Читать книгу Der Fremde: Ein Gleichniss - Hans von Kahlenberg - Страница 7
Das dritte Kapitel.
ОглавлениеMan fürchtete, dass der Zudrang zu der Versammlung ein sehr grosser würde. In Folge dessen war die Schutzmannschaft reichlich aufgeboten. Man gab Achtung, den Saal auf die Minute eine Viertelstunde vor der anberaumten Zeit zu schliessen. Viele sahen sich so ausgeschlossen, auch ergab das einen Vorwand, die Galerie nicht freizugeben. Man führte den Krieg mit diesen kleinen Mitteln seit einiger Zeit, obgleich eigentlich das Verhältniss ein gutes, fast behagliches war. Sie kannten sich so genau, die Gewohnheit des häufigen Zusammentreffens hatte einen förmlichen kleinen Comment herausgebildet, bis auf die ganz regelmässig wiederkehrenden Witze. Man hätte sich fast vermisst, wenn man sich nicht vorgefunden hätte. Der [pg 48]Riesenhund des Wirths trieb seine Allotria dazwischen mit einer ganz kleinen Hündin, einer proletarischen Mischung aller Rassen, die von jeder die Hässlichkeiten angenommen hatte. – Ueberdies waren es genau dieselben Typen, die da Wache gingen, als Ueberwachte eintraten, Blonde, nicht schlecht genährte, bourgeoise Ruhe und Anständigkeit, dazwischen einige knallfarbige, federbewallte Hüte der Genossinnen. Die Frauen überhaupt drängten sich vor, zeigten sich aufgeregter als die Männer; es war bekannt, dass einige der Führerinnen eine Zunge führten, die ihre männlichen Kollegen im Schach hielt.
Einige Parteiveteraninnen hatten sich an den Eingang des Saals postirt. Da Viele noch immer aus- und eingingen, deckten sie die Thür mit ihren breiten Rückseiten. Sie warben für ihren Verein, überwachten den Verkauf der Zeitungen und Broschüren, die auf kleinen Tischchen aufgeschichtet lagen. Dazwischen wurden Bons zur Unterstützung armer Abgeordneter feilgeboten. Die Kellner circulirten mit Bierseideln. Alle rauchten, sprachen durcheinander. Von weitem, mit den schwarzbehuteten Köpfen, die auf- und untertauchten, ergab das den Eindruck eines heftig bewegten Sees, [pg 49]der gegen die Tribüne andrängte, sich staute. Man erwartete den Anfang der Versammlung und wurde ungeduldig. Die dichten Rauchschwaden brachten eine lila mystificirende Beleuchtung mit in das ordinäre, gelbe Gaslicht. – Es waren da Leute, die ruhig ihre Butterbrote und Häringe verzehrten, Andre sprachen von Parteiangelegenheiten, ihren kleinen und kleinsten Privataffairen. Ein junger Mann mit einem rothen Shlips und einem Apostelkopf stand neben der Thür. Er sah krank aus und blickte mit glänzenden, unirdischen Augen in das Leere, als ob er etwas Wunderbares sähe.
Die Parteiveteraninnen behaupteten, dass unter den Anwesenden Spitzel wären. Sie versuchten sie ausfindig zu machen, mit den Fingern zu zeigen. Einige Studenten waren augenscheinlich für einen Ulk hergekommen. Es waren Fremde da, die Keiner kannte, und eine junge Dame in eleganter Kleidung ganz allein, die man ansah, was sie da suche. Im Ganzen war es eine sehr guterzogene Menge, friedlich, ohne Aufregung, fast bourgeoismässig.
Der Saal war der banale grosse Festsaal der mittleren Restaurants, weiss mit Gold, rothsammetner [pg 50]Rampe. Da wurde auch Theater gespielt und getanzt. Es war nicht schlechter wie für die Bourgeois bei ähnlichen Gelegenheiten, man war höflich und kam in weissen Handschuhen.
Auch das Thema der Einberufung bot nichts Besondres. Es war die jährlich wiederkehrende Einbringung der Militairvorlage von Seiten der Regierung. Man wusste im Voraus, dass sie durchgehen würde. Der Protest geschah rein berufsmässig, aus Princip. Und man wusste, dass es für Jahre so gehen würde. Die Aufregungen, das Märtyrerthum, aber auch die Hoffnungen der ersten Jahre waren verschwunden. Die junge Partei hatte zu leben gelernt, fast konnte man sagen, Manieren gelernt. Man nahm, was man kriegen konnte. Man war stark, zahlreich, wohlorganisirt, das Odium war weggenommen, ebenso der Heldennimbus. Man hatte nicht mehr die Angst zu sterben, aber auch nicht die Aussicht zu siegen; man „entwickelte sich“.
Zurufe begrüssten den Eintritt des grossen Mannes, in Wahrheit eines ganz kleinen Männchens. Alles das ging rasch, wenig theatermässig. Nur das Antlitz des Johannes leuchtete auf. Er drängte sich an den Bewunderten, um seine Hand [pg 51]zu schütteln. Eine Leibgarde, die Veteraninnen, hatten ihn sofort eingezingelt, beinah protzenhaft, mit dieser Miene: „Wir gehören zum Haus“, die Unberufene einschüchtert. Nun wurden die Formalitäten rasch erledigt. Einige Witze fielen gegen die Polizei, die die Galerie gesperrt hielt. Man kannte sich zu gut, sehr alte Feinde, Gladiatoren, die sich jeden Tag treffen und beinah Freundschaft gemacht haben. Der Saal war voll zum Ersticken. Es waren Männer zumeist, Männer mittleren Alters. Die Jugend, wie überall, zog es vor, sich zu amüsiren. Oder man liebte Radauversammlungen in Rixdorf, Charlottenburg, den Vororten. Dies war eine wohlgeschulte, ausgediente Armee, ihr Capitain der sprach.
Der grosse Mann auch war alt geworden, sehr alt. Das Feuer, das seine Jugend gefährlich und unwiderstehlich gemacht, hatte sich gewöhnt, für den Hausbedarf zu brodeln. Er wusste sich zu beherrschen jetzt, dessen Leidenschaftlichkeit einst sein Ruhm und sein Fluch gewesen war. – Im gleichmässigen Tonfall flossen die Sätze, periodisch, deutlich hörbar in der geübten Stimme des Redners bis an’s äusserste Ende des Saals. So war er sachlich geworden, ein Typus, wie so [pg 52]mancher Andre, den die Gegner fast vermissen, sich mit Rührung seinen leeren Platz zeigen, wenn er nicht mehr da ist: So focht er, und so führt’ ich meine Klinge. – Auch die Rede hielt sich genau in den Grenzen. Ein Rückblick auf die immer sich steigernden Forderungen, die Entwicklung des Militarismus in Europa. Das neue Friedensmanifest des Zaren erregte Ironie. Man brauchte die Armeeen für die Söhne der oberen Zehntausend, das Niederhalten der revolutionären Bewegung. Wieder der gefährliche, ironische Beifall. Sie wussten das wohl – sie!
Nur einmal erhob sich die Stimmung zu einer gewissen Grösse. Der Redner hatte Aeusserungen zur Philosophie des Krieges angeführt, von Moltke, Treitschke, General von Boguslawski. Dann wurden statistisch die Verluste in der Industrie seit siebzig nachgewiesen. Eine halbe Million! Mehr wie alle Kriege! Wir brauchen keine künstliche, gewaltsame Schöpfung, um uns männlich und kraftvoll zu erhalten. – Ein Ausruf begleitete diese lange Liste von Blut, Verstümmelung, Asphyxie, Marter, – ein Schrei des Schmerzes, aber auch der Kraft, imponirend in dieser friedlichen, mittelmässigen Masse. Sie waren die[pg 53]jenigen, die sein mussten. Sie würden sein. Da war die Grösse der Partei, das Selbstbewusstsein des thätigen, unreflektirenden Lebens, die Haupterrungenschaft der modernen, demokratischen Zeit. Und das wird bleiben.
Ein früherer Pastor sprach nach dem grossen Mann. Er hatte seine Stellung aufgegeben um seiner politischen Meinung willen, verwahrte sich aber ebenso gegen die Partei. Er entwickelte des Längeren seine Ansichten. Er glaubte an Gott, war königstreu. Seinen Traum bildete eine Art christlich-sociales Königtum. Man hörte zu, nicht gerade unhöflich, aber ohne Interesse, leicht ironisch. Und er war confus, quasselte. Es lag etwas Gefährliches in dieser höflichen Ironie selbst. Man hatte das zu oft gehört. Man glaubte sowas nicht mehr.
Den Beschluss machte ein Anarchist. Er hatte wenig Glück, die Parteiveteraninnen protestirten von vornherein. Die Rede war ein krauses Sammelsurium, eine Gesellschaftsordnung auf nur natürlicher Grundlage, freie Geschlechtswahl, mit einer seltsamen Verquickung von naturphilosophischen Dingen, abstrusem Mysticismus. Man rief ihm Schweigen zu, pfiff, trampelte mit den Füssen: [pg 54]„Schliess auf! Halt’ die Schnauze!“ Man wollte das nicht, man war Polizei für sich selbst. Wenn Einer das Martyrium der Lächerlichkeit auf sich nehmen wollte, desto schlimmer für ihn selbst. Sie schüttelten sich das von den Rockschössen. Sie hielten auf ihre neue, sauererworbene Respektabilität.
Der Verhöhnte stand einen Augenblick, blass, mit einem kränklichen Lächeln, stotternd. Dann stieg er unter allgemeinem Gelächter die Tribüne herunter.
Die Versammlung löste sich auf in bester Ordnung. Der Abgeordnete wechselte mit den Polizisten einen Gruss. Er war sorgfältig in einen gestrickten Wollshawl eingewickelt, er litt an Katarrhen. Der Sergeant lächelte gutmütig mit Bezug auf den letzten Redner. „Verrückter Kunde! Wir lassen ihn laufen“ ... Sie hatten ihn schon so oft eingesteckt. Da war nichts zu machen. Und er war ungefährlich. – Beide Gewalthaber schieden im besten Einvernehmen. Hätten sich die Machtverhältnisse eines Tages umgedreht, diese Gegensätze würden ruhig in ihren beiderseitigen Functionen bleiben können. Es wäre dasselbe gewesen.
[pg 55]
Der Pastor vereinigte sich mit dem berühmten Führer. Er sprach eifrig auf ihn ein. Mit einer gewissen Nachsicht des alten Praktikers unterbrach ihn der Andre nicht. Schliesslich – diese Leute thaten seine Arbeit.
Am Strassenausgang stand ein Fremder. Er stand da und sah sie an.
Sie sahen ihn Beide, der grosse Mann und der Pastor. Auch die Polizisten sahen ihn.
„Wer war der Mann?“ fragte der Pastor.
Der Abgeordnete zuckte die Achseln. „Ich kenne ihn nicht.“ Er hatte Eile, nach Hause zu kommen. Er musste sich schonen.
„Ein grosser Mann,“ sagte der Johannes ekstatisch. Ihn fror. Er stand da am Ausgang und hatte die Hände in die Taschen gesteckt und sah ihm nach. Seine Backenknochen glühten. Er musste husten in sein Taschentuch. Wenn er es wieder herunternahm, war es immer voll Blut. Er wusste das schon. „Was er sagt ist wahr. Er versteht’s.“
„Ein grosser Mann,“ sagte der Fremde.
Die ganze Masse schob an ihnen vorüber. Die Veteraninnen sprachen sehr laut. Sie hatten die Kasse abgeschlossen und entrüsteten sich über [pg 56]wieder einmal constatirte Gnietschigkeit. Eine wollte sich noch zu Hause Puffer backen. Sie gaben Parolen aus für den nächsten Tag und Rendezvous in den Vereinen. Die Studenten wollten noch zum Bier, die eingenommene Quantität hatte ihnen nicht genügt. Man war froh, sich zu bewegen, die Beine auseinander zu setzen, nachdem man drinne eingepökelt gewesen war wie Pökelhäringe. Einige Damen riefen nach einer Droschke, sie gehörten zur Frauenbewegung und besuchten dergleichen aus Princip. Man truppte zufrieden nach Haus. Man hatte seine Pflicht gethan und ihr Häuptling hatte seine Sache gut gemacht. Es gab Keinen, der über diesen Mann ging, und die immer zunehmende Stimmenzahl bei den Wahlen. Das war das grosse Kampfmittel. Es liess sich nachrechnen, wie das stieg von fünf Jahren zu den nächsten fünf Jahren.
Dann kam auch der Anarchist. Er trug einen ganz dünnen, kleinen Sommerpaletot und ging, als ob er gar nicht wüsste, wo er wäre. Seine vagen, schweifenden Augen trafen den Fremden und den Johannes. Es lag eine nachdenkliche, zärtliche Wehmuth in dem Blick, eine Bitte, oder als ob er sich entschuldigen wollte, dass er an[pg 57]fragte – aber man wusste nicht, ob er überhaupt wirklich sah. Er war noch nicht alt, aber er sah hungrig aus, mehr vom Hunger des Geistes, als vom leiblichen Hunger. So hatte er etwas von einem Kind, oder auch von einem hülflosen getretnen Thier. Er seufzte und blickte in das Laternenlicht. „Es ist schon elf Uhr,“ sagte der Anarchist.
Er schauerte und kroch tiefer in seinen Ueberzieherkragen. Er hatte einen sehr weichen, hellen gelben Hut auf, der in weitem Rand von seinem Kopf abstand. Seine Haare fielen gerade über seine Ohren und waren lange nicht geschnitten. Wenn er sprach, lächelte er jedesmal, ein schüchternes Lächeln, wie von Einem, der im Unrecht ist und doch etwas Gutes und Wichtiges sagen möchte. Dann hatte er ungeschickte Bewegungen, wie von einem Wurm, und hüpfte zuweilen auf einem Fuss, als ob er stolperte.
Der Johannes ging auf der andern Seite. Er hustete. Er war ganz selig im Gedanken an diesen grossen Mann, dessen Hand er gedrückt hatte, der so gut sprach, eine Stimme war, auf die man hörte, für die armen Leute. Die gebildeten, sachlichen Sätze hatten ihm imponirt. Sicher! [pg 58]Das wandte sich zum Bessern, wenn einfache Gerber- und Brauergesellen sprachen wie der! Er trug seine rothe Cravatte wie ein Triumphzeichen. Mehr konnte er nicht thun. Aber das Blut seines Herzens war darin. Er fühlte seine Lungen brennen und flattern unter ihr.
„Es ist immer am schlimmsten des Abends,“ entschuldigte er sich.
„Das thut der Rauch. Sie sollten nicht rauchen im Saal. Es strengt auch die Stimme an, wenn man sprechen muss. Und er hat zwei Stunden gesprochen. Das ist bewunderungswürdig für solch’ einen Mann!“
Er war rührend in seiner Zärtlichkeit für diese Stimme, den Mann, der sprach, während er nur husten konnte, unnütz sein Blut ausspie, in das Taschentuch, das sich färbte, klebrig wurde zwischen seinen dünnen, fiebernden Fingern. Sie waren gelb wie aus Wachs und gezeichnet von aussen durch die harte Arbeit, roher, oberflächlicher, als durch die Krankheit von innen, die sie zehrte, fein machte, spiritualisirte.
„Wir werden es ja nie erleben,“ sagte er friedlich. „Aber die Andern, die nach uns kommen! Einen Tag haben wir genug Stimmen im Reichstag. [pg 59]Sie können nicht mehr an gegen uns. Dann wird Alles gut sein. Wir werden die Gesetze machen. Es giebt keine Kriege mehr. Alle Völker sind Brüder. Man arbeitet. Man lebt“ ... Er hustete heftiger wieder, sich abwendend, um den Andern den Anblick seiner Schwäche zu ersparen.
„Ich – ich hasse die reichen Leute nicht. Sie wissen es nicht besser. Es sind Viele, die es gut meinen. Man wird Gesetze finden. Das geht ganz von selbst, ohne Revolution und Blutvergiessen. Die Soldaten sind ja auch auf unsrer Seite. Nur Zeit braucht’s. Man hört. Man liest Bücher. Die Vernunft muss ja ihren Weg finden. Es ist nur schlecht eingerichtet. Man hat die Religion gehabt, den Aberglauben. Die Menschen sehen jetzt, wie es wirklich ist. Man kommt vorwärts. Man bildet sich. Alles geht gut. Die Gerechtigkeit muss aufkommen.“
Alle diese kleinen Sätze sagte er ruhig, sanft, ohne Aufregung, von Hustenanfällen unterbrochen, die ihn quälten, seinen Körper schmerzhaft zusammenkrümmten, wie aufgespiesst an einer glühenden Nadel.
Sie gingen in dem Strassengetriebe vorwärts. Es trieb sie ohne ihren Willen. Vielleicht wussten [pg 60]sie gar nicht, wohin sie gingen. Eine alte Frau in einer schwarzen Pelerine wackelte vor ihnen her, enorm wie eine wandelnde Glocke. Einige hatten Regenschirme aufgespannt. Sie sprachen von Geld: „Wenn man dreissig Pfennige die Stunde verdient, aber fünfundvierzig müsste man haben.“ Ein junges Mädchen trug einen grossen Carton. Sie trippelte und sah hinter sich nach drei jungen Burschen, die sich lärmend stiessen.
Die Laternen schwammen wie gelbe, ausgeflossene Dotterflecken, schaukelnd. Der Schmutz mit dem geschmolzenen Schnee bildete eine bräunliche, zähe Masse. Eine leere Droschke fuhr sehr dicht am Trottoir, als ob der Kutscher Kunden suchte. In den Destillationen discutirte man oder spielte Billard. Man sah die grauen Hauswände feuchtigkeitstriefend mit Ladenschildern und Plakaten, Pferdebahnen, die klingelnd trotteten mit müden, geduldigen Pferden. Aber Alles ungewiss, wie verwischt, unruhig, in Schatten ...
„Man müsste es machen wie die Thiere,“ sagte der Anarchist. „Thiere sind klüger wie Menschen. Sie haben keine Gesetze und keinen Staat. – Aber es giebt auch eine Seele. Ich habe Todte gesehen, die wiedergekommen sind und mit [pg 61]den Händen in der Luft zeichneten. Nun, ich habe die Königin Luise gesehen. Sie ist zu mir gekommen am Weihnachtsabend und hat mir eine weisse Rose geschenkt. Eine weisse Rose, die duftete. Sie kommt oft zu mir. Der Kaiser Friedrich kommt auch, und Napoleon und der Kaiser Alexander. Ich weiss nicht, warum sie zu mir kommen. Aber sie kommen.“
Er lachte, ein kleines, ungewisses, eitles, ungläubiges Lachen. Es sollte um Entschuldigung bitten für ihn. Im Grunde war er stolz. Es gab so viel Dinge. Er wusste nicht ...
„Man fühlt sie, wenn man nicht viel gegessen hat. Und Jeder fühlt sie auch nicht. Manche Menschen schlafen auch die ganze Nacht. Ich zum Beispiel, ich kann sehr oft nicht schlafen. Dann denke ich über Alles nach. O, es giebt sehr viele Sachen! Wenn man wüsste ... Vielleicht ist es auch nicht gut. Man muss essen.
„... Die Thiere sind klug. Und die Kinder. Sie wissen alles Mögliche, diese Kleinen. Aber sie können nichts sagen. Die Todten können auch nichts sagen. Viele glauben nicht, dass es ein Leben nach dem Tode giebt. Nun, diesen kann man auch nichts sagen. Das ist Alles Gnade, [pg 62]wem es gezeigt wird. Und Viele wollen auch nicht sehen. Ich, ich glaube zum Beispiel an eine Seele.“ ...
Nervös, schüchtern sagte er das, mit einer schweren, etwas singenden Stimme. Er war wohl gewöhnt, dass man ihn oft für verrückt hielt. Vielleicht war er auch etwas blödsinnig. Aber das waren seine Geheimnisse. Er war stolz auf sie andrerseits. Oft erfüllte ihn eine schlechte Eitelkeit. Er kam sich dann besser wie andre Leute vor, eine strahlende und durchgeistigte Persönlichkeit. Häufig war er auch traurig und verachtete sich. Er hatte oft nichts zu essen. Der Hunger und die Gedanken hielten ihn wach des Nachts.
Sie waren so auf einem freien Platz angelangt, wo die Strasse aufhörte. Gerade über diesem Platz stand der Mond. Aber er war hinter den Wolken. Die Wolken umwellten ihn, zogen rasch über ihn her. Manchmal versteckten sie ihn ganz. Dann war es noch dunkler, wo er stand. Oder er war am Rande ein heller Fleck. Selbst wenn er ganz von ihnen befreit war, zeigte sein Rund schwarze Flecken wie Wollfasern, hingeworfene Schwämme. Diese Wolken zogen sehr rasch und wechselten ihre Form fortwährend. Manchmal waren sie [pg 63]Kameele, hüpfende Känguruhs oder grosse Schildkröten. Oder auch nur Dämpfe, gezupfte Watte. Auf dem Trottoir kämpften die Laternenstrahlen. Aber das Gas war unruhig im Winde, flackerte hin und her. Metall blinkte zuweilen oder eine Fensterscheibe funkelte schwarz polirt. Weisse Kanten von Gesims oder Mauern leuchteten urplötzlich auf im Dunkeln. Festes schien zu gleiten und Unbewegliches bewegt. Ringsum schlief die Stadt, Dach an Dach und Schornstein über Schornstein. Aber das fratzenhafte, lügnerische Wesen liess sie nicht schlafen. Es webte und irrte.
Eine letzte Pferdebahn hielt am äussersten Ende des Platzes. Die Pferde waren noch nicht eingespannt. Sie stand unbeweglich. Der Kutscher mochte wohl einen Schlaf halten im Innern des Wagens, bis seine Zeit war.
Sie waren alle Drei stehen geblieben.
Die beiden Männer sahen den Fremden an. Sie sahen ihn an, als ob sie warteten. Sie standen da und warteten, fröstelnd, etwas benommen, zwinkernd in das Halblicht ...
Der Eine war halb aufgefressen vom physischen Leiden. Den Andern trieb die Rastlosigkeit vorbei und weiter.
[pg 64]
Alle Beide hatten dieselben cernirten, etwas blöden Augen von einem unbestimmten, sanften Grau mit grünlichen Lichtern, Augen von Nachtthieren, die man mit einiger Ueberraschung entdeckt, weil ihr Funkeln irreführte im Dunkeln, – Schultern, die getragen hatten, und zu hohe, weitoffene Stirnen über fliehenden, demüthigen Unterpartien gutartiger Hunde.
Sie warteten.
[pg 65]