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2. Kapitel
ОглавлениеBrighton, Südengland, April 2017
Paul Fisher stand am Fenster der kleinen Wohnung im ersten Stock eines heruntergekommenen Hauses in der Portland Road. Er starrte durch das beschlagene Fenster auf die regennasse Straße, wo nur wenige Passanten, den Pfützen ausweichend, ihrem Ziel entgegen eilten. Wiederholt strich er sich mit beiden Händen über die Arme, um sich etwas Wärme zu verschaffen. Er trug einen dunkelgrauen, kratzigen Wollpullover und feste Bluejeans. Seine Füße steckten in ledernen knöchelhohen Boots. Trotzdem griff ihn die klamme Kälte der Wohnung mehr an, als ihm lieb war. Die meiste Wärme wurde durch den ständig röhrenden alten Kühlschrank produziert, der an einer Wand des nur karg eingerichteten Raumes stand. Außerdem juckte seine Narbe unterhalb des rechten Auges, was immer schon ein schlechtes Zeichen war. Die Narbe hatte er sich bei einer Kneipenschlägerei vor Urzeiten zugezogen. Sie war zwar klein, zog aber das rechte Unterlid ein paar Millimeter Richtung Nase, wodurch diese Gesichtshälfte immer traurig aussah, auch wenn die andere Seite lachte.
Der Coop-Laden gegenüber war mal wieder aus unerfindlichen Gründen geschlossen, stellte Paul in einem weit peripher liegenden Teils seines Gehirns fest, während seine Gedanken woanders ihre Bahnen zogen.
Was konnte er schon dafür, dass er hier gelandet war? An ihm lag es nun wirklich nicht. Es war ihm bewusst, dass er klug genug war, um etwas anderes als das hier, auf die Beine zu stellen. Aber welche Chancen hatte das Leben ihm denn gegeben? Ach was, das Leben; seine Eltern hatten ihm letztendlich das alles eingebrockt. Allen voran sein Vater, der alte Hurenbock. Eines Tages hatte es seiner Mutter gereicht, ständig Beweise für eine neue Schlampe zu finden, die er unbedingt hatte abschleppen müssen. Die Trennung war unvermeidlich. Aber damit hatte das Drama erst so richtig an Fahrt aufgenommen. Er selbst war damals gerade einmal zehn Jahre alt, sein neun Jahre älterer Bruder diente seit Kurzem in der Marine, und so war er dem, was kam, hilflos ausgeliefert. Sein Vater weigerte sich, Unterhalt zu zahlen, sodass die Mutter mit drei Putzjobs die kleine Familie erhalten musste. Die bisherige Wohnung konnte sie trotzdem nicht finanzieren, und so fanden sie sich schon bald in einem Drecksloch von Sozialwohnung in Preston wieder. Hier, im Preston Park, lernte Paul mit 13 seine erste Gang kennen, mit der er kleinere Unternehmungen startete, die am Rande der Legalität lagen. Aber was hätte er denn anderes machen können? Die Mutter wiederholte mantramäßig, dass sie alles tun würde, damit das Geld reiche, und sein Job wäre es, verdammt noch mal, alles dafür zu tun, dass er eine vernünftige Schulausbildung bekäme. Die Schule, ha! Es war einfach alles nur langweilig. Paul hatte schon früh gemerkt, dass der angebotene Stoff für ihn ein Klacks war. Das Wissen, dass er die schulischen Inhalte beherrschen könnte, reichte ihm völlig. Folglich wurden die Noten trotz Ermahnungen der Lehrer und der Mutter immer schlechter, bis er nach der elften Klasse mit einem miserablen Zeugnis die Comprehensive School beendete. Andere Dinge waren eben interessanter und spannender.
Er begann unter massivem Druck seiner Mutter eine Ausbildung in einer Autowerkstatt, wo er seine erste große Liebe traf: Sarah, Tochter seines Chefs und mit einer unersättlichen Lebensfreude ausgestattet. Sie schmiss das Büro der kleinen Werkstatt, pflegte die Kundschaft auf ihre unnachahmliche, charmante Weise, schäkerte und flirtete, wo es nur ging und verdrehte schlichtweg der gesamten Männerwelt die Köpfe. Eines Tages, Paul erinnerte sich noch gut daran, es war der Abend nach seinem 18. Geburtstag, ergab es sich dann, dass Sarah, die Sarah Dickinson, Tochter von Peter Dickinson und Schwarm aller normalfühlenden Männer, ihn, den schmächtigen Paul, zu einem Drink einlud. Danach ging es sehr schnell. Es waren die wunderbarsten Tage in Pauls bisherigem Leben. Vergessen waren die Kumpel im Preston Park, vergessen die kleinen und größeren Gaunereien. Es gab nur noch Sarah. Aber es waren eben auch nur Tage. Wenige. Denn nach genau zwei Wochen war alles vorbei. Ohne Angabe von Gründen wurde Paul von Sarah versetzt, und nur drei Tage später steckte ihm ein Kollege in der Werkstatt, dass sie mit so einem Typen aus der Innenstadt rumhängen würde.
Das war zu viel. Er schmiss die Ausbildung, zog von zu Hause aus und kroch bei seinem Freund Keith unter. Ab diesem Zeitpunkt begann die eigentliche kriminelle Karriere des Paul Fisher. Aber mal ehrlich: Was konnte er denn dafür?
»Werden die Reds es dieses Jahr schaffen? Was meinst du, Paul? Seitdem dieser Klopp Trainer ist, geht es echt spürbar bergauf!«
Jäh aus seinen Gedanken gerissen, drehte sich der Angesprochene seufzend um und betrachtete kopfschüttelnd seine drei Kumpel, die auf den Sofas der zerschlissenen Sitzecke herumlümmelten.
Rechts saß sein alter Freund Keith, ein Bein lässig über die Lehne des Sessels geschwungen. Wie immer cool und abgeklärt, eine halb abgebrannte Kippe im Mund, dünn wie ein Spargel und fast immer grinsend. Er war der Einzige, der aus der Zeit des Preston Parks übriggeblieben war. Genauso alt wie er, waren sie über all die Jahre – Paul dachte kurz nach, es waren tatsächlich schon 21 – unzertrennlich geblieben. Sogar das eine Mal, als Paul für zwei Jahre hatte einfahren müssen, hatten sie zusammen im Gefängnis verbracht.
Mit dem Rücken zu ihm, fragend das Gesicht Paul zugewandt, saß Simon. Ein dunkelhäutiger Typ, gerade einmal 23 Jahre alt, der erst seit wenigen Monaten bei ihnen war. Eigentlich ein ganz cleverer Bursche, wenn er nur nicht so viel reden würde, dachte Paul. Und vor allem fast ausschließlich über Fußball, es war zum Haareraufen.
»Lass Paul in Ruhe, Simon«, antwortete der Vierte im Bunde. »Er hat bestimmt noch wichtige Dinge durchzuspielen, bevor es morgen ernst wird, stimmt’s, Paul?« Ethan war klein, so schmal wie Keith, hatte aber eine ganz andere Körpersprache. Den Rücken immer krumm, machte er sich noch kleiner, als er sowieso schon war. Dazu kamen die fettigen Haare, deren größter Teil schräg auf seiner linken Stirn klebte. Auch die stets abgerissene Kleidung zeigte sein fehlendes Selbstbewusstsein. Wie er vor etwa einem Jahr zu ihrer Gruppe gestoßen war, konnte Paul kaum noch erinnern. Bei einem kleineren Coup war er zufällig da gewesen und hatte ihnen geholfen. Na, hoffen wir das Beste, dachte Paul besorgt. Morgen wird es sich zeigen. »Ist schon gut, Ethan. Lass Simon ruhig quatschen. Mir ist das vollkommen schnuppe, wer dieses Jahr Meister wird. Ich möchte nur, dass alles glatt läuft. Sollen wir noch einmal die einzelnen Schritte durchgehen? Keith?«
»Von mir aus. Dann komm aber her, sonst bekommt Simon eine Genickstarre. Schnapp dir ein Bier und setz dich zu uns.«
Paul tat, wie ihm geheißen. Nach dem ersten Schluck Lagerbier aus der Flasche begann er zum vielleicht 100. Mal, seinen Plan für den kommenden Tag zu erläutern. Eine gute halbe Stunde, einige Nachfragen und entsprechende Antworten später kam Paul zum Schluss. »Also, Leute. Nochmal das Wichtigste zum Mitschreiben. Völlig egal, was ihr in den Kassen vermutet, haltet euch nicht damit auf. Es geht ausschließlich um die Schließfächer. Ist das klar? Ich weiß zwar nicht, was wir dort finden, aber die Wahrscheinlichkeit, dass das wesentlich mehr ist als alles Bargeld, das die da vorrätig haben könnten, ist enorm. Mein Kumpel war da ganz sicher. Und wehe, einer von euch vergisst sein Spezialwerkzeug!«
»Ja, Papa. Wie oft denn noch? Alles klar. Jetzt lasst uns ein paar Bier zischen, und dann geht’s bald in die Falle, okay?«
Widerstrebend nickte Paul. Es musste einfach klappen. Die Chance war einmalig. Es hatte damit begonnen, dass er einige Monate zuvor in einem Pub in Worthing am Tresen auf sein Bier wartete. Warum er an diesem Abend in Worthing war, wusste er nicht mehr. Neben ihm standen zwei Anzugträger, die sich lautstark über ihre Arbeit unterhielten. Offensichtlich Banker, wie Paul dem Inhalt des Gesprächs entnehmen konnte. Er bekam sein Bier und wollte gerade an seinen Tisch zurückgehen, da schnappte er einen Satz auf, der ihn stutzig machte und ihn bewegte, am Tresen stehen zu bleiben.
»Es wird auch höchste Zeit, dass diese alten Fächer ausgetauscht werden. Wann soll das gemacht werden?«, fragte gerade der eine, dessen rotgeränderte Augen von mehr als einem konsumierten Pint Zeugnis gaben.
»Im nächsten Mai. Also ehrlich. Wenn ich etwas Wertvolles einlagern wollte, dann sicherlich nicht bei uns. Der Vertreter der Firma, die die neuen Schließfächer einbauen wird, hat mir gestern erst gezeigt, wie leicht man diese alten Dinger aus den 60er-Jahren aufbekommt.« Es folgte eine detaillierte Beschreibung der notwendigen Werkzeuge und des Verfahrens. Paul wollte seinen Ohren nicht trauen. Was waren das denn für Knalltüten? Wenn ihr Chef wüsste, was die hier in aller Öffentlichkeit breittraten, würden die beiden keinen Job mehr bei irgendeiner Bank in England bekommen. Er folgte dem einen der beiden nach der Sperrstunde zu seinem Haus, notierte den zugehörigen Namen und zwei Tage später wusste er, bei welcher Filiale in Worthing die beiden arbeiteten.
Paul hatte all seine finanziellen Reserven aufgebraucht und sich zwei Reihen der alten Schließfächer sowie vier der Spezialwerkzeuge bauen lassen.
Man musste, so hatte er es verstanden, einen flachen, vorne zu einer Art Haken gebogenen Stahlstab unterhalb eines Faches in den Schlitz einführen, um dann mit einer ruckartigen Bewegung nach rechts und zu sich hin eine Arretierung zu lösen. Wochenlang hatten er und seine drei Kumpel gefummelt, geübt, verbessert und weiter geübt, bis sie schließlich alle das Öffnen im Schlaf beherrschten. Die Probefächer waren mittlerweile fachgerecht entsorgt worden, und auch die Haken würden morgen auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Natürlich konnte Paul sich nicht sicher sein, dass sich der ganze Aufwand lohnen würde, aber Worthing war ein altes, nicht unvermögendes Städtchen. Viele wohlhabende Damen in fortgeschrittenem Alter waren hier nach mehrfachen Kuraufenthalten hängengeblieben, und deren Schmuck und Wertgegenstände mussten ja nun einmal sicher aufbewahrt werden. Also standen die Chancen nicht schlecht. Dazu kam, dass Paul im Laufe seiner Karriere diverse Hehler, Antikhändler und Schmuckspezialisten kennengelernt hatte, sodass er davon ausging, nicht allzu lange auf der erhofften Beute sitzen zu bleiben. Denn das war, wie er aus leidiger Erfahrung wusste, die gefährlichste Zeit.
Müde rieb er sich mit den Händen übers Gesicht und strich seine langen braunen Locken nach hinten. »Leute. Ich pack’s dann mal, und ihr haut euch jetzt auch aufs Ohr. Kein Bier mehr, verstanden? Ich will nichts riskieren, nur weil einer von euch morgen verkatert ist.«