Читать книгу Westfalengau - Hans W. Cramer - Страница 18
11. Kapitel
ОглавлениеDortmunder Norden, Juli 2019
Nachdem das gesamte Haus, die Reitställe und der Garten durchsucht worden waren, trafen sich die Geburtstagsgäste im Wohnzimmer. Alle redeten durcheinander. Es wurde wild spekuliert, gerätselt und gefragt. Jeder hatte eine eigene Theorie, wo Lina sein oder was mit ihr passiert sein könnte.
Obwohl sie nun wirklich nicht die Älteste war, ergriff Sabine wie selbstverständlich das Kommando und verschaffte sich lauthals Gehör. »Leute, hört mal her. Wir sind alle aufgeregt und ratlos, was mit Oma Lina passiert sein könnte. Trotzdem müssen wir jetzt Ruhe bewahren, sonst kommen wir nicht weiter.«
»Du hast gut reden«, murmelte Gernot kaum hörbar. »Es geht ja schließlich nicht nur um Oma, sondern auch um das ganze Erbe.«
»Was soll denn diese bescheuerte Aussage?«, zischte Sabine in seine Richtung.
»Na ja«, antwortete Gernot mit einem trotzigen Unterton in der Stimme, »wenn Oma wegbleibt, ist das doch mit dem Erbe überhaupt nicht geregelt. Und dann?«
»Halt den Mund, Gernot!«, blaffte sein Vater Günter, und der Angesprochene zog beleidigt einen Schmollmund, verhielt sich aber ab nun ruhig.
»Wir sollten zunächst alle Angestellten, Reiter und überhaupt alle Menschen, die heute Vormittag auf dem Gut waren, zu uns bitten und befragen. Gleichzeitig könntest du, Raster, die umliegenden Krankenhäuser und Polizeistationen kontaktieren. Danach sehen wir weiter. Sie wird schon wieder auftauchen. Oma Lina verschwindet doch nicht einfach so. Fritz, sag mal, fährt sie eigentlich noch selbst einen Wagen? Ich habe sie das die letzten Male, als ich hier war, gar nicht gefragt.«
Fritz, der blass in einer Ecke stand und seine Mütze knetete, als könnte die etwas ausspucken, das ihm weiterhelfen würde, schüttelte den Kopf. »Nein. Den Führerschein hat Lina vor Jahren bereits abgegeben.«
»Okay. Dann organisierst du, dass alle Leute, die hier waren, zu uns kommen. Und du, mein Schatz, hängst dich ans Telefon, ja?«
Raster nickte und verschwand im Nebenzimmer, um in Ruhe zu telefonieren.
»Äh, Sabine?« Günter, Frieda, Helga und Barbara näherten sich zögerlich.
»Ja?«
»Es tut uns schrecklich leid. Aber wir müssten so langsam aufbrechen.«
»Aber wir hätten doch auch sonst noch zusammen im Garten gesessen. Ich meine mit Lina«, antwortete Sabine erstaunt.
»Ja schon«, druckste Günter. »Aber weißt du, diese ganze Aufregung. Das ist nichts für Frieda und Helga. Und ehrlich gesagt, kann Barbara damit auch nicht so gut umgehen. Ihr macht das schon. Ich bin mir sicher, dass Lina bald wieder auftaucht.«
»Verstehe. Wir können ja im Moment nicht viel machen. Also, passt auf euch auf. Wir halten Kontakt, ja?«
Dankbar zogen sich die vier zurück, hatten noch einen kurzen Austausch mit Gernot, wie Sabine aus den Augenwinkeln beobachten konnte, der sie aber kopfschüttelnd abwies, bevor sie den Raum und das Haus verließen.
Sabine ging zu ihren Geschwistern, die mit den ängstlich zusammengekuschelten Kindern auf einem Sofa saßen. »Ich finde, ihr solltet auch fahren«, meinte sie. »Für die Kinder ist das eine unnötige Aufregung. Die brauchen euch gerade jetzt. Da habt ihr gar keine Zeit, uns bei der Suche zu helfen. Fritz, Raster und ich kümmern uns schon.«
»Bist du dir wirklich sicher?«, fragte Hanna, und auch Ralf und Sarah schauten sie fragend an.
»Ich bin ganz sicher«, bekräftigte Sabine und zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr überhaupt nicht danach war.
Nachdem Raster, der mit einem Kopfschütteln von seinen Telefonaten zurückgekehrt war, und Sabine die Verwandtschaft verabschiedet hatten, die mit deutlich sichtbarem schlechten Gewissen das Gut verließ, begannen sie mit der Befragung der Angestellten und Reiterinnen. Einer nach dem anderen trat ein, doch keiner hatte etwas gesehen oder gehört. Weder Lina, die das Haus verlassen hatte, noch irgendwelche Fremden, die das Haus betreten hätten. Frustriert bedankten sich Raster und Sabine bei allen und schauten sich verunsichert an.
»Polizei?«, fragte Raster.
»Dazu ist es noch zu früh«, kam es aus einer Ecke des Wohnzimmers.
»Gernot? Du bist noch da?« Erschrocken wandte sich Sabine ihrem Cousin zu. »Ich dachte, du bist nach Hause gefahren?«
»Ach was«, entgegnete dieser und kam betont lässig näher. »Ich hab’ zurzeit sowieso nichts zu tun. Da kann ich euch auch helfen, nach Großmutter Lina zu suchen.«
»Na gut, wie du willst«, meinte Sabine und klang nicht sehr begeistert. »Die Polizei rufe ich trotzdem an. Lina ist ja schließlich nicht irgendwer.«
Raster und Gernot beäugten sich misstrauisch und schwiegen, während sie auf Sabine warteten.
»Sie kommen«, verkündete Sabine, als sie wieder ins Zimmer trat. »Es wird zwar noch etwas dauern, aber, wie ich gedacht habe, ist denen Lina Funda so wichtig, dass sie frühzeitig etwas unternehmen wollen.«
»Okay«, meinte Gernot, der mittlerweile unruhig im Wohnzimmer hin und her tigerte. »Und was sollen wir in der Zwischenzeit machen?«
»Ich würde vorschlagen, du schaust dich im Bad von Oma um, ob ihre Diabetesmedikamente noch da sind. Die braucht sie dringend. Wenn sie die nicht dabei hat, haben wir, nein, hat sie ein echtes Problem. Und bei der Gelegenheit guckst du dich allgemein in ihren Räumen um, ob dir irgendwas auffällt, das uns einen Hinweis geben könnte. Raster und ich machen das Gleiche im Rest des Hauses, okay?«
»Großmutter hat Diabetes?«, fragte Gernot überrascht.
»Ja. Wusstest du das nicht? Schon seit vielen Jahren. Und wie gesagt: Sie braucht dringend ihre Medikamente. Eines heißt Metformin, den Namen von dem zweiten weiß ich nicht mehr. Die beiden stehen aber immer zusammen im Bad. Schau bitte gründlich nach.«
Gernot nickte und verschwand.
»So. Und wir beide machen mal eine ausgiebige Hausbegehung. Komm, wir fangen in der Küche an.«
Nachdem die beiden den Keller, die Küche, das Esszimmer und die oberen Etagen gründlich begutachtet hatten, ohne etwas Verdächtiges gefunden zu haben, standen sie schließlich wieder im Wohnzimmer und schauten sich um.
»Moment mal«, meinte Raster nach einer Weile. »War die Terrassentür schon offen, als wir heute Morgen gefahren sind?«
»Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht genau. Aber Lina kann sie ja in der Zeit, in der wir weg waren, geöffnet haben.«
Nachdenklich ging Raster zu der Tür, zog sie auf und schaute in den Garten. »Was ist hinter dem Garten?« Er wies auf die Randbegrenzung des Grundstücks, an der eine Reihe Ginsterbüsche standen.
»Ein Wirtschaftsweg«, antwortete Sabine. »Du meinst …«
Raster trat auf die Terrasse und begutachtete die Rasenfläche vor sich. »Guck mal hier, Sabine! Haben wir gestern irgendetwas von drinnen nach draußen geschleift? Mit einem Abstand von vielleicht 15 Zentimetern?«
Sabine schüttelte den Kopf. »Das sieht tatsächlich so aus, als wäre eine Person über den Rasen geschleift worden. Das könnten Abdrücke ihrer Absätze sein.«
»Und auf dem Weg da drüben hat ein Wagen gewartet. Deswegen hat im Hof keiner etwas mitbekommen«, ergänzte Raster leise.
»Ich ruf sofort noch einmal die Polizei an. Die sollen sich gefälligst beeilen und das alles hier untersuchen.«
In diesem Moment kam Gernot zurück ins Wohnzimmer.
»So, wie ich das sehe, ist Oma Lina freiwillig verreist. Warum auch immer. Es fehlen jedenfalls die Medikamente, es ist keine Zahnbürste im Bad, und wenn ich ihren Kleiderschrank beurteilen soll, was ich wirklich sehr ungern tue, fehlen dort auch einige … Dinge. Ihr wisst schon, was ich meine.«
Ratlos guckte Sabine zu Raster. »Das verstehe ich nicht. Du etwa?«
Raster schüttelte langsam den Kopf, während er unablässig Sabines Cousin in die Augen schaute. »Nein. Das verstehe ich auch nicht. Lasst uns auf die Polizei warten.«