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Das fünfte Kapitel.

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Inhaltsverzeichnis

Es begab sich, da er müde war, setzte er sich nieder an einem Brunnen.

Ein sehr lieblicher Platz war es. Weidenzweige hingen tief wie feine wehende Schleier. In der gemauerten Höhlung hörte man es murmeln vom schwärzlichen, verborgnen Wasser. Alles Gras ringsum war grün, sammetgrün mit Schatten, wie der Wind es wehte oder die Sonne fiel. Eine Stille war in der Luft, diese Klage der Feuchtigkeit, die der Nacht vorangeht, denn es war Abenddämmerung. Nur die Heimchen zirpten. Man hörte das Locken der Vögel, aber befriedigt, nur mehr wie ein Glucksen. Die Winde auch kamen sacht, mit etwas lebhafterem Rauschen oben in den Baumkronen.

Er setzte sich auf die Steinbrüstung des Brunnens.

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Eine Frau kam. Sie ging langsam und hielt eine Reitgerte in der Hand. Der Saum ihrer grauen Amazone fegte schleppend den Boden. Sie führte ein weisses Pferd am Zügel. Es trat so leicht auf, dass man seinen Hufschlag nicht hörte, den Kopf hielt es gesenkt, als wollte es sich bemühen, die Saatsprossen zu erhaschen, und schnoberte leise aus rosa feinen Nüstern. Ein Windspiel sprang auf ihrer andern Seite. Es streckte zuweilen wie liebkosend seinen schmalen spitzen Kopf in ihre hängende Hand. Sie ging in tiefen Gedanken. Ihre Haare waren in dicken Flechten gewunden, weit unten im Nacken aufgesteckt, als ob sie zu schwer wären für ihren schmalen Kopf. Sie ging sehr langsam und hielt die Augen zur Erde gerichtet, wie wenn sie suchte. Sie suchte mit der schwanken zitternden Spitze der Reitgerte auf dem Boden. Der Hund lief neben ihr und sah sie an. Er versuchte ihre Augen zu fangen. Aber sie antworteten seinem Blick nicht. Sie ging und führte das weisse Pferd am Zügel. Ganz weiss, mit gesenktem Kopf folgte es, ein edles, geduldiges, sehr feines Thier.

Gerade über die Wiese kam sie, zu der Quelle, wo der Fremde sass.

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Sie seufzte. Gegenüber am Brunnen sass der Fremde. Und sie sah ihn nicht.

Sie hob die Augen auf und sah ihn.

„Warum bist Du unglücklich?“ fragte der Fremde.

„Ich bin unglücklich, weil ich glücklich bin. Ich habe Alles, was die Menschen Glück nennen. Ich wohne in einem Schloss im Reichthum. Meine Eltern hielten alle Sorge fern von mir. Ich habe einen Mann, der mich anbetet, gute Kinder. Doch bin ich unglücklich. Ich gehe zu diesem Brunnen, um Ruhe zu finden, weil mein Schmerz sich auflöst in dem der Natur, der über diesem Ort lagert. – Warum ist sie unglücklich?“

„Weil sie sterblich ist und vergänglich.“

Die junge Frau seufzte tiefer. Die Zweige der Weiden rauschten auf wie leichte, faltige Frauengewänder und fielen zusammen. Der Hund schob liebkosend seine kalte Nase ein. Ueber die Felder trug der Wind die Klage der Weiden und geheimnissvoll in der Tiefe gluckste und murmelte das Wasser. „Sind wir es nicht auch? Vergänglich und sterblich? Der Tod ist in Allem. Das Schöne hat keine Dauer. Die Leidenschaft flieht. Der Tag unsrer Kraft ist der unsrer Güte. Wenn [pg 84]wir krank sind, sind wir selbstsüchtig, schlecht, Andre quälend und gequält von ihnen. Aller Anstrengung Ende ist der Tod.“

„Es giebt etwas über dem Tod,“ sagte der Fremde.

„Es giebt etwas,“ sagte sie in sehr tiefen Gedanken. „Ja, es muss etwas geben. Man denkt nicht daran, wenn man glücklich ist. – All’ diese Tiefen – diese Schmerzen! Diese Schmerzen müssen unsterblich sein.“

„Die Schmerzen sind unsterblich.“

„Die Ahnung des Unendlichen – diese Sehnsucht hinaus! Es ist das Beste, was wir haben. – Es ist sehr schmerzlich.“

„Leiden ist schön.“

„Ja, es ist schön. Ich möchte nicht ohne es sein. – Doch die Andern sind glücklicher. Warum gab man es uns nicht wie dem Thier zu leben? wenn es aus ist, Sterben ohne Bewusstsein?“

„Nichts stirbt. Alles Leben lebt unvergänglich.“

„Sie auch, diese Bäume? Die Wehmuth dieser Felder? Es gäbe eine Vollkommenheit für sie? Eine Erfüllung? Wo ist sie?“

„Ahnst Du sie nicht? – Sieh in die Weite!“ ...

„Manchmal ahne ich sie. Etwas wie einen [pg 85]Zusammenklang, einen verlornen, fernen. Ich weiss nicht. ... Es ist das Leiden, die Sünde: Einer hat Einen getödtet. Man tödtet ihn wieder. Er leidet. Ist er nicht erlöst? ... Aber es sind so viele Andre. Sie gehen hin und leben, correct, alltäglich“ ...

„Sie sind weitab.“

Sie sprach wie im Traume. Der Hund, zu ihren Füssen gelagert, sah sie an mit treuen, klugen Augen. So beweglich waren sie, dass die Lichter fortwährend wechselten wie in einem Spiegel. Im Grase weidete das weisse Pferd. Man hörte es die zarten Halme abrupfen, sie zermalmen zwischen starken, höckrigen Zähnen. Und von Zeit zu Zeit wieherte es leise, wie wenn es antwortete, als röche es den Frühling.

„Ja, ja,“ sagte sie athemlos. „Ich weiss nicht. Aber es muss auch sein. Man quält auch Thiere. Sie leiden und sie ahnen. ... Was ist es?“

„Wenn Du wüsstest, wäre es das?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, man muss es finden, selber in sich finden. Dann ist es der Friede. Ein Glück über dem Glück, Erfolg und Schande, Reichthum und Armuth, – das ist Alles so gleichgültig. Es ist über dem Allen.“

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Sie sah den Fremden an. Die junge Frau mit zarten, spielenden Fingern strich langsam die Säume ihres Kleides entlang. Ihre Augen verschleierten sich in dem Schleier, der über die Felder ging. Es war, als ob die Farbe der Felder in sie eindränge und es bliebe nur eine Farbe in ihren Augen und in der der wehenden Saaten. In der Curve ihrer Schultern fand sich die gesenkte Kruppe des weissen Pferdes. Die graue Seidenhaut des Windspiels schmiegte sich wollüstig, verloren in die Kleiderfalten. Das Wasser fiel in kleinen plätschernden Cascaden, oder es ruhte sich lange aus, in Pausen, wo nur das Unterirdische murmelte, die kleine Stimme von Tropfen, die höhlen, klopfen.

„Manchmal fühle ich, als ob ich gar nicht mehr Ich bin. Eine hässliche Kröte. Eine Tigerkatze. Ich bin ein Wesen, was vor vielen tausend Jahren war und hundertmal gestorben ist. Ein Thier und ein Gott. Vom Thier zu Gott. Das ist der Weg.“

„So ist es.“

„Ja, ich habe gelebt,“ sagte sie sehr leise, liebkosend. „Ich habe gemordet. Ich habe ge[pg 87]sündigt und triumphirt. Vielleicht habe ich am Märtyrerpfahl gestanden. Und es machte mir Freude, meine weisse, feine Hand in Blut zu tauchen, bis sie roth war. – Ich sah einen Mann einmal. Er war ein Strolch und ein Mörder. Er auch, war ein König. In seinem Auge las ich den Stolz der Starken. Wir kannten uns so gut, wie wir uns sahen. ... Das ist seltsam.“

„Nichts ist seltsam.“

„Nichts! Nichts!“ wiederholte sie inbrünstig. Eine feine Röthe schlug von ihrem Hals auf wie Sonne unter Lilienblättern. „Gar nichts ist seltsam. Manchmal in Büchern, in der sehr grossen Kunst fühlt man es. – Ich habe es in Felsbrüchen gesehen, in dem spitzen Speerschaft irgend eines Grashalms. Es giebt Worte, Reime. ... Goethe hat sie. Und Shakespeare, wenn Ophelia wahnsinnige, kleine Lieder singt. Ich kenne chinesische alte Götzenbilder und Michelangelo’s Grabfiguren am Mediceer-Denkmal. ... In der Marseillaise hört man die Tuba der Erzengel. Warum ist Lucrezia Borgia süss wie Nachtigallsang am Maiabend und Napoleon gekreuzigt wie der von Golgatha ... Es ist so schwer zu denken ...“ Sie presste die weiche kleine Hand gegen die Stirn, [pg 88]an der die Schläfen flogen wie unter Hämmern einer Schmiede.

„Warum denkst Du?“ fragte er gütig.

„... Wenn man nicht denken brauchte! Alles weiss man. Nur weil man versucht, sein Wissen zu erklären, ein Wissen für Alle, Gesetze sucht, weiss man nicht mehr. Kinder wissen. Und Frauen! Ah, Frauen wissen eher wie Männer! Sie fühlen. Es ist ihr Körper, der in ihrem Willen ist, ... weil Frauen lieben.“

„Und Gott?“ fragte er.

„Gott auch liebt,“ sagte sie träumend. „Er hasst nicht. Das Gute ist dasselbe wie das Böse. Alles ist ein Leben und es dreht die Welt. Die Thaten, die gethan werden, sind seine Aeusserungen. Es ist nichts gut und nichts schlecht. Es ist wie es ist.“

Er antwortete nicht. Sie seufzte. Die müde Traurigkeit erschien wieder in ihrer Haltung, dem Körper, der sich zurückbog, während die Linie des Halses straff wurde.

„... Sie haben Kirchen gebaut. Ich habe versucht in der Kirche zu beten. Die Sehnsucht erstickte mich.... Hier ist es besser.“

„Es ist besser hier.“

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„Sie sind zu eng, die Kirchen. Dies Alles müsste mit hinein. Viel, viel mehr als die alte Geschichte. Und die neuen Geschichten. Das ist weit – weit ...“

Sie zeigte mit ihrer Hand. Von allen Seiten wallten die Nebel. Es glitt über die Felder. Das Entfernteste verlor sich im Ferneren und das Nahe schien weitgerückt, aufgesogen im Allen ...

Eine Fledermaus strich leise mit unhörbaren, schwarzen, tappenden Schwingen. Näher und wieder weiter, geheimnissvolle Kreise ziehend. Sehr deutlich sah man die feinen Krallennägel, zwischen denen die Flughäute angemacht waren gleich Stofffächern eines Regenschirms, den kleinen, platten Kopf mit spitzen Zähnchen, die nach Insekten schnappten, sie rasch zerrissen. Eine Eidechse kam hervor unter der Brunnenmauer. Sie blieb da wie angewachsen, horchend. In der Saat putzten sich die Hasen und machten Männchen. Sie ohrfeigten einander mit harten, flinken Pfoten und hamsterten leise in sich hinein wie Geizhälse. Ein Fuchs schlich auf Raub mit vorgestreckter spitzer Schnauze und fuchtelnder Ruthe.

Ganz fern quakten Frösche im Feuchten. Von allen Wiesen stieg der Athem auf.

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Sehr lange sassen sie.

Sie erhob sich langsam. Das weisse Pferd kam ohne Ruf. Der Hund witterte in die Richtung mit angelegten Ohren, aufmerksam, zitternd.

„Gehe in Frieden,“ sagte der Fremde, „Du bist näher wie die Andern.“

Der Fremde: Ein Gleichniss

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