Читать книгу Der Fremde: Ein Gleichniss - Hans von Kahlenberg - Страница 4
Das erste Kapitel.
ОглавлениеEs war Weihnachtsabend.
Das Wetter war schlecht gewesen seit Wochen schon, keine Kälte, aber beständig sickerte von oben eine feine, durchdringende Feuchtigkeit. Der Himmel schien sehr nah an die Erde gerückt, die Grenzlinien beider vermischten sich in diesem Grau, das Alles einhüllte, auflöste, aus der Erde kroch, sich herabsenkte in wattiger, flockender Schicht. Wie durch einen Schleier gewahrte man die nächsten Gegenstände, kahle Baumstümpfe verkümmerter Weiden, Rasenflecke des Feldrains, und Telegraphenstangen. Sie folgten sich in regelmässigen Abständen wie Schildwachen einer ungezählten einzingelnden Armee, die man nicht sah, die da im Nebel lauerte, wo er sich zu verdicken schien, braun wurde, mit schwarzen Ausströmungen, [pg 2]die sehr lange Linien durch die Luft zogen und hängen blieben. Sie brachten einen faden Gasgeschmack in die scharfe Kälte, den Moorgeruch der aufgeweichten Felder. Seit Wochen durchschwemmte sie der Regen, unbarmherziges, Alles durchdringendes Gewässer, in dem die letzten Lebensreste des Sommers sich auflösten, verfaulten.... Irgendwo da – sehr weit ab noch – vor ihnen lag die Stadt. Manchmal hörte man Eisenbahnzüge kreischen; sie glitten rasch auf rohaufgeworfenen Dämmen mit Alarmrufen der Schiffe auf hoher See in der Nacht. Die Stille und der Nebel herrschten wieder, eine unheimliche, lastende Stille, hinter der das überreizte Ohr Lärm zu vernehmen glaubte – des Meers, oder einer Schlacht. Ein heissrer Athem streifte von da zuweilen: Menagerie, Küchengeruch, Schweiss, – diese undefinierbare Atmosphäre, die die Nähe einer grossen Stadt anzeigt, einer jener gewaltigen, überquälten Lungen des zusammengepressten Menschheitsorganismus, wo die natürliche Luft nicht genügt, verbraucht lasten bleibt, in einem Nebel, der nicht weggeht, sich erhitzt am Abend von Millionen Lichtern, neu aufsteigt jeden Morgen aus athmenden Brüsten.
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Lachen hatten sich auf der Chaussee gebildet. Ihre ganze Oberschicht bestand aus einem weichen, feinen Schmutz, der sich teigig an die Stiefel ansetzte, sofort krustete; und vor allem war er kalt, von einer Kälte des Eiswassers, unterer Schichten unter dem Wasser, die nie die Sonne sahen. Er trug sich schwer; auf der Höhe des Strassendammes zog er sich endlos hin, kleine Teiche bildend, Runzeln und Ränder, die Spuren unzähliger Menschenfüsse, Pferdehufe, die da gegangen waren.
Manchmal schleppte sich ein Lastwagen müde vorüber. Die Räder knatterten auf dem harten Kiesgrund unter der Kothschicht. Langsam, von oben bis unten mit Schmutzkrusten bedeckt, schritten die Pferde. Unter seiner gelben Plancapotte liess der Fuhrmann misstönige Laute des Unbehagens vernehmen. An solchen Tagen trinkt man. Er hatte Eile anzukommen, sich von Neuem zu füllen mit Warmem, das von innen hitzt, die Traurigkeit wegnahm, die sich in grauer Schicht aus diesem sonnenlosen Abendhimmel herabsenkte. Auch raschere Gefährte rollten vorüber, Bäcker- oder Fleischerwagen aus den Vororten mit warmgekleideten, wohlgenährten Insassen. Jetzt liessen [pg 4]sie die Gäule ausgreifen, um nach Hause zu kommen, knallten mit der Peitsche im Vorgefühl der Heimathfreude, warmer Oefen und wohlbesetzter Abendbrottische.
Arbeiter sah man nicht mehr. Sie hatten früher Feierabend gemacht wegen des Festes, und es wurde spät. Da und dort an den Bahnkörpern entzündeten sich Lichter. Sie konnten nicht ankämpfen und blieben wie blasse Wasserflecken in dem Nebel, der sich nur zusammenballte, dunkel wurde, vom Weissgrau des sonnenlosen Tages zum Schwarz der Winternacht, die da über die Felder herbeikam, Alles verschlingend, einpackend, bis auf die Chaussee, die sich hinzog ohne Bäume, ein endloser Landstreifen durch die Oede.
Zwei Handwerksburschen zogen auf der Chaussee entlang. Es waren Arbeitslose. Der Eine war ein Böttchergesell aus Greifenberg in Pommern, der Andere zog schon seit lange so. Er hatte Drechseln gelernt. Aber das Handwerk warf nichts ab; vielleicht war ihm auch nach und nach die Gewohnheit der regelmässigen Arbeit verloren gegangen. Er war der bedeutend Aeltere. Die Beiden hatten sich in der Herberge zur Heimath in Bernau kennen gelernt und zogen nun auf Berlin zu, die grosse [pg 5]Metropole der Arbeit und des Verdienstes, um da ihr Glück zu versuchen.
Der Jüngere war ängstlich; dennoch voll guter Hoffnungen. Er begriff es nicht, dass ein Mensch, der arbeitsam und mässig war, arbeiten wollte, keine Arbeit finden sollte. Er glaubte an ein vorübergehendes Missgeschick. Berlin sollte ihm Glück bringen, obwohl es ihm Furcht einflösste.
Er war ein Junge, der zu Hause aus ganz kleinen, aber geordneten Verhältnissen kam. Sein Vater war beim Torfstechen ertrunken. Er hatte für die Mutter und drei kleine Geschwister mitsorgen müssen; alles das hielt sich über Wasser, lebte sehr respektabel. Er war ein Kind geblieben, mit runden, erstaunten Augen, die vergebens den Nebel zu durchforschen schienen, etwas ängstlich vor dem Gefährten an seiner Seite, aber doch gefügig gegenüber dessen grösserer Welterfahrung, beeindruckt vom Cynismus seiner Reden und Handlungen.
Der war ein ziemlich wüster Gesell, der durch die halbe Welt gerollt war. Man wusste nicht, woher er kam, und er sprach nicht davon. Seine Papiere wiesen allerlei Bestrafungen auf, für Diebstähle, Widersetzlichkeiten. Das hatte ihn nicht [pg 6]gebrochen. Es lag Hohn und Trotz gegen die Gesellschaft in seiner Art, das Bewusstsein eines Ichs, der Kraft, in diesem Menschen, der mit klaffenden Schuhen über die Landstrasse stapfte, Hass gegen die Kälte, der er den Alkohol entgegensetzte, den brennenden Rausch, der besser hitzt wie Feuer.
Ein gewisser Galgenhumor kam über ihn, während sein Gefährte ängstlich in seine blaugefrornen Finger pustete, die besten Stellen im Matsch aussuchte, um seine Füsse zu schonen, vor allem die Schuhe, die trotzdem schon barsten, Wasser einliessen, das sickerte, quietschte zwischen den Sohlen.
Der Kumpan sah es mit gutmüthigem Spott: „Gieb’s nur auf, kleiner Richard! Das nützt Dir nichts. Das frisst sich durch Pelz und Wolle, um so mehr durch Lumpen und Löcher. Dagegen giebt’s nur eins!“
Er bot dem Andern die Flasche, die der ängstlich zurückwies. So leerte er sie selbst auf einen Zug.
„Das giebt wenigstens Muck! Das ist die einzige vernünftige Erfindung in diesem elenden Hundedasein. Sie sagen, der Teufel hat sie ge[pg 7]macht. Mich dünkt, der Teufel, das ist der einzige wahre Heilige in der ganzen Muschpoke. Er ist mein Schutzpatron. Es lebe der heilige Satanas!“
Der Kleine sah sich scheu um, ob Jemand die Lästrung hörte. Er war fromm erzogen, gewohnt in die Kirche zu gehen des Sonntags. Die Mutter sass da und die andern alten Weiber in schwarzen, gehäkelten Kopftüchern mit dem goldbedruckten Gesangbuch. – Es war hart, dass man keine Arbeit fand. Aber er vertraute auf Gott. Und Berlin war nah, wo Tausende arbeiteten und assen. Sehr müde war er und weit konnte es nicht mehr sein.
Es war, als ob Fritz Kuhlemann seine Gedanken errieth: „Ja, das ist fein, nach Hause zu kommen, wenn Einem die Olle schon in der Thür entgegenläuft! Der Junge hängt sich uns an den Rock. Auf dem Tisch dampft ein guter Happenpappen. Die Stube ist schon abgeschlossen, weil da der Christbaum steht. – So gut wird’s uns nicht bei meinem Freund Matzke. Eine fidele Bude, und Mädels auch die schwere Menge! Ich möchte wissen, ob die rothe Lene noch da ist?“ ... Er vertiefte sich in diese Erinnerungen, Saufgelage, [pg 8]Prügeleien, Dirnen,... während der Andre neben ihm hertrottete. Er war sehr müde. Er hätte am liebsten geweint, aber er schämte sich.
„Du bist auch noch so ein Grüner. Dich werden sie schon erst hochnehmen! Wenn Du denkst, mit Gottvertrauen und Dummheit kommt man durch die Welt! Das ist gut für die, die mit einem silbernen Löffel im Munde geboren sind. Unsereiner, wenn der nicht eine Nase zehnmal so fein hat und Krallen zehnmal so lang, – dann kannst Du Dich man gleich am nächsten Laternenpfosten aufhängen lassen. Da drinne, da verstehen sie’s! Ist schon Mancher wie die reine Unschuld vom Lande eingewandert. Und wie er wieder rausgekommen ist! Per Schub mit zwei Gensdarmen neben sich. Auf Sonnenburg zu, oder Plötzensee. Ich kannte Einen, den haben sie gehetzt wie das liebe Vieh. In den Weiden und Binsen unten bei Tegel. Jede Nacht die Jagd und den ganzen Tag lang. Ob das noch ein Mensch ist! – Todtgeschlagen hatte er Einen. Todtschlagen – das ist auch dumm. Alles todtschlagen, kurz und klein! Dann wär’s noch was.“
Nun ermannte sich der Andre. „Es giebt doch aber auch noch gute Menschen auf der Welt.“
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„Hast Du je Einen gesehn, dem’s auch gut gegangen ist dabei? Die Schlechten, die kommen auf, die sind hoch. Verfluchte Schweinerei!“
„Man kann’s. Wenn man ehrlich ist und arbeitet.“
„Versuch’s doch! Geh hin! Biete Deine Arbeit an. Lauf rum! Verkauf Dich für vier Groschen den Tag. Sieh doch, ob Dich Einer nimmt! En Vieh und en Esel. – Aber ein Stück Mensch! Und dann fallen Einem die Lumpen immer mehr vom Leib. Der Schutzmann hält die Augen drauf. Und wenn Du mal auf einer Bank, unter der Brücke einschläfst, hat er Dich am Kragen. Dann geht’s auf die Wache. Na, und wenn die erst ihren Stempel draufgesetzt haben! Die grosse Klappe – oder der Strick vorher und das stille Wasser!“
Der Andre war dem Weinen sehr nahe. Es war die grosse Müdigkeit und die Aufregung vor dieser Stadt, die sich näherte, wie das Verhängniss, unsichtbar, in dem Nebel, der immer dicker wurde. Ein Wagen, der vorüberfuhr, eine Equipage oder geschlossene Droschke, bespritzte sie von oben bis unten.
Kuhlemann sprang mit einem Fluch zur Seite: [pg 10]„Verdammte Protzenbande! Ich gönnt’s Euch! Ich gönnt’s Euch! Frisst sich satt von unserm Mark und Knochen. Sauft sich voll von unserm Blut, bis sie besoffen sind und speien!“
Sie waren jetzt in der Gegend der Fabriken. Von beiden Seiten reihten sich dunkle, niedrige Schuppen um gemauerte Schlote, mit Latten eingezingelte Höfe. Man sah die schwarzen Eisenconstructionen zum Heben, die achatne Spiegelung der Fensterscheiben, ungeheure, stumpfe Massen aufgeschichteten Materials, die warteten, sich zersetzten. Aber Alles lag ganz still wegen des Festes, Alles war sehr schwarz. Der Kohlengeruch wurde bemerkbarer. Auf ihren Schienensträngen eilten die Züge der Vororte mit roten und grünen Lichtern, wie grosse Schlangen mit Augen, in die schweigende Ebene ausgeschickt.
Der kleine Richard war vollkommen kaput. „Ach mein Gott!“ schluchzte er auf. „Mein Gott!“
„An den glaubst Du auch noch?“ Die Nachwirkung des Schnapses begann sich bei Fritz Kuhlemann zu äussern. Er sah roth jetzt und schrie mit erhobner Stimme: „Die olle Finte, die uns die Pfaffen aufgebunden haben, damit wir kuschen und nicht Muck sagen! Ich sage Dir, [pg 11]wenn’s den giebt da oben, dann kann er sich begraben lassen für das, was er gemacht hat. Ich lach’ ihm in’s Gesicht. Ich schlag’ ihm die Faust in’s Gesicht für sein feines Zauberkunststück hier!“
Die Lästrung verhallte in der Dunkelheit, die sich nicht rührte. Ein Wind schien sich erhoben zu haben, strich mit schriller Klage über die Telegraphendrähte, durch die Löcher der Jacke, in der der Kleine sich zusammendrückte. Alles blieb so, die schwarzen Fabrikgebäude, die Dunkelheit, die Kälte.... Und in der Ferne das Verhängniss, das anzog, sich näherte, etwas Schwarzes, Compactes, mit Augen ... Berlin, die Grossstadt.
„Guten Abend!“ sagte eine Stimme neben ihnen.
Jemand musste an ihrer Seite heraufgekommen sein. Er war wohl von rückwärts nahe gekommen. Sie hatten ihn nicht gehört, weil der weiche Schmutz alle Schritte erstickte. Und es war finster.
Sie sahen, dass es ein Mann war. Er mochte in ihrer eigenen Grösse sein, nicht über Mittelgrösse. Er trug die Tracht eines Arbeiters, nicht gut und nicht schlecht, die eines Mannes, der Arbeit gethan hat und weit gewandert ist.
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„Guten Abend!“ sagte der Fremde noch einmal.
Er sagte es mit einer ruhigen, sehr angenehmen Stimme, die aus dem Nebel zu kommen schien. Etwas von Traurigkeit und Entfernung lag in dem Klang der Stimme.
„Guten Abend!“ sagte der kleine Richard.
Fritz Kuhlemann brummte widerwillig seinen Gruss.
Der Fremde war an ihrer Seite geblieben. Er ging denselben Schritt wie sie. Nur war es dem Kleinen, als ob der Wind ihn jetzt nicht so träfe. Er empfand das angenehm.
„Es ist spät,“ sagte der Fremde. „Und es ist kalt hier aussen.“
„Das ist nun nicht gerade etwas Neues, was Du uns sagst,“ höhnte Fritz Kuhlemann. „Wenn Du eine Pulle in Deiner Tasche hast und etwas Warmes drin, thätest Du uns einen grösseren Gefallen, wenn Du uns theilen liessest.“
„Ich habe keinen Wein und keinen Branntwein,“ sagte der Fremde. „Ich komme von weit. Und es ist spät.“
„Sehr spät, um den Christbaum zu schmücken und den Aufbau fertig zu stellen. Aber vielleicht [pg 13]sind Sie hier herum Hausbesitzer oder haben eine Villa gemiethet und die liebe Familie erwartet Sie?“
„Ich habe kein Haus.“
„Dann würde ich Dir rathen, Freund, dass Du Dir Geld in die Tasche thust. Denn umsonst giebt’s hier nichts auf dieser faulen Welt. Und zumal in Berlin, wohin wir unsre Schritte jetzt lenken. Mein Freund Matzke kann sehr eklig werden gegen flaue Kunden. Also, Freundchen, wenn Deine Tasche wohlgefüllt ist, öffne sie und spendire Deinen guten Freunden, die im Dalles sind, in der That nicht wissen, wo sie ihr Haupt niederlegen sollen.“
„Ich habe kein Geld Dir zu geben,“ sagte der Fremde. Er sagte es traurig, mit seiner sanften, klingenden Stimme, die von sehr weit herzukommen schien.
Der Rothe lachte: „Du bist ein famoser Bruder, das muss ich sagen! Schleichst hier auf nächtlichen Wegen und schlängelst Dich an andre Leute ran. Denkst Du, wir können einen Zaungast brauchen? Lass doch mal sehen, wie Du aussiehst bei dieser noblen Beleuchtung!“
Die kleine Laterne eines Zimmerhofs warf einen [pg 14]zweifelhaften Schein. Der rohe Bursche drehte den Fremden um. Er stiess ihm die Schulter gegen den Lichtfleck.
Er sah ein blasses Gesicht. Ein bescheidner Bart umrahmte den unteren Theil. Es war das Gesicht eines Mannes von etwa zweiunddreissig Jahren. Der Fremde hatte seltsame Augen und sah ihn ernsthaft und traurig an.
„Lass doch den Mann!“ sagte der kleine Richard müde.
Selbst der Rothe war betroffen. „Teufel auch!“ knurrte er in den Bart. „Wo hab’ ich das Gesicht schon gesehen? Du bist ein seltsamer Heiliger, Du!... So eine Sorte Wanderprediger wohl? Ich habe mal Einen gekannt. Er war mit uns in der Herberge. Des Abends las er seine Bibel. Er that das alle Abend. Er sah dabei aus wie Du. Er sagte nichts.“
Der Fremde sagte auch nichts.
... „Er hat mir den Fuss kurirt und eingewickelt. Ich wusste, wo er sein Geld hatte. Ich hab’s ihm gelassen.“
Das Gesicht des Fremden schien berauschend auf ihn zu wirken. Er verwirrte sich in wilden Erinnerungen.... „Ein Mädchen ... Ich drängte [pg 15]sie gegen das Thor. Was hatte die dumme Liese sich anzustellen? Sie war doch genau wie die Andern. Hexe! – Weibervolk, die sind Alle nichts wert.
„... In ihrer Karosse sah ich sie mal. Eine vornehme Dame. O sehr vornehm! Vornehmer wie eine Prinzessin. Sie sass in ihrer Karosse und wartete. Ich wollte sie ermorden. Weil ich hungrig war und kein Bett hatte. Sie war reich und sass im Wagen. Sie sah mich an. – Ich fasste an den Hut und schlich mich fort. ... Nachher brachte mir der Diener ein Goldstück. Das warf ich ihm nach in den Dreck gegen seine unverschämten Kalbswaden.
„... Weisst Du, wo ich herkomme? In der Gosse haben sie mich gefunden neben einer todten Katze und einem Kohlstrunk. Meine Eltern wollten nichts wissen von der Rabenbrut. Dann haben sie mich so rumgestossen. Die hohe Polizei! Das ist eine zarte Nährmutter. Glaube mir, Bruder, es ist eine lustige Welt! Man muss sie nur lustig zu nehmen wissen.“
Er lachte roh auf. Der kleine Richard zitterte vor Kälte. Er fühlte glühende Zangen in seinen Eingeweiden. Seine Zähne schlugen aufeinander.
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„Nimm diesen Mantel,“ sagte der Fremde freundlich.
Es war ein alter, fadenscheiniger Ueberzieher, wie ihn arme Leute tragen, auch zu dünn für den Winter. Der Junge wickelte sich mechanisch gehorchend hinein. Er fühlte die Hand des Fremden, die glättete, um ihn streichelte. Eine Art magnetischer Beruhigung ging von ihr aus. Es erinnerte ihn an die Berührung seiner Mutter. „Aber Du?“ fragte er wie betäubt.
„Ich friere nicht,“ sagte der Fremde.
„Dann musst Du von seltsamem Stoff gemacht sein,“ bemerkte Kuhlemann. „Dies verfluchte Wetter macht Einem die Blutstropfen im Leibe gefrieren.“
In der That war es jetzt ganz empfindlich kalt. Der Wind pfiff mit scharfem Eishauch. Unter seinem Mantel glühte der Junge. Er wusste nicht mehr, wo er war. Er phantasirte.
Er war bei sich zu Hause. In der kleinen Küche war es stickend warm. Solch’ eine fröhliche Wärme! Der ganze Heerd glühte, rothglühend mit hüpfenden, spritzenden Lichtern, obgleich es dunkel war, um Petroleum zu sparen. Aus dem Suppentopf stiegen weisse, nahrhafte Wolken. Ein Duft von Aepfeln kam aus der Röhre; man hörte ihre [pg 17]feinen, braunen Häute britzelnd zerspringen.... Er war da. Er war ein Knabe, er hielt die kleine Schwester auf den Knieen. Er fühlte deutlich den warmen, pulsenden Körper. Das Kind hatte die Aermchen um seinen Hals gelegt. Sie warteten auf die Mutter. Er erzählte ihr von Weihnachten.
Von einem alten Mann mit weissem Bart erzählte er ihr. Er trug einen grossen Sack mit Aepfeln und Nüssen über der Schulter. Er hatte ein rothes, freundliches Gesicht, und eine Birkenruthe hielt er in der Hand. Wenn man seine Sprüche nicht wusste, gab es Schläge. Sie waren gute Kinder, sie konnten ihre Sprüche. Das kleine Mädchen hatte die Hände gefaltet und wiederholte sie mit halblauter Stimme. Die ganze Geschichte, die freundliche Lehrerin in der Kleinkinderschule hatte sie ihr vorgesprochen. Der grosse Bruder, der schon klug war und lesen konnte, half ein:
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzet würde.
„Und diese Schatzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war.
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„Und Jedermann ging, dass er sich schätzen liesse, ein Jeglicher in seine Stadt.
„Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heisst Bethlehem, darum, dass er vom Hause und Geschlechte Davids war.
„Auf dass er sich schätzen liesse mit Maria, seinem vertrauten Weib, die war schwanger.
„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“
„... Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“ ... wiederholte der kleine Handwerksbursche mit glühenden Lippen auf der eisigen Landstrasse.
Dann fing er auf einmal mit leiser Stimme an zu singen: „O du fröhliche! O du selige! Gnadenbringende Weihnachtszeit!“
„Nanu?“ sagte der Rothe grob. „Bei dem ist’s wohl nicht recht helle? Singt der Mensch hier auf der Landstrasse wie eine Lerche! Du hast doch wohl einen heimlichen Trunk zuviel gethan? So’n verfluchter Duckmäuser!“
Aber der Kleine hörte ihn nicht. Er war ganz [pg 19]glücklich. Er hielt seine kleine Schwester. Es war so warm in der Küche. Er fing an, an seinen Kleidern zu reissen. – Auf allen Kirchthürmen begannen die Glocken zu läuten. Die kleine Küche war voll vom hellen Schein. Sie hatte überhaupt keine Decke mehr, keine Balken und angeblakten Kalkwände. Da war der Himmel. Er war ganz offen und die Engel sangen. Sie sangen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“
Sie sangen sehr laut mit hellen, schmetternden Stimmen. Alles hallte davon wider. Dieser Gesang erfüllte das ganze Gewölbe des Himmels, der eine grosse, dunkelblaue Glocke war, in der goldne Sterne schwangen und spannen. Sie drehten sich sehr rasch mit langen, lichten Streifen hinter sich her in der Bahn ihrer Schwingung, die feurige Ringe bildete, Kreise und Sphären. Die ganze Glocke drehte sich, sang und schwang.
Der kleine Handwerksbursche sang laut, vorwärts stolpernd im schleimigen Strassenkoth, zwischen den schwarzen Fabrikschuppen mit hohen Schloten, vor der Stadt, die rings umher anfing sich zu entzünden, wie ein Halbkreis der Hölle mit feurigen Augen.
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„Bist Du verrückt?“ schnauzte ihn der Andre an.
„Dein Gefährte ist sehr krank,“ sagte der Fremde sanft.
So war es. Alles hatte bei dem Kleinen zusammengewirkt: die langen Wochen der Angst und schlechter Ernährung, der unheimliche Gefährte, der Weihnachtsabend.
Er fuhr fort zu singen. Er wehrte sich gegen den Andern in seinem Fieberrausche: „Lass mich! Du erfrierst mir das Herz. Du stösst mir glühende Messer in’s Weiche. Du bist schlecht und roh! Schlecht! Schlecht! Du bist der Teufel!“
Er war wie ein Rasender. Er fing an mit beiden Armen um sich zu schlagen. Er bäumte sich wie ein scheugewordenes Pferd. Er wollte plötzlich nicht weitergehen. Er liess sich wie ein Sack zur Erde fallen.
„Halloh!“ sagte der Rothe. „Das ist eine schöne Geschichte. Nun stirbt uns der hier im Dreck. Das hetzt uns die Grünröcke gleich auf die Hacken.“
„Hilf mir ihn aufheben!“ sagte der Fremde. „Er darf nicht sterben so.“
Sie hoben ihn auf. Auch der Rothe that seine Pflicht, sanft genug für seine rauhen, frost[pg 21]geschwollenen Fäuste. Die Mütze war dem Kleinen vom Kopf gefallen, Koth hatte sich in die blonden Locken gesetzt. Er entfernte ihn mit einem grimmigen Scherz: „Das würde seiner Liebsten nicht gefallen.“
Es lag da ein Steinhaufen am Chausseerand aufgeschüttet. Der Fremde hatte sich darauf gesetzt, der Junge lag in seinem Schooss mit dem Kopf an seiner Brust. Er lag ganz still und lächelte.
„Ich kenne Dich wohl,“ sagte der Junge. Er sprach mit erstaunlicher Geläufigkeit, in einer hellen, klingenden Stimme des Entzückens, wie wenn Alles, was in ihm schweigsam und gefroren gewesen war, sich jetzt löste, aufthaute.
„O, ich kenne Dich ganz gut. Du bist mein alter Lehrer in Greifenberg, der freundlich zu uns war. Wenn man’s gut gemacht hatte, strich er mit der Hand über den Kopf. Manchmal durfte ich ihm die Bücher nach Hause tragen. Dann bekam ich einen Apfel.... Er war alt und arm, und hatte viele Kinder, wie wir.“
„Nette Suse!“ murmelte der Rothe. „So ’ne weisse Wassersuppe!“
Der Fremde sass ganz still und hielt den Kopf [pg 22]des Jungen. Der lachte, er griff ihm mit der Hand in den Bart. „Du bist mein Vater, der gestorben ist,“ sagte der Junge. „Er ging des Morgens sehr früh fort. Dann trat er leise auf und zog sich im Dunkeln an, damit wir nicht aufwachen sollten. Es war noch sehr früh und sehr kalt draussen. Im Bett war es warm. Der Winter hatte grosse, weisse Eisblumen vor das Fenster gemalt. Wie hinter einer Wattenwand schlief sich’s da.... Dann ging er fort einen Morgen und kam nicht wieder.
„... ‚Nun bist Du der Mann in der Familie, Richard,‘ sagte die Mutter. ‚Versprich mir’s, dass Du immer für die Schwestern sorgst, wenn Du gross bist und viel Geld verdienst.‘
„Ich verdiene nichts. Ich kann nicht sorgen für die Schwester. Meine Schwester soll nicht weinen und hungern wie die Andern, nicht frieren! Es ist so kalt ... kalt ...“
„Gott wird für sie sorgen,“ sagte der Fremde.
Der Rothe lachte.
„Es giebt keinen Gott,“ sagte der Junge unruhig. „Alle sagen, er ist nicht und dass es nur eine Kinderfabel ist. Wer nicht arbeiten kann und krank wird, der stirbt und verdirbt. Reiche Leute [pg 23]haben es gut in der Welt und sind geehrt. Die Andern holt der Teufel.“
„Amen!“ machte Fritz Kuhlemann.
„Es giebt keinen Teufel,“ sagte der Fremde ruhig. „Gott kennt keine reichen Leute und keine armen. Er liebt Alle.“
Wieder lachte der Rothe, scharf und schrillend.
„Ich habe Schmerzen,“ wimmerte der kleine Handwerksbursche. „Es zerreisst mir die Glieder. In meinem Kopf geht es wie eine Säge. Alle Knochen krachen. Ach, das ist die Folter! Wasser! Wasser!“
Es war kein Brunnen zu sehen ringsum, zwischen den Schmutzlachen, all’ dieser triefenden Feuchtigkeit, die von den Dächern rieselte, die Kleider festklebte am erstarrten Körper.
„Ich habe Hunger,“ klagte der Sterbende.
Der Fremde legte ihm die Hand auf die Stirn.
Bald glätteten sich die Züge. Sie wurden heiter, fast strahlend. „... Eine Ruhe kommt langsam, das ist der Schlaf. Es kommt wie ein Schatten über eine grüne Wiese. Es ist weiss und breitet die Arme aus. Ah, mir ist wohl!“ ...
Er nestelte sich dichter an die Brust des Andern. Der Fremde beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn.
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Fritz Kuhlemann kam mit einem Blechgefäss voll Wasser. Er hatte es beim Eindringen in einen Zimmerhof gefunden. Ein wütender Hund war gegen ihn angekläfft, hatte ihm die Hose zerrissen. Seine Hand blutete vom Zerschlagen des Eises. Er sah schrecklich aus.
„Er braucht es nicht. Er ist todt,“ sagte der Fremde.
In der That war der Junge todt. Er sah aus wie ein schlafendes Kind. Ein süsser Ausdruck war in seinem Gesicht.
„Gestorben wie ein Hund! Wie ein Hund!“
„Er ist kein Hund. Er ist schön.“
„Und Du? Wer bist Du?“
„Kennst Du mich nicht, Fritz Kuhlemann?“
Der Mond war aufgegangen, ein ganz klarer, heller Mond, den man niemals erwartet hätte aus diesem Nebel. Er stand ruhig mit sattem, blauem Schein im Grau, das jetzt ganz ungefährlich erschien, die einförmige, milde Trauerfarbe der Nacht, eine sanfte Schwermuth der tieferen Töne und Farben des Lebens. Im Mondschein stand der Fremde. Er stand ohne Hut, im Licht, das leise fluthete.
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Der Mann starrte ihn an. Seine Augen traten fast aus ihren Höhlen, die Stirn unter den wüsten, rothen Haarzotteln arbeitete furchtbar.
Der Fremde sah ihn an.
„Du hast ihn geliebt, den da“ ... sagte der Fremde. „Er war oft müde. Du gingst langsamer um seinetwillen. Du schliefst schlecht, damit er besser läge. Manchmal hast Du ihm Brod gegeben, wenn Du selbst keins hattest. Und der Hund hat Dich zerrissen um das Wasser, das Du ihm brachtest. – Ich kenne Dich, Fritz Kuhlemann.“
„Teufel!“ stiess der Andre hervor.
„Du hast ihn sehr gekränkt,“ fuhr der Fremde fort. „Aber Dein Herz war wund, als es ihm harte Worte gab. Der Pflug war über Deine Seele gegangen und hat sie zerrissen, eh’ sie wild klang und falsch. Du hast geliebt, eh’ Du hasstest.... Ich kenne Dich wohl, Fritz Kuhlemann.“
„Herr ... Herr ...“ stammelte der Bursche.
„Und sie haben Alle geliebt. Deine Mutter, die Dich in die Gosse legte, weil sie kein Brot hatte, Dich zu füttern, als ihr Herz sich in ihr wand in Angst über der Qual ihrer Eingeweide. [pg 26]Der, der Dich zeugte in einer Stunde, wo er sich selbst vergessen, der niemals sich vergass. Gott, der die Welt gemacht hat, weil er liebte. Die Liebe ist Schmerz. Im Schmerz der Liebe liegt der Urgrund alles Geborenen.“
„Wer bist Du?“ schrie der Andre auf.
Er hatte sich auf ihn gestürzt. Sie rangen miteinander, Leib gegen Leib. Der Mond stand am Himmel, kalt und bläulich. Dann sah man nur noch ihre beiden Gesichter, das des Fremden, das ruhig war, blass und ein wenig traurig, das des Mannes, der in grossen Tropfen schwitzte, dunkel blutrünstig mit roth durchschossenen Augäpfeln. Er athmete in schweren, keuchenden Stössen.
Plötzlich fielen seine Hände: „Mach’, was Du willst! Tödte mich auch! Tödte mich!“
„Geh voran! Ich folge Dir!“ sagte der Fremde.
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