohlblock oberhalb des Stadtzentrums eingezogen, da nahm mich mein Vater mit zu einer katholischen Prozession durch die Innenstadt zum Dom. Solche Umzüge waren in dem erzkatholischen Städtchen an hohen Feiertagen üblich. Wir aber waren Erzprotestanten, 30 Kilometer vor Bad Salzungen hatte Luther auf der Wartburg mit dem Tintenfass nach dem Teufel geworfen. Von katholischen Riten hatten wir nicht die geringste Ahnung. Also gingen wir hinunter in die Stadt und stellten uns neugierig mitten unter die Gläubigen. Glocken läuteten, die Stimmung war feierlich, an den Masten wehten gelb-weiße Kirchenfahnen. Da sahen wir die Prozession auch schon herannahen, gemessenen Schrittes. Unter dem Baldachin die Monstranz mit den geweihten Hostien, der Bischof selbst hielt sie empor. Das katholische Volk kniete nieder und betete. Wir standen, mein Vater und ich. Als Einzige. Wir hatten ja keine Ahnung. Und so zu tun, als seien wir Katholiken, wollten wir auch nicht. Das aber bekam uns schlecht. Wir wurden wütend angezischt, mit Schlägen bedroht, an den Kleidern gepackt. Es herrschte so etwas wie Pogromstimmung. Wir rissen uns los und liefen davon. So war das hier also! Wir mussten Widerstand einüben.

Ähnliches widerfuhr uns noch ein zweites Mal. An einem warmen Sonntag im Mai ging ich mit meinem Vater über die Felder spazieren, als sich uns – schon von Weitem sanft schaukelnd zu erkennen – eine Himmelfahrtsprozession näherte. Die gleiche Szenerie wie vor dem Dom. Baldachin, Monstranz, Messdiener vorneweg, Gläubige hinterdrein. Als sie bei uns waren, zog mich mein Vater auf die Seite ins Getreide, um den Zug passieren zu lassen. Da stürmte ein junger Eiferer unter dem Baldachin hervor und schlug meinem Vater wortlos den hellen Sommerhut vom Kopf, wandte sich um und reihte sich wieder ein. Die Prozession entschwand, als wäre nichts gewesen. Ich empfand das als ungeheuerliche Provokation, ja Demütigung meines Vaters. Er rang sichtlich um Fassung. Ein solcher Übergriff war ihm nicht mal bei der Staatssicherheit widerfahren. Schweigend zog er mich davon.

In meiner Seele hinterließ das tiefe Spuren. Ich begriff: Hier lebst du in einer feindseligen Umgebung. Niemand nimmt dich an der Hand, niemand in den Arm, außerhalb der Familie. Meinen Vornamen Hans-Ulrich habe ich nie gemocht, ich ließ mich Uli nennen. Auf die Frage, warum sie mir diesen seltsamen Taufnamen gegeben hätten, antwortete mein Vater: »Ulrich nach Ulrich von Hutten, Hans nach mir.« Jetzt offenbarte sich, wie gut das passte. Ulrich von Hutten war 1499 von seinem Vater dem Kloster in Fulda übergeben worden. Dort lernte er Auflehnung und wurde zum Anhänger der Reformation gegen die Papisten. Religion und Gewalt waren in der Stadt des Bischofs Bonifatius aufs Engste verwoben. Um 1350 starben etwa 3000 Fuldaer an der Pest – und in der Stadt wurden 600 Juden erschlagen, weil man sie dafür verantwortlich machte. Anfang des 17. Jahrhunderts wurden rund 300 Frauen als Hexen verbrannt.

Das Katholische hatte Fulda so eisern im Griff, dass es zu bizarren Exzessen kam. Im November 1974 – ich lebte schon in Frankfurt und war vom Widerstand zur Revolution übergegangen – schändete ein früherer Schulkamerad, der inzwischen als freischaffender Künstler lebte, den toten Bischof im Dom. Eine ungeheuerliche Tat. Er brach nachts in das Gotteshaus ein, schob dem aufgebahrten Bischof die Kleider nach oben und manipulierte, wie es später amtlich hieß, an den Genitalien. Dann nahm er den Bischofsstab mit und vergrub ihn am Kalvarienberg. Die Tat war so schockierend, dass sie zunächst totgeschwiegen wurde. Bis mein späterer Freund und Kollege Egon Scotland davon Wind bekam und das Monströse publik machte, deutschlandweit. Scotland war als junger Reporter der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in die Stadt gekommen, schrieb später in München für die Süddeutsche Zeitung und wurde 1991 während der Balkankriege von einem Sniper in Kroatien erschossen.

Die Schändung des Leichnams von Bischof Adolf Bolte begründete der Täter vor Gericht mit »Hass auf die Kirche und ihre Würdenträger«. Lynchstimmung machte sich unter den Katholiken breit. Vor Wut Rasende verlangten »Aufhängen« respektive »Abhauen seiner rechten Hand«. Der Bericht über die Leichenschändung ließ die Betondeckel von der verborgenen Kanalisation der heuchlerischen Gesellschaft springen. Im Stadtteil Bachrain schissen Messdiener nächtens auf dem Altar in die Monstranz ihres neuen, erzkatholischen Priesters aus Schlesien. Ein paar Monate später passierte in der Edelzeller Kirche Ähnliches. Dort wurde auch noch das Gestühl angekokelt. Erst sehr viel später ging mir durch den Kopf, ob jener Bischofsschänder einst vielleicht selbst geschändet worden war. Als Kind. Von einem Priester – oder gar vom Bischof. Denn wie kommt man auf die Idee, einem Toten im Dom nächtens an die Genitalien zu gehen? Hass auf die Kirche lässt sich ganz anders zum Ausdruck bringen, politischer. Selbst im Dom.

Ich antwortete auf meine Weise. Fulda war erzkatholisch – also wurde ich erzprotestantisch. Wirklich gläubig. Ich betete täglich, etwa für gute Klassenarbeiten, besuchte sonntags den Kindergottesdienst und spielte Horn, danach Trompete im Kirchenorchester. In einem Schulchor nahm ich aber auch an einem Gastspiel im gegnerischen Milieu teil: Ich sang die Matthäus-Passion für katholisches Publikum, in der festlichen Orangerie. Dort stellte man mehr auf die Beine als die kleine evangelische Gemeinde von Trotzgläubigen. In Religion brachte ich es auf eine Eins im Zeugnis. Allerdings weniger wegen der Erstklassigkeit meines Glaubens, sondern wegen meines Spendenergebnisses fürs Müttergenesungswerk. Die Sammlung wurde einmal im Jahr von der evangelischen Kirchengemeinde organisiert. Man bekam eine verplombte Spendenbüchse in die eine und ein Sträußchen kleiner Papierblumen in die andere Hand, um davon den Spendern jeweils eine zu überreichen. Ich wusste die Freigiebigkeit mit Turbo zu beschleunigen. Hielt jeweils nur ein Blümchen in der Hand und sprach ausschließlich ältere Frauen beim Einkaufen an. »Ach bitte, mein letztes Blümchen …«, bettelte ich. Es funktionierte fast immer. Unter den Kindern hatte ich das beste Sammelergebnis.

Mein Vater – und damit die gesamte Familie – lebten aber auch noch in einer zweiten Diaspora. Er war Mitglied der SPD. Und gehörte damit einer hoffnungslosen Minderheit an. In meiner Klasse im Gymnasium gab es noch zwei andere Jungen, deren Väter sozialdemokratische Neigungen hatten – der eine betrieb sogar einen Großhandel mit Wolle, war also wohlhabender Geschäftsmann und fuhr einen mächtigen Opel Admiral. Alle anderen Klassenkameraden kamen aus schwarzen Elternhäusern. Was meine Schullaufbahn nicht unerheblich beeinflusste. Als zu Beginn des Schuljahres abgestimmt wurde, welche zweite Fremdsprache wir lernen wollten, Latein oder Französisch, wählte ich die lebendige Sprache. Wieder nur in einer Minderheit von drei Schülern. Die erdrückende Mehrheit bestand auf Latein. Die Konservativen wollten Ärzte werden oder Juristen, das ging nur mit Latein. Erstaunlich, wie politische, ökonomische und kulturelle Orientierungen bei solcher Gelegenheit verschmelzen.

Das Sozialdemokratische in unserer Familie sorgte bei jeder Wahl für ein schroffes Wechselbad der Gefühle. Mein Vater war Wahlhelfer und jedes Mal, wenn er am Morgen nach dem Frühstück loszog, tönte er: »Dieses Mal kommen wir über 30 Prozent!« Wenn er abends zurückkehrte, nach dem Auszählen der Stimmen, war er zerschlagen. Wieder nur weit unten im Zwanzig-Prozent-Turm. Die CDU kam auf mehr als 60. Schon am Briefkasten erkannte man morgens, dass mein Vater an die SPD glaubte. Wir hatten die Fuldaer Volkszeitung abonniert, das linke, kleine, aber unbeugsame Gegenblatt zur katholisch-konservativen Fuldaer Zeitung. Die Volkszeitung war einst unter schwierigsten Bedingungen von einem Kommunisten gegründet worden, was deren Lesern zeitlebens in der Wahrnehmung der Mehrheit Schwefelgeruch entströmen ließ.

Ich allerdings fühlte mich wohl in der doppelten Diaspora. Mein Widerstandsgeist wurde in Fulda geboren. Ich gewöhnte mich daran, allein zu stehen. Das machte stark. Ich prügelte mich gerne und meine Spezialdisziplin war dabei der Schwitzkasten. Man nahm den Hals des Gegners in die eigene Armbeuge und drückte zu, stellte ihm dann ein Bein und warf ihn auf den Rücken. Gab er dann nicht gleich auf, konnte man ihm noch die Knie rechts und links auf den Bizeps setzen und die Muskeln reiten, bis der Unterlegene schrie. Den Schwitzkasten brachte ich öfters zum Einsatz, wenn ich am Samstagnachmittag auf katholische Jungen lauerte, die von der Beichte aus der Kirche kamen. Sie waren gerade ihre Sünden losgeworden und deshalb nur eingeschränkt abwehrfähig. Mir machte das teuflischen Spaß, bis eines Tages der Vater eines Besiegten zu meinem Vater nach Hause kam und sich bitter beklagte. Sein Sohn könne sich nicht richtig wehren, weil er durch die Beichte gerade sündenfrei geworden sei. Mein Vater gab sich verständnisvoll. Als der Anschwärzer gegangen war, nahm er mich aber in den Arm und lobte mich für meine kleinen Siege im Glaubenskrieg.

Eine Erfahrung fürs Leben war eine winterliche Schlägerei. Ich fuhr mit vielen Kindern hinter unserem Haus Schlitten. Da gab es, zwischen Wäsche- und Teppichstangen, einen herrlichen Kurs mit drei Gefällen. Ich geriet mit einem anderen Jungen in Streit, der nicht in unserer Siedlung wohnte, weshalb er ohnehin schon schlechtere Karten hatte. Er traute sich nicht, mit mir eine Schlägerei zu beginnen, wandte sich ab und verschwand mit den Worten: »Ich hole meinen großen Bruder. Da wirst du schon sehen …« Mir wurde bange. Das könnte sich zu einer schrecklichen Niederlage auswachsen, unter den Augen der gesamten Kinderschar, die ansonsten großen Respekt vor mir hatten. Ich rodelte eine Weile weiter und begann schon daran zu glauben, dass der Streithahn wohl nicht zurückkehren werde, weil ihm sein großer Bruder den Vogel gezeigt hatte. Da kamen die beiden. Der Große zu mir: »Komm mal her. Ich höre, du willst was.« Ich folgte mit bangem Herzen und dem Gefühl, dass ich der Tracht Prügel wohl nicht mehr entgehen könne. Im Nu hatten die anderen Kinder einen Kreis um uns gebildet. Der Große überragte mich weit und blickte mir herausfordernd in die Augen. Mir ging durch den Kopf: Entweder er schlägt dich gleich zusammen – oder du greifst ihn an, womit er nicht rechnet, und wirst erst danach zusammengeschlagen, aber das ist der ehrenhafte Weg. Ich ließ die Leine meines Schlittens aus der Hand gleiten, ballte die Fäuste, stürmte auf den Großen zu und ließ einen Hagel von Faustschlägen auf ihn niederprasseln. Er leistete nicht die geringste Gegenwehr, beugte sich herab, versuchte das Gesicht zu schützen, wandte sich dann zur Seite, schließlich um – und lief davon. Flucht! Ich hatte den weit überlegenen Gegner mit Herz in die Flucht geschlagen. Die Lehre lautete für mich: Wenn dich einer angreifen will, komm ihm zuvor und greif ihn deinerseits an. Du zerschlägst mindestens seine Angriffsplanung. Danach boxe ich noch heute beim Sparring in meinem Berliner Boxclub. Angriff ist die beste Verteidigung, sagt der Volksmund. Da ist, wie bewiesen, etwas dran. Als ich dem Großen später in der Stadt begegnete, wechselte er die Straßenseite, sobald er mich sah. Er legte keinen Wert darauf, die Scharte auszuwetzen. Welch Triumph für den Kleinen!

Wir zogen 1958 nach Fulda. Ich kam dort zunächst in die Volksschule, ein altes Backsteingebäude. Die Klassenlehrerin bevorzugte Mädchen, unverhohlen, was ich empörend fand. Meine Zeugnisse waren dennoch sehr gut. Und ich verliebte mich zum ersten Mal – in eine blonde Mitschülerin. Schüchtern allerdings, wie ich es lebenslang blieb. Ich wagte nicht, sie anzusprechen. Erst als die Klasse im Winter einen Ausflug machte, bot ich ihr tollkühn und mit pochendem Herzen an, sie auf meinem Schlitten zu ziehen. Sie akzeptierte und blickte den anderen triumphierend in die Augen, als ich voranstapfte. Danach verfiel ich wieder in banges Schweigen. Als ich nach der vierten Klasse aufs Gymnasium wechselte, entschwand sie aus meinem Radius und ich hatte erstmals Liebeskummer. Während des Unterrichts und auf dem Schulhof hatte ich sie wenigstens anstarren können. Ich patrouillierte ein paar Tage vor ihrer Wohnung auf und ab, doch sie ließ sich nicht blicken. Also machte das Leben einen Schnitt.

Ich kam aufs Freiherr-vom-Stein-Gymnasium. Ein moderner Bau mit gläserner Pausenhalle und Wasserspeiern auf dem Schulhof. Die 60er-Jahre gelten als Jahrzehnt des Aufstiegs durch Bildung. Das stimmt. Ich war ein herausragendes Beispiel. Einer wie ich, einer aus immer noch wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen, ein Flüchtlingskind, ein Minderheitenknabe, einer mit falscher Religion und fehlfarbenem Vater, der wäre früher aussortiert, mindestens entmutigt worden. So wie mein Vater ja auch. Gymnasium war für ihn undenkbar.

Mit mir ging es bergauf. In der Volksschule war ich ein erstklassiger Schüler. Ich musste nicht lernen, die Dinge fielen mir zu. Ich dachte, das ginge auch auf dem Gymnasium so weiter. Das war ein folgenschwerer Irrtum. In der allerersten Klassenarbeit, einem Vokabeltest in Englisch, schrieb ich eine Sechs. Nichts gelernt, nichts gewusst, und die einzige Antwort falsch. »In Ordnung« übersetzte ich mit O.K. Bei der Rückgabe der Hefte hielt mir der Lehrer eine Standpauke, wie mein Vater dann zu Hause auch. Ich sei ja ein prima Kerl, aber eben stinkend faul. Und wenn sich das nicht ganz plötzlich ändere, bekäme ich ein echtes Problem auf der neuen Schule. Ich änderte es ganz plötzlich und glänzte fortan als einer der besten Schüler der Klasse. Nicht als Primus, das erschien mir nicht erstrebenswert, aber als Nummer zwei oder drei. Als Primus wurde man in der Klasse wechselweise bedauert oder verachtet, auf jeden Fall existierte man in drückender Bildungsisolation. Immer hübsch gescheitelt vom wässrigen Kamm, die Kleider frisch gebügelt. Der erste Primus in meiner Klasse, ein sympathischer Junge, einziger Sohn eines Polizisten, starb nach wenigen Jahren an Blutkrebs. Wofür, fragte ich mich, hatte er ständig gelernt? Jetzt war er tot, ohne je gelebt zu haben. Alle in der Klasse waren erschrocken.

Morgens, auf dem Weg zur Schule, durch neue Einfamilienhäuser, über weite Wiesen, den Blick schon auf das Haus des Freiherrn vom Stein geheftet, hatte ich Zeit, über meinen ungewohnten Aufstieg nachzudenken. Den Aufstieg aus dem Elend. Irgendetwas, das war mir klar, würde nun aus mir werden. Mit Abitur irgendwann. Aber was? Was wollte ich eigentlich? Akademische Träume waren mir fremd, dafür stand mein Elternhaus nicht. Schulfreunde, Söhne von Ärzten, wollten auch Ärzte werden. Ich aber wollte nicht aufs Finanzamt wie mein Vater. Dafür lohnte sich die Anstrengung nicht. Mich lockte, wie es in einer Zigarettenwerbung hieß, der Duft der großen weiten Welt. Der hellblaue Fortschritt der 60er-Jahre. Flugzeugkapitän wollte ich werden. Heute Rio, morgen Casablanca. Und immer platinblonde Stewardessen um mich herum, die es auf einen wie mich abgesehen hatten. Einen Flight Captain in maßgeschneiderter, dunkelblauer Uniform.

Der Weg dahin allerdings war lang und führte so steil bergauf, dass man ins Schnaufen kam. Ich mobilisierte alle Kräfte, tat mehr als nötig. Und fiel auf in der Schule. Ich sang im Chor, töpferte nachmittags, glänzte in der Leichtathletik-AG beim Hochsprung und baute superleichte Modellflugzeuge. Im September 1964 holte ich mit meinem »kleinen Uhu« bei einem Segelflugwettbewerb den vierten Platz. 104 Sekunden war das Modell in der Luft geblieben. Einmal legte mir der Direktor mit der mächtigen Hornbrille die Hand auf die Schulter und sagte, ich sei doch der, von dem er schon gehört habe. Vermutlich stimmte das sogar. Ich war der Flüchtlingsjunge aus dem Osten, der sich so gut machte. Aufstieg durch Bildung. Nur durch Bildung. Da hatte ich gerade mit der Laubsäge maßgeblich ein mächtiges Weihnachtsrelief für die Lobby der Schule gesägt, geklebt, geschmirgelt und lackiert. Es wurde noch viele Jahre später zu Weihnachten aus dem Schulfundus geholt und aufgehängt. Eine gewisse Berühmtheit verschaffte mir auch, dass ich in der letzten Stunde vor den Sommerferien vom jeweils unterrichtenden Lehrer nach vorne gebeten wurde, um vor der Klasse auf seinem Stuhl Platz zu nehmen und aus dem Stehgreif eine nicht vorbereitete, spontan zusammenfantasierte Abenteuergeschichte zu erzählen. Es klappte immer. Die Klasse lauschte hingerissen. Und der Lehrer staunte.

Der Uli war überall vornedran. Leider auch im Sportunterricht, wo der Lehrer, ein alter Nazi, zu Beginn antreten und durchzählen ließ und wenn ihm das nicht zackig genug ging, mit dem kleinen grünen Notenbuch zuschlug. Ich bekam das Ding öfters ins Gesicht, mit voller Wucht, sodass mir die Nase blutete. Die Klasse schwieg dann betreten, man selbst auch – und wischte sich das Blut unauffällig ab. Das allerdings war die einzige unerfreuliche Erscheinung dieser Schulzeit. Ich fuhr im Bus zur Oper in Kassel und sah dort Boris Godunow von Mussorgsky. Meine erste Oper. Welcher Genuss, dachte ich, reiche Leute erleben so was ständig. Ich meldete mich auch für eine Arbeitsgemeinschaft, um Wasseramseln zu fangen, zu beringen und wieder fliegen zu lassen mit einem Ring um den rechten Fuß. Die reine Wissenschaft. Wasseramseln waren relativ leicht zu fangen. Ich stapfte nachmittags mit einem Lehrer und zwei oder drei anderen Freiwilligen an Bachläufen entlang, brachte an günstiger Stelle quer über dem Wasser ein superfeines Netz an, lief im hohen Bogen zurück und trieb dann geräuschvoll die Amseln ins Netz. Sie flogen immer über Wasser, kürzten keine Schleifen des Bachlaufs ab und waren deshalb leicht zu kriegen. Wir befreiten sie sanft aus dem Netz, vermaßen ihre Spannweite, bogen ihnen einen Ring um den Fuß und notierten dessen Nummer. Nach zwei oder drei Monaten, manchmal auch erst ein Jahr später, bekam man dann Nachricht von einer Vogelwarte weitab in Deutschland. Sogar von der Nordseeküste. Dort hatten sie einen unserer Vögel gefangen und seine Route berechnet.

Einmal, im Winter, stürzte aus dem Unterholz ein wütender Bauer auf mich zu, packte mich am Kragen und wollte mich schon ohrfeigen, als der Lehrer im letzten Moment eingriff. Der Grund für seine Wut: Der Bauer hatte mich an den Abdrücken meiner Stiefel im Schnee erkannt. Es waren die alten Militärstiefel meines Vaters, für moderne Gummistiefel hatten wir kein Geld. Die Lederteile aber saugten sich mit der Zeit voll Wasser und bereiteten ihrem Träger eiskalte Füße. Und damit war mein Vater durch Russland marschiert? Der Bauer hatte an den Spuren erkannt, dass ich es war, der eine hölzerne Falle zertreten hatte, mit der er Füchse und Hasen fangen wollte. Das war verboten, gottlob, deshalb konnte er auch keinen Schadenersatz verlangen. Mein Lehrer machte ihm klar, dass er sich besser trollen solle, bevor er auch noch angezeigt werde.

Im gläsernen Pausenhof der Schule wiederum las ich Vögel auf, die mit Donnerhall gegen die Scheiben geflogen waren und nun benommen, oft mit Blut am Schnabel, am Boden lagen. Einige starben an den Kopfverletzungen, viele aber nicht. Ich trug sie in den Biologieraum und legte sie vorsichtig in einen kleinen Verschlag neben dem riesigen Käfig der Stabheuschrecken. Wenn ich in der nächsten Pause nachschauen kam, hüpften sie oft schon wieder. Ich nahm sie in die Hand, fühlte ihr Herz pochen, trug sie nach unten auf die Wiese vor der Schule und ließ sie fliegen. Herrlich, ich hatte ein Leben gerettet!

Zur Grenze pilgerten wir von Fulda aus nur noch selten. 1961 wurde in Berlin die Mauer gebaut und auch die Grenze über Land wurde rasant militarisiert. Durch die Wälder wurden breite Schneisen geschlagen, um Flüchtlinge weithin sichtbar werden zu lassen, Minen wurden verlegt und der Stacheldraht wurde Zug um Zug durch feinmaschige meterhohe Grenzzäune ersetzt. Bauern waren nun in Grenznähe nicht mehr auszumachen. Die Dörfer waren weitgehend geräumt und, falls überhaupt, nur noch von absolut Linientreuen bewohnt. Da es uns wirtschaftlich besser ging, konnte meine Mutter nun zu Weihnachten ein Paket an die Familie der Schwester in Bad Salzungen schicken: Zitronat, Orangeat und Rosinen für den Stollen – ich hasste den widerlichen Südfrüchteersatz –, ein wenig Schokolade, frische Orangen und ein Kleidungsstück für die Kinder. Als es den Verwandten besser ging, kamen Weihnachtspakete zurück. Bonbons mit flüssiger Füllung und Schokolade aus Ersatzstoffen (brrr!), dazu Bücher für uns Kinder. Ich kann mich an eines erinnern, das eine westdeutsche Familie beschrieb, die wegen ihrer Not nach Australien auswanderte, dort keine Wurzeln schlagen konnte und nach Deutschland zurückkehrte. Aber in das andere Deutschland, das bessere, wo keine Not herrschte, wo sie schon an der Grenze aufs Herzlichste begrüßt und vor dort aus in ein neues, glückliches Leben begleitet wurden. Mir war schon klar, dass das Unsinn war, Propaganda für Kinder. Und dennoch berührte das Buch die empfindlichste Stelle meiner Seele, wo der Zweifel nistete, ob der Wechsel von Ost nach West wirklich richtig gewesen war.

Die Verbundenheit mit den Verwandten im Osten war ungebrochen. Meine Mutter fuhr mit meiner Schwester und mir in den Ferien häufig zurück, zu mehrtägigen Besuchen. Wir durften das, wir waren ja höchst legal aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen worden. Mein Vater durfte nicht, er hätte es selbst dann nicht gewagt, wenn er eine Besuchserlaubnis erhalten hätte. Denn seine Mutter hatte, bevor sie in den Westen übersiedeln durfte, bei den Behörden gewaltigen Ärger gemacht. Auf seine Kosten. Wenn ihr Sohn eines Tages zurückkehre, werde er sie aufhängen. Als ich das später hörte, zweifelte ich an ihrem Verstand. Ein Nazi hätte es nicht schlimmer formulieren können.

Der Verwandten im Osten gedachte man nun, nach dem Mauerbau, auf spezielle Weise. Man stellte an Weihnachten Kerzen ins Fenster. Die sah ich nun in vielen Fenstern leuchten, wenn ich an Heiligabend vom Kindergottesdienst nach Hause spazierte, zur Bescherung. Der Glanz in der Dunkelheit machte mir das Herz schwer. Heimat! Fulda wurde nie meine Heimat, auch wenn ich mich zunehmend gut zurechtfand. Die Stadt erlangte in der militärischen Planung des Westens wachsende Bedeutung, als Fulda Gap. Man ging davon aus, dass Truppen des Ostblocks durch die Fuldaer Senke blitzschnell nach Westen vordringen könnten. Jedenfalls würden sie das versuchen. Dem sollte eine amerikanische Garnison Einhalt gebieten. Einmal im Jahr machten die Amerikaner Eigenwerbung bei den Deutschen, indem sie am Tag der Offenen Tür Panzer und Hubschrauber ausstellten. Wir Kinder durften nicht nur darauf herumklettern, sondern auch hineinsteigen und die Instrumente bedienen. Es roch irgendwie befremdlich nach Armee. Nicht schlecht, aber ungewöhnlich.

Sehr gut, weil stets angenehm parfümiert, roch jener schwarze Amerikaner, der im Nachbarhaus so gut wie jeden Tag seine deutsche Freundin besuchte. Er war relativ klein, elegant gekleidet und fuhr in einem offenen Straßenkreuzer mit roten Polstern vor, den er am Straßenrand neben dem Haus der Geliebten parkte. Alle Nachbarn zerrissen sich die Mäuler darüber, lauerten hinter den Gardinen und ätzten über die vollbusige Blondine, die an der Seite des schwarzen Mannes das Haus verließ, zu einem Ausflug irgendwo hin. Die erzkatholische Sexualmoral Fuldas, der von den Nazis eingepflanzte Rassismus machten ihn zum »Neger«, sie zur »Ami-Schickse«. Mein Vater, das rechnete ich ihm hoch an, war da anders. Er begrüßte den Amerikaner bei Gelegenheit mit Handschlag, stellte sich ihm vor, wusste also auch, wie der andere hieß, und plauderte mit ihm über dies und jenes. Er erfuhr deshalb auch, dass die beiden heiraten wollten, um dann gemeinsam in die USA zu gehen. Der Soldat war unheimlich freundlich und trug maßgeblich dazu bei, mir Rassismus von Anfang an verhasst zu machen. Ich mochte ihn, instinktiv schon allein deshalb, weil er vielen anderen verhasst war. Fulda war eben die Grundschule meines Widerstandsgeistes.

Meine politische Bildung erhielt ihren ersten Anstoß, als ich vom Sozialkundelehrer mit einem Freund zu Alfred Dregger geschickt wurde, um den damaligen Oberbürgermeister Fuldas zu interviewen, der auch schon im hessischen Landtag saß und dabei war, eine bundesweite Größe in der CDU zu werden. Antikommunist vom Scheitel bis zur Sohle. In Ermangelung greifbarer Kommunisten hilfsweise Antisozialdemokrat. Denn letztlich, so propagierte die CDU auf Wahlplakaten, führten alle Wege der SPD nach Moskau. Vom Moskauer Horizont blickten die gierigen Augen eines Bolschewiken über den Erdball bis tief hinein ins kleine Westdeutschland. Mein Lehrer also schrieb an Dregger und bat um einen Termin für zwei Schüler. Den bekamen wir umstandslos und an einem Samstagnachmittag klingelten wir an der Tür seiner Wohnung in einem großbürgerlichen Wohnhaus in der Fuldaer Innenstadt.

Ein Sohn öffnete, es muss der Jahre später bei einem Verkehrsunfall getötete Wolfgang Dregger gewesen sein, und führte uns ins Arbeitszimmer des Vaters. Der saß hinter seinem mächtigen Schreibtisch, begrüßte uns überaus freundlich und bat uns, Platz zu nehmen. Was wir ihn fragen sollten, weiß ich nicht mehr. Aber seine wichtigste Antwort blieb mir in Erinnerung. Alfred Dregger erläuterte uns Greenhorns nämlich in wenigen raumgreifenden Sätzen, dass wir Deutschen uns nur mit den Chinesen verbünden müssten, um Moskau in die Zange zu nehmen, die Herausgabe der Sowjetisch besetzten Zone zu erzwingen und die Wiedervereinigung Deutschlands zu besiegeln. Das imponierte mir mächtig. Zum einen wollte ich sowieso meine Heimat zurück. Zum anderen war ich noch nie politischer Strategie begegnet – und dann auch noch solch weltbewegender. Donnerwetter! Was für ein Kerl, dieser Dregger.

Zwei Jahrzehnte später sah ich ihn als Fraktionschef im Bundestag wieder. Man hatte mir als Neuling im Bonner stern-Büro die CDU/CSU zugeteilt. Das war, wie ich Naivling sogleich feststellen musste, verbrannte Erde, denn auf die Schwarzen prügelte der rote stern unablässig ein, mit allen Mitteln. Dregger wusste also ganz genau, dass da nicht ein Freund oder wenigstens ein Neutraler in sein Büro trat, um sich ihm vorzustellen. Er hatte Lebensart, vor allem aber Charme, bot mir einen Sessel an und begrüßte mich mit den Worten: »Und jetzt nehmen wir erst mal ein Glas Champagner.« Ich aber war politisch zu verkrampft, um mit diesem Stahlhelmer einen Schluck zu nehmen, lehnte ab – und ließ ihn allein trinken. Als ich die Anekdote aus Fulda in Erinnerung rief und den gewaltigen Eindruck, den er damals auf mich gemacht hatte, kannte seine verschmitzte Liebenswürdigkeit keine Grenzen mehr.

Der zweite Kontakt mit der Politik ergab sich auf einem Dorf in der Nähe von Kassel, wo mein Onkel Lehrer in einer Einheitsschule war, die Kinder jeden Alters in einer einzigen Klasse versammelte. Sie alle gleichzeitig zu unterrichten, war eine Herkulesaufgabe, die jener Onkel aber klaglos bewältigte. Er hieß Hans Eichel und der Name lässt schon ahnen, was sich noch dahinter verbarg. Von Fulda aus besuchten wir die Eichels mit den drei Kindern und mit Tante Marianne, der ältesten der beiden Schwestern meiner Mutter, häufig zu Konfirmationen und runden Geburtstagen. Für mich hieß das fette Beute und purer Genuss. Denn es wurde gut gegessen, mittags, nachmittags und abends, Braten, Aufschnitt, Würstchen und Kartoffelsalat, dazu gelbe Limonade, jede Menge Torten und Kuchen – alles, was mein hungriges Herz begehrte. Und zwischendurch, wenn Gratulanten klingelten und Blumen oder kleine Geschenke an der Tür abgaben, öffnete ich und gab als Gegenleistung einen Mohrenkopf heraus, wie die Köstlichkeit damals noch genannt wurde. Die Reserven waren schier unerschöpflich, und so aß ich selbst für jeden Mohrenkopf, den ich herausrückte, einen zweiten selbst. Davon wurde mir über die Stunden so übel, dass ich eines Sonntags auf der Rückfahrt mitten auf der Autobahn, mein Vater durfte nicht halten, meiner Mutter von hinten auf den künstlichen Pelzkragen ihres Wintermantels kotzte. Das gute Teil! Es war ihr bestes. Und verströmte auch nach der Reinigung noch lange einen säuerlichen Geruch. Wie auch die Polster des Sitzes. Ulis Mohrenkopfkotze.

An der Festtafel im Nordhessischen saß häufig noch ein zweiter Hans Eichel, damals ein junger Mann, der aber schon in der SPD angekommen war und später steil zum Bundesfinanzminister aufstieg. Richtig populär wurde er erst mit seiner imagefördernden Sparschweinsammlung auf dem Schreibtisch – eine glänzende Idee seines Chefberaters. Als ich ihm in Berlin offenbarte, wir seien sehr entfernt verwandt und hätten uns vor Urzeiten bei dem anderen Hans Eichel gesehen, gab es großes Hallo und wir duzten uns fortan.

Politisch einschneidend blieb in meiner Erinnerung der Tod Konrad Adenauers 1967. Da war ich schon 15, wir standen kurz vor dem Umzug von Fulda nach Frankfurt, und in der schwarzen Domstadt läuteten unablässig die Glocken. Ganz Deutschland schien in Staatstrauer erstarrt. Fulda auf jeden Fall. Nur ein Einziger freute sich über den Tod des Alten: mein Vater. »Endlich isser weg«, lautete sein trockener Kommentar. Wir beobachteten auf dem Fernsehschirm die Feierlichkeiten in Köln und Bonn, sahen den Sarg auf einem Schiff auf der Fahrt nach Rhöndorf, wo er die letzte Ruhe fand. Alles war Schwarz in Schwarz und alle ganz bedrückt, allein mein Vater schlug sich hin und wieder triumphierend auf die Schenkel. Durfte man sich über den Tod freuen? Ich fand, bei allem Verständnis für den oft enttäuschten Sozialdemokraten: eigentlich nicht. Und uneigentlich? Ich fühlte mich in jenen Tagen auch in der eigenen Familie heimatlos.

Uns ging es jetzt erheblich besser als zuvor, wir waren nicht mehr schreiend arm. Doch knapp bei Kasse waren wir immer noch. Meine Mutter hatte für die Familie hundert Mark in der Woche zur Verfügung. Der intelligente und fromme Knabe entwickelte eine Nachtseite seines Charakters. Was Armut und Mangel nun mal aus Menschen macht. Manchmal stahl ich im Vorübergehen einen Apfel aus der Auslage eines Geschäfts. Oder ich klaute ein Weckglas mit eingemachten Kirschen oder Mirabellen aus dem Keller von Nachbarn und verschlang die Früchte heißhungrig im Halbdunkel. Während der Volksschule kletterte ich auf dem Nachhauseweg – viele Mitschüler gingen vorüber – einem Freund auf die Schulter, um im Hochparterre ein Lebkuchenhaus im offenen Fenster zu plündern. Die Schandtat wurde natürlich gemeldet, anderntags holte mich die Direktorin aus der Klasse und vergatterte mich, auf dem Heimweg an der Wohnung zu klingeln und mich zu entschuldigen. Das tat ich, die Bestohlenen waren beschämend freundlich.

Mein Vater war nun beim Finanzamt Fulda und prüfte Betriebe auf Steuerehrlichkeit. Ich kann mich an einen Metzger erinnern, einen Viehhändler und einen Sägewerksbesitzer, der auch eine Jagdhütte besaß, in der wir zu Gast waren, mein Vater und ich. Wenn die Männer beieinandersaßen, manchmal Skat spielten, dann drehten sich die Gespräche immer wieder um den Krieg. Sie erzählten Erlebnisse, schilderten die grausigsten Szenen, in denen Kameraden neben ihnen erschossen oder zerfetzt worden waren. Mein Vater schwieg dazu, ich hielt ihm das zugute. Ich wusste von meiner Mutter, dass er Scharfschütze gewesen war und vermutlich viele Rotarmisten erschossen hatte. Damit allerdings mochte er nicht prahlen, er war zum Pazifisten geworden.

Häufig begleitete ich ihn an Sonntagvormittagen zu solchen neuen »Freunden«, wo er sich breitmachte, bewirten ließ und Steuertipps zum Besten gab. Endlos. Dieselbe Geschichte, immer und immer wieder erzählt. Ich saß auf heißen Kohlen und wollte nach Hause, zum Mittagessen. Mein Vater aber konnte sich nicht losreißen. Häufig kamen wir zu spät nach Hause. Noch heute steckt mir das im Gemüt. Bei Gastgebern zu lange sitzen zu bleiben, ist mir zutiefst verhasst und immer wieder Anlass zu Streit mit meiner Frau. Zur Erklärung verweise ich dann auf die schwarzen Stunden mit meinem Vater.

Ehrfürchtigen Kontakt mit reichen Leuten hatte ich in diesen Jahren aber auch selbst. In der Klasse war ich mit einem dicken, gutmütigen Jungen befreundet, der durch einen goldenen Schneidezahn auffiel und der Sohn eines veritablen Direktors war. Der Vater leitete das Kalibergwerk im nahen Neuhof und an Geburtstagen spielten wir in seiner Villa im Schatten der riesigen Abraumhalde. Danach wurden die eingeladenen Jungen im Mercedes nach Hause gefahren, der pure Luxus. Ich schärfte alle Sinne, um den Wagen auf mich wirken zu lassen, seinen Geruch, sein Radio, seine dick gepolsterten Sitze. Umso steiler fielen dagegen bei solchen Festen meine Geburtstagsgeschenke ab. Manchmal brachte ich nur eine Tüte Äpfel mit, was die Mütter der Geburtstagskinder mit ungläubigen und mitleidigen Blicken bedachten. Relativ gesehen war ich immer noch arm. Und fühlte mich auch so. Voller Scham.



Auch wenn mein Vater inzwischen ein vorzeigbares Auto gekauft hatte, gebraucht zwar, aber schön und chic. Einen cremefarbenen DKW 3=6 mit roten Kunststoffsitzen, in der Coupe-Version. Der knatterte immer noch aus einem Zweitaktmotor, doch hinten konnte man die kleinen Coupe-Scheiben herunterkurbeln. Welcher Luxus! Geparkt war das Gefährt auf einem Streifen zwischen den Wohnblocks neben anderen Sehenswürdigkeiten der Automobilgeschichte. Einem Messerschmitt-Kabinenroller etwa. Der Hersteller hatte nach dem Krieg die Kanzeln von Jagdflugzeugen auf vier kleine Räder gestellt und damit zum Auto gemacht. Zwei Passagiere saßen hintereinander, sehr tief, und der Fahrer steuerte nicht mit einem Lenkrad, sondern mit einer Art Flugzeugsteuer. Ein kurioses Gefährt. Wie auch die BMW Isetta, ein kugelförmiges Auto, in dem die beiden Passagiere nebeneinandersaßen und nach vorne durch eine weit aufschwingende Tür ein- und ausstiegen. Ein verwandtes Auto, etwas länger gestreckt, konnte vier Leute transportieren, zwei saßen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und stiegen nach hinten durch eine solche Schwingtür aus. Gemessen an derartigen Exoten hatten wir es autokulturell schon in die Neuzeit geschafft. Den alten, gebohnerten DKW hatte mein Vater für einen Appel und ein Ei an einen anderen armen Schlucker losgeschlagen.

Wir lebten nun in einer Vierzimmerwohnung mit Balkon, meine Schwester und ich hatten eigene Räume. Relativ groß, doch ungeheizt im Winter. Nur die Küche und das Wohnzimmer wurden durch Öfen geheizt. Ich holte Holz zum Anfeuern, das mein Vater im Herbst vor dem Haus mit der Axt klein gehackt hatte, Eierkohlen und Briketts zum Heizen aus dem Keller. Die Kohlen lagerten in einem alten Bettgestell neben Regalen, in denen wir für den Winter Äpfel verschiedener Sorten auf Holzschütten lagerten. Orangen waren zu teuer, die gab es nur zu Weihnachten auf einem festlichen Pappteller neben Nüssen und einem Schokoladenweihnachtsmann. Die Äpfel holten mein Vater und ich mit dem Auto von Bauernhöfen im Umland. Sie waren spottbillig. Und schmeckten teils grottig. Was dazu führte, dass nach Weihnachten nur noch die Sorten übrig waren, die meine Schwester und ich nicht mochten. Doch wir mussten in den sauren Apfel beißen. Das Badezimmer wurde einmal pro Woche richtig genutzt. Jeden Samstag heizte mein Vater mit Kleinholz und Briketts den großen Heißwasserboiler neben der Badewanne an. Zwei Füllungen der Wanne mussten für die ganze Familie reichen. Das Wiederauffüllen des Boilers und die Erhitzung des kalten Wassers hätten für zwei weitere Wannen zu lange gedauert. Aber so arm wir auch waren, schmutzig waren wir nicht. Es ging irgendwie. Nach dem Baden schaute die gesamte Familie Fernsehen. EWG. Einer wird gewinnen mit Hans-Joachim Kulenkampff. Der charmante Hüne war ein Held meiner frühen Jahre, zumal er der SPD zuneigte, wie mein Vater.

Die Stadt wuchs in diesen Jahren über unsere Siedlung hinaus. Also kroch ich mit meinen Freunden, manchmal auch allein, durch die finsteren Abwasserrohre der Rohbauten. Da konnte man prächtige Erkundungen machen. Noch abenteuerlicher war die Unterquerung der Innenstadt in den Rohren eines Bachs, der auf diese Weise streckenweise kanalisiert war. Man lief also am Austrittsende des Wasserlaufs in das riesige Rohr, störte sich nicht an den piepsenden Ratten, groß wie Karnickel, und wartete, was da so kam. Im zittrigen Licht einer Taschenlampe. Es muss unter dem Dom gewesen sein, im historischen Zentrum der Stadt also, dass kleinere Gänge von dem großen abzweigten. Folgte man ihnen, wurden sie immer enger, teilten sich wieder auf, führten durch nackten Felsen und verleiteten dazu, den Rückweg zu vergessen. Das aber ist mir gottlob nie passiert. Irgendwann war das Gruseln so mächtig, dass ich kehrtmachte und zum Bach zurücklief. Am anderen Ende der Stadt mündete die Röhre in gleißendem Sonnenlicht in die freie Natur.

Beim Zahnarzt machte ich eine bleibende Erfahrung: Betäubung mit Lachgas. Ich bekam eine Atemmaske auf Mund und Nase, der Arzt drehte eine Gasflasche auf und blickte mich dann gespannt an. Als ich das Kneifen mit seinem Finger nicht mehr spürte, begann er zu bohren. Und ich glaubte, ein Flugzeug flöge niedrig übers Haus. Es musste eine viermotorige Maschine sein, denn seine Propeller brummten gewaltig. In meinem Kopf. Dass die Betäubung diesen Eindruck hinterließ, wollte ich anfangs gar nicht glauben. Danach fürchtete ich mich davor und wechselte zu einem Arzt, der schon mit Spritze betäubte. Ich rauchte damals schon. Eifrig. Allerdings Glimmstängel, die es kostenlos gab. Ich drehte Löschblätter aus Schulheften zu Zigarren und hielt sie mit einem Gummiband zusammen. Dürre Halme, die mit weißem Material gefüllt waren, eigneten sich auch. Sie wuchsen auf der Wiese. Und beim mühsamen Anstecken eines solchen Halmes habe ich einmal aus Versehen die ganz Wiese in Brand gesetzt. Das Gras war trocken, der Wind fuhr hindurch und im Nu brannte eine große Fläche. Fatalerweise neben einer modernen Berufsschule. Die Feuerwehr musste kommen und den Brand löschen. Das dauerte. Ich stand mit klammen Gefühlen weitab und beobachtete das Schauspiel.

Eine echte Zigarre habe ich in diesen Jahren, ich war elf oder zwölf, nur ein einziges Mal genossen. Ich stahl das total vertrocknete Teil meinem Vater aus dem Wohnzimmerschrank und nahm es mit zu einem Freund, in dessen wildem Garten wir gerne Ritter spielten. Sein Vater war der bereits erwähnte Wollhändler, der es auch mit der SPD hielt. Als wir über eine Leiter aufs Dach des Gartenhäuschens gestiegen waren und dort unsere Ritterburg simulierten, steckte ich die Zigarre an, paffte zwei- oder dreimal – und schiss sofort in die Hose. Der Tabak hatte auf den kindlichen Magen eine durchschlagende Wirkung. Was meine Kampfhandlungen als Ritter an diesem Nachmittag bedeutend behinderte.

Ritterhefte waren das größte Vergnügen, das ich mir gelegentlich von meinem Taschen- oder Zeugnisgeld leistete. Für eine Zwei bekam ich 50 Pfennig, für eine Eins eine Mark. Da kam schon ein kleines Sümmchen zusammen. Davon leistete ich mir dann die Abenteuer von Sigurd, Akim oder Ivanhoe. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die prall gezeichneten Ärsche der Pferde, auf denen sie durch mittelalterliche Landschaften galoppierten. Micky-Maus-Hefte kaufte ich nicht, ich lieh sie mir stapelweise von einem wohlhabenden Freund. Dann kam, als ich flüssig lesen konnte, die Karl-May-Ära. Meine Eltern schenkten mir Bände zu Weihnachten oder zum Geburtstag, auch das Zeugnisgeld reichte für mindestens ein Taschenbuch. Und als ich den Kegeljungen gab, beim Klub meines Vaters, verdiente ich einmal pro Woche für drei, vier Stunden mühsames Aufheben und Aufstellen der geworfenen Holzkegeln eine köstliche Cola und fünf Mark. Das reichte für einen Karl May und erlaubte noch einen Nebenluxus. Sigurd etwa. Als ich 14 oder 15 war, arbeitete ich in den Ferien bei einem Spengler und half ihm bei der Montage von Dachrinnen auf Neubauten. Ungesichert in luftiger Höhe. Mir wurde ganz anders. Ich musste mich zwingen, nicht in die Tiefe zu schauen. Und mich daran gewöhnen, mich nur mit einer Hand festzuhalten, denn mit der anderen musste ich dem Gesellen ja Werkzeuge und Material reichen. Und das bei meiner Höhenangst! Ich hatte mich schon mal bei einem Sonntagsausflug zur Edertalsperre geweigert, den Staudamm zu überqueren. Das war völlig harmlos, eine Straße führte hinüber. Doch meine Angst war rationalen Überlegungen nicht zugänglich. Die Arbeit beim Spengler war mithin eine einzige seelische Strapaze. Immerhin verdiente ich um die 150 Mark und konnte mir davon mein erstes Fahrrad kaufen.

Urlaub konnten wir uns nicht leisten. In den Ferien fuhr ich mit Mutter und Schwester entweder nach Hause, nach Bad Salzungen, wo ich auf der Zehnt bei meiner Großmutter schlief, während meine Mutter bei ihrer Schwester unten in der Stadt blieb. Oder ich wurde in ein Jugendzeltlager der evangelischen Kirche geschickt. Danach folgten, mit fortschreitendem Alter, Fahrradtouren mit den engsten Freunden. Bad Salzungen war ein Sommertraum. Ich erwachte bei Sonnenschein im Schlafzimmer meiner Großmutter und unten, vor dem Haus, riefen schon die Freunde nach mir. Die beneidete ich um ihr Leben. Sie waren Junge Pioniere, nahmen in Uniform an Wehrübungen teil, auf denen Holzhandgranaten geworfen wurden, und nahmen mich mit ins Kino zu antifaschistischen Schmachtfetzen sowjetischer Herkunft. Nach dem Muster: Tapferer kommunistischer Widerstandskämpfer druckt und verteilt Flugblätter, wird von der Gestapo gejagt und von klassenbewussten Arbeitern unter Kohlehalden versteckt. Ich revanchierte mich bei meinen Freunden in der DDR mit Kaugummis, die es dort nicht gab und für die sie gemordet hätten. Ganz besonders, wenn in dem Kaugummipapier noch ein Sammelbildchen eingeschlagen war. Ich fühlte mich den Ost-Jungen eigenartig unterlegen, weil ich nach meinem Empfinden ja den Wohlstand und die Abenteuer des Ostens mit der Armut und Tristesse des Westens eingetauscht hatte. Das aber wollte ich nicht zugeben und überspielte es durch gönnerhaftes Verschenken von Kaugummipäckchen. Dabei fraßen mich mein Heimweh bei der Ankunft und der Schmerz beim Abschied am Bahnhof förmlich auf.

Die 60er-Jahre waren Jahre des relativen Wohlstands, nach den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Eine Fresswelle packte die Westdeutschen. Man verspeiste Grillhähnchen, wann und wo immer es ging. Wir fuhren mitunter auf eine Hähnchen-Farm in der Nähe von Fulda, wo man Glück haben oder lange warten musste, um einen Tisch zu bekommen. Mein Vater liebte auch Mettgelage, verspeiste alleine ein ganzes Pfund von dem gewürzten Hackfleisch. Mit Zwiebeln, Gürkchen und Brot. Dazu diverse Biere. Es dauerte nicht lange, da war er zuckerkrank. Auf der Straße wurde ihm flau und er musste sich auf den Randstein setzen. Der Arzt vergatterte ihn zu einer Diät. Quark. Gemüse. Wässrige Süppchen. Wir anderen litten mit, denn zwei getrennte Mahlzeiten konnte meine Mutter nicht kochen.

Im Sommer 1966, da war ich noch 14, fuhr ich in den großen Ferien in ein Zeltlager der evangelischen Kirche am Bodensee. Große Gemeinschaftszelte, gemeinsame Abenteuer, aber auch gemeinsame Gebete und gemeinsames Singen. Eben evangelisch. Versaut, sexuell aufgeladen war da noch nichts, obgleich auch Mädchen im Lager waren, die aber getrennt gehalten wurden. Wir Jungs konzentrierten uns auf die Fußball-WM in England, bei der Deutschland im Endspiel durch eine sowjetische Schiedsrichterverschwörung von England geschlagen wurde. Ganz große Emotionen – und tagelange Trauer. Verscheucht wurde die aber durch die Beatles-Songs, die damals die Hitparaden beherrschten und mich emotional geradezu erschütterten. Sie öffneten mir eine völlig neue Welt, die herausführte aus dem Spießertum Fuldas.

Dort ging ich sonntags als verkleideter Jungspießer zum Fußball. Quer durch die Stadt zu Borussia Fulda. Ich trug einen braunen Anzug mit weißem Hemd und einer Kinderkrawatte, die am Gummi unter den Kragen gezogen wurde. Darüber ein Regenmantel, in der Hand ein Knirps und auf dem Kopf ein Hütchen mit Feder an der Seite. Meine Mutter wollte es so, ich mochte mich selbst nicht mehr leiden. Selbst die Erinnerung ist noch grauenhaft. Meine Schwester, die mir zwei Jahre voraus war, versuchte die gängige Kleiderordnung zu sprengen. Bei ihr und ihren Freundinnen war angesagt, sich von Kopf bis Fuß schwarz zu kleiden. Wenn sie morgens allerdings ganz in Schwarz aus ihrem Zimmer in die Küche trat, wo die Familie frühstückte, geriet meine Mutter außer sich. »Bei uns ist niemand gestorben. Zieh das sofort wieder aus!« Ein Wort ergab das andere, bis sich die Szene in Ohrfeigen und Tränen auflöste. Mein Vater saß schweigend dabei und sagte kein einziges Wort. Ich verachtete ihn dafür, denn es war offensichtlich, dass meine Mutter die Verbitterung über ihr freudloses Leben an derjenigen ausließ, die gerade den Versuch unternahm, sich ihr Leben zu erobern. Sie musste sich immer umkleiden, eine schreckliche Demütigung. Mit der Zeit entwickelte sie indes mit ihren Freundinnen Taktiken, schwarze Kleidung außerhalb unserer Wohnung parat zu halten und sich auf dem Schulweg umzukleiden.

Ich trug im Sommer kurze Lederhosen und im Herbst Kniebundhosen über grünen Strickstrümpfen und klobigen Haferlschuhen. Alles grauenerregend. Die Sonne verbrannte mich im Sommer, bis ich Fieber bekam. Geld für Creme hatten wir nicht, also setzte ich die blanke Haut ungeschützt den Strahlen aus. Über Stunden beim Spielen. Oder im Schwimmbad. Am Abend wuchsen auf meinem Rücken, auf Armen, Brust und Schultern große, mit Flüssigkeit gefüllte Blasen. Die schmerzten so höllisch, dass ich mich beim Schlafen nicht auf den Rücken legen konnte. Das ließ erst nach, als sich unter den Blasen neue Haut gebildet hatte, die Wunden austrockneten und die Haut in großen Fetzen vom Körper gezogen werden konnte. Meine Haut war extrem empfindlich, ich war ein rotblonder Typ und am ganzen Körper, buchstäblich überall, von Sommersprossen übersät. Dafür schämte ich mich gewaltig und versuchte die Flecken durch lange Hemdsärmel zu verstecken. Die Komplexe, die mir darüber wuchsen, ließen sich indes nicht kaschieren. Ich ruhte noch längst nicht in mir selbst.

Die Fahrradtouren mit Freunden, manchmal mehrtägig, waren meine Brücke in die Pubertät. Wir nannten uns evangelische Pfadfinder, waren in Wahrheit aber gar keine, weil wir ihre Regeln nicht beachteten. Wir genossen es aber, in einer Hütte, ganz ungeschützt im Wald oder in Burgruinen zu nächtigen, im Schlafsack. Vorher hockten wir am Waldrand und rauchten die ersten Zigaretten. Ich fand, dass sie wahnsinnig gut schmeckten. Besonders die blonden Filterlosen von Players mit dem Matrosen im Rettungsring auf der Packung. Wir schlugen nicht immer ein Zelt auf, manchmal legten wir uns einfach unter Bäume, mitten im Wald und ließen uns von Wurzeln malträtieren, die durch den Schlafsack drückten. Ich kann mich nur an einen einzigen Alkoholexzess erinnern, in der Hütte. Einer kotzte sich nachts in der Kapuze seines Schlafsacks ein. Ein Wunder, dass er nicht erstickt war. Einmal schliefen wir auf der Wewelsburg, und erst das Nazihafte der Jugendgruppen, die sich dort aufhielten, ließ uns recherchieren, dass hier einmal die SS ihrem Orden gehuldigt hatte. Wir machten uns schleunigst davon. Mitunter klingelten wir auch an Pfarrhäusern und baten um Unterkunft, da es zu spät sei, um ein Zelt aufzuschlagen. Wir wurden immer aufgenommen. Das Freiheitsgefühl auf den Touren war jedenfalls unbeschreiblich. Man konnte sein Leben ganz allein gestalten! Und aus den Konventionen ausbrechen, die in Fulda über mich gestülpt worden waren.

Meine Eltern wollten mich auch musisch bilden. Für ein Klavier reichte es aber nicht. Also musste ich das Klavier des armen Mannes spielen, das Schifferklavier. Und auch in dieser Ersatzklasse reichte es nicht für Qualität, die zu teuer war. Für Hohner. Ich bekam ein Akkordeon einer billigeren Marke. So wie ich zur Konfirmation nicht einen blauen Anzug erhielt, wie alle Mitschüler, sondern einen braunen. Ich hätte im Geschäft fast geweint, als sich meine Mutter dazu entschloss. Geweint über mich, weil ich mit dem braunen Teil aus der Konfirmationsgemeinde herausstechen würde. Geweint aber auch über sie, weil sie ihr Leben mit knapper Kasse dazu zwang. Sie hätte ja anders gewollt. Aber sie konnte nicht. Am liebsten hätte sie ja vermutlich auch geweint.

Das Akkordeon lernte ich bei einer vollbusigen Vertriebenen aus Schlesien. Einmal pro Woche schnürte ich unwillig durch Kleingärten und an einer Schlucht vorüber zu ihr, naschte auf dem Weg noch an Schlehenbüschen, obgleich deren bittere Früchte erst nach Frost süß und genießbar werden. Ich konnte der Verlockung der blauen Beeren dennoch nicht widerstehen und empfand es als exotischen Reiz, wie mir die unreifen Schlehen die Schleimhäute im Mund zusammenzogen. Bei der Musiklehrerin – sie saß auf dem Sofa, ich auf einem Stuhl neben ihr, den Notenständer vor der Nase – durfte ich allerdings nicht die Musik meiner Zeit spielen, sondern nur Polkas, Märsche und Walzer. Die faszinierten mich in keiner Weise. Zu Hause, in meinem kalten Kinderzimmer, neben dem früheren Küchentisch mit der blitzblanken Resopalplatte, musste ich üben. Kulturell war das eine Folter. Als mein Akkordeon einmal kaputt war und zur Reparatur musste, keifte mich die Schlesierin auch noch an, weil ihr ein paar Stunden durch die Lappen gingen: »Ja, ja, ka Geld, ka Musi.«

Darüber war ich erst recht empört. Ich empfand es als eine Beleidigung meiner Eltern. Und ich fühlte mich gedemütigt, als ich am Heiligabend, Jahr für Jahr, von meiner Mutter auf einem Stuhl in den Hausgang des Mietblocks gesetzt wurde, um Weihnachtslieder zu spielen. Davor graute mir. Aber ich konnte mich nicht davor drücken. Ich musste da durch. Der eigentümliche Ton des Akkordeons im hallenden Aufgang des Hauses hatte indes ungeheure Wirkung auf die Nachbarn. Auf allen Etagen öffneten sich Türen und gerührte Menschen traten heraus, teils mit Tränen in den Augen. Als ich die sentimentale Tortur hinter mir hatte, wurde ich reich beschenkt mit Süßigkeiten. Aber selbst die konnten mir die Konzerte nicht schmackhaft machen. Ein Freund übrigens war der jüngere Bruder von Günter Zint, der als Fotograf der Beatles weltberühmt wurde. Er stammte aus einer Pfarrersfamilie, die ein offenes Haus pflegte mit einer für Fulda ganz eigentümlich liberalen Atmosphäre. Ich war oft dort zum Spielen.

Der Blick in die Welt öffnete sich durch die ersten Kinobesuche. Mein Vater führte mich aus in Karl-May-Filme. Winnetou mit Pierre Brice. »Mein weißer Bruder …« Da lernte man den Unterschied zwischen Gut und Böse. 1965 ging ich zum ersten Mal allein ins Kino. Es lief James Bond 007 – Goldfinger, mit Sean Connery. Ich war 13, der Streifen war aber erst ab 16 erlaubt. Und das machte mich schwer nervös. Als ich endlich in der langen Schlange vor der Kinokasse dran war, fragte mich der Kartenverkäufer: »Und, wie alt bist du?« Sechzehn, antwortete ich. »Das glaubst du doch selbst nicht«, lautete die Antwort. Und er winkte mich zur Seite – keine Karte. Ich stellte mich ein zweites Mal an – und erlebte wieder Schiffbruch. Bis ich begriff, dass mich meine große Bommelmütze kindlich erscheinen ließ. Ich nahm sie also ab, verstrubbelte meine Haare und stellte mich ein drittes Mal an. Diesmal fragte er nicht mal nach dem Alter, sondern gab mir sofort die Karte. Vielleicht hatte er auch nur Mitleid mit dem Unbeugsamen.

Wie ein Blitz fuhr in diese späte Kindheit der überraschende Besuch meines Vaters, als ich die Ferien bei seiner Mutter in der Nähe von Eschwege verbrachte. Sie war unserer Familie in den Westen gefolgt, als sie das Rentenalter erreicht hatte, und lebte nun wieder in ihrem Geburtsort Schwebda. Wie ihr Bruder, der Kleinbauer war und aus dem Krieg im Kaukasus Malaria mitgebracht hatte. Die Krankheit war nicht richtig auskuriert worden und so wurde er im Sommer immer wieder davon heimgesucht, musste zitternd ins Bett. Ich kostete die Ferien bei ihr aus, weil ich die Genüsse der Provinz liebte. Frische Milch vom Bauern, nicht entrahmt und dann sauer gelöffelt. Wellfleisch, am Schlachttag beim Metzger gekauft und kalt aufgeschnitten mit Pfeffer und Salz auf trockenem Brot gegessen. Große Herzkirschen, frisch vom Baum gepflückt und pfundweise verschlungen. Kopfsalat aus dem eigenen Garten, mit Sahne von der sauren Milch und frischen Kräutern angemacht. Die besten Mahlzeiten waren immer Armeleuteessen.

Da plötzlich, unangemeldet, stand mein Vater in der Tür. Er wollte mich abholen. Mit einem neuen Auto. Das heißt, gebraucht war es schon, aber es war ein modernes Auto, ein VW 1500 mit Stufenheck und Motor hinten. Ich bestaunte den Wagen und war fix und fertig, als ich erfuhr, dass wir damit auch noch in Urlaub fahren würden. Zwar nur ein verlängertes Wochenende, doch der allererste Urlaub der Familie. Drei Tage in Passau, besser gesagt in einem Ort bei Passau. Wir holten mit dem neuen VW zunächst Mutter und Schwester in Fulda ab und landeten dann in einem romantischen Gasthof. Mit Biergarten unter hohen Bäumen. Das Essen war umwerfend, die Stimmung heiter. Ungläubig schauten meine Schwester und ich spätabends aus dem Fenster unseres Zimmers hinunter auf den Biergarten, wo unsere Eltern noch beim Wein saßen. Ich war ganz schwindelig vor Glück. Das musste der Anfang von etwas Neuem sein. Hatten wir es geschafft, endlich?


Der Schrei des Hasen

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