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1. Kapitel

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Dortmund, Juli, 2019

Ein Stück lauwarmer Apfelkuchen mit einem dicken Schlag Sahne und dem unvergleichlichen Duft nach Zimt, warmen Äpfeln und süßen Rosinen. Das war für sie ihre Großmutter. Dazu kamen 1.000 Erinnerungen an endlose verregnete Spielenachmittage, Reitausflüge auf viel zu breiten Pferderücken, Spaziergänge mit spannenden Erzählungen aus einer Zeit, als es in Deutschland noch Krieg gab, köstliche Rinderrouladen mit Kartoffeln, Erbsen und Möhren, sowie der besten Bratensoße, die jemals gekocht worden war.

Ein breites Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Viel zu lange hatte sie ihre Großmutter nicht mehr besucht, das letzte Mal zu Weihnachten vor über sieben Monaten, und heute wurde sie 90 Jahre alt.

»Sabine! Hast du meine guten Schuhe gesehen?«, schallte es aus Rasters Zimmer.

»Wie wäre es, wenn du mal im Schuhschrank nachschaust?«

»Wir haben einen Schuhschrank?«

Sabine musste lachen. »Ja, du Schlaumeier«, rief sie. »Das ist das vermackelte Ding im Flur, wo du immer deinen Schlüssel draufknallst.«

Wenige Minuten später kam ein unglücklich dreinschauender schlaksiger Mann in Sabines Zimmer. Raster hieß eigentlich Hans Schulz, wurde aber wegen seiner Rastalocken, die er sich als Jugendlicher in der Karibik hatte machen lassen, nur Raster genannt. »Muss ich denn wirklich mit? Ich kenne da doch keinen«, maulte er wie ein kleiner Junge.

»Bist du 40 oder gerade erst 14 geworden?«, fragte Sabine prompt. »Oma freut sich so sehr darauf, endlich meinen Freund kennenzulernen, und außerdem kennst du sehr wohl meine Schwester Hanna und ihre Tochter Klarissa. Was hast du dir da eigentlich angezogen?« Sabine wies mit einer fragenden Geste auf die Erscheinung, die vor ihr stand.

Raster hatte sich in einen viel zu kleinen Anzug gezwängt, der ihm wahrscheinlich zur Konfirmation gepasst hatte. Darunter trug er ein schief geknöpftes, zerknittertes weißes Hemd und eine Krawatte, deren Knoten höchstens einem Seemann alle Ehre gemacht hätte.

»Du brauchst dich für meine Oma nicht so, äh, schick zu machen«, prustete sie. »Mist! Jetzt muss ich meine Wimperntusche neu auftragen«, lachte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Nein. Mal im Ernst. Es reicht, wenn du saubere Jeans und ein vernünftiges T-Shirt anziehst. Meine Großmutter steht nicht so auf Konventionen.«

In diesem Augenblick wurde die Wohnungstür geöffnet, und herein kam der dritte Bewohner der Wohngemeinschaft im Dortmunder Kreuzviertel.

»Ach, ihr seid noch da?«, wunderte sich Philo, der in Wirklichkeit Friedrich Sachse hieß, wegen seiner Tätigkeit als Philosophiegeschichtsdozent von den meisten aber nur Philo genannt wurde. »Wie siehst du denn aus?«, fragte er seinen Freund. »Willst du etwa so auf den Geburtstag von Sabines Großmutter gehen?«

»Ist ja schon gut«, maulte Raster. Er hatte als IT-Spezialist und EDV-Nerd in all den Jahren einfach kein Gefühl für Äußerlichkeiten aufbauen können.

Sabine verabschiedete sich ins Badezimmer, um die verwischte Wimperntusche zu erneuern, während sich die beiden Männer in Rasters Zimmer um dessen Garderobe kümmerten.

Mitten in der typischen Aufwärtsbewegung mit der kleinen Bürste hielt Sabine inne und betrachtete ihr Spiegelbild. Was sie sah, gefiel ihr, zumindest äußerlich. Die kleinen Fältchen um Augen und Mund waren für eine 43-Jährige altersentsprechend und eher durch häufiges Lachen denn durch Sorgen entstanden. Und doch war ihr bewusst, dass sie die letzten Jahre gezeichnet hatten. Nicht nur, dass ihre dunkelblonden Haare zunehmend an den Ansätzen grau wurden, was sie noch mit stoischer Gelassenheit zu ignorieren versuchte. Nein, es waren die inneren Risse, die Narben hinterlassen hatten: Eine unglückliche Beziehung einige Jahre zuvor, die sie zutiefst verletzt hatte. Dann die späte Erkenntnis, dass ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit einer überhöhten Verehrung ihres verstorbenen Vaters entsprang, den sie in ihrem Leben zu ersetzen versuchte. Diese Einsicht hatte tiefe Spuren hinterlassen. Denn nach und nach hatte sie begriffen, dass nicht nur ihre Beziehungsprobleme darauf zurückzuführen waren, sondern auch ihre Rastlosigkeit und Unbeständigkeit in ihrem Beruf. Nicht, dass sie als Ärztin unzuverlässig oder gar fahrlässig gewesen wäre. Im Gegenteil: Sabine arbeitete immer höchst professionell und akribisch. Doch die Tatsache, dass sie sich seit ihrer Facharztausbildung zur Internistin und Notfallmedizinerin nicht auf eine Festanstellung in einem Krankenhaus oder den Erwerb einer eigenen Praxis eingelassen hatte, sprach für sie mittlerweile Bände. Freie Jobs auf Rettungswagen der verschiedenen Anbieter in Dortmund, unregelmäßige Arbeitszeiten, immer die Möglichkeit, auch einmal nein sagen zu können, das war über Jahre hinweg ihr Credo gewesen. An sich nicht schlimm, aber mittlerweile war ihr bewusst, dass die Ursache dafür in einer inneren Unzufriedenheit und Fluchttendenzen zu suchen war, und das machte sie traurig.

Der erste feste Job als überqualifizierte ärztliche Krankenpflegerin im letzten Jahr war in einer Katastrophe geendet und hatte sie fast das Leben gekostet.

Sabine seufzte einmal tief, während sie das Bürstchen erneut über ihre Wimpern streichen ließ. Sie sollte sich nicht in Selbstmitleid verlieren. Immerhin war sie seit letztem Jahr mit Raster zusammen, den sie Jahrzehnte kannte und mochte, der für sie aber bis zu den einschneidenden Erlebnissen nur ein guter Freund gewesen war. Sie war glücklich, konstatierte sie für sich selbst. Und auch beruflich bahnte sich eine neue Herausforderung an: Ein niedergelassener Internist aus der Innenstadt hatte sie zu einem Gespräch eingeladen. Er wolle seine Praxis aus Altersgründen verkaufen und hatte von Doktor Sabine Funda als fachlich kompetente Kollegin gehört. Man würde sich in der nächsten Woche einmal zusammensetzen.

Sie beendete ihre gedankenreiche Aufhübschung und trat zeitgleich mit Raster und Philo in den Flur.

»Wollte Susanne nicht auch heute zurückkommen?«, fragte Sabine Philo, der seinem Freund imaginäre Schuppen von der Schulter klopfte.

»Ja, eigentlich schon. Aber die Ärzte in der Reha haben gemeint, dass sie dieses Wochenende noch zur Erholung in Bad Sassendorf bleiben sollte. Am Montag hole ich sie ab.«

Susanne, Philos deutlich jüngere Freundin, war bei den Ereignissen des letzten Jahres schwer verletzt worden und absolvierte gerade ihre zweite Reha-Maßnahme. Ein geistig verwirrter Mehrfachmörder hatte ihr, als er sich in die Enge getrieben fühlte, in den Rücken geschossen. Auch für sie wird sich vieles ändern, dachte Sabine traurig. Als Polizistin schon mit 25 Jahren berufsunfähig zu werden, war ein harter Schlag. Wie es mit ihr weitergehen sollte, stand noch in den Sternen, aber Philo kümmerte sich so rührend um sie, dass Sabine sich keine allzu großen Sorgen machte.

»Können wir?«, fragte sie ihren Freund, der sich offensichtlich in seinem neuen Outfit bestehend aus Jeans, T-Shirt und einfachem Sakko deutlich wohler fühlte.

Eine halbe Stunde später quälten sich Sabine und Raster durch den erwarteten Freitagnachmittagstau am Autobahnkreuz Dortmund-Nordwest.

»Wir hätten vielleicht doch durch die Stadt fahren sollen«, meinte Sabine mehr zu sich selbst als zu Raster.

»Macht doch nichts. So haben wir Zeit für uns.« Er stemmte die Füße auf die vordere Ablage und erntete dafür einen ärgerlichen Blick seiner Freundin, den er geflissentlich ignorierte. »Erzähl mir ein bisschen mehr von deiner Großmutter. Wie ist sie so, was hatte sie für ein Leben, wo wohnt sie überhaupt genau? Wir hatten noch gar keine Gelegenheit dazu«, bat er.

»Ach, ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll«, meinte Sabine zögerlich. »Für mich war sie halt unglaublich wichtig, nachdem meine Eltern damals bei dem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind. Ich war oft bei ihr, wir haben uns unterhalten, vor allem natürlich über meine Eltern, aber auch Kindheitserinnerungen aufgefrischt. Die Ferien bei meiner Großmutter waren immer das Größte. Sie hat einen großen Gutshof in der Nähe von Holthausen, nördlich von Dortmund-Eving. Ein kleines Dorf mit zwei Kneipen, ein paar Handwerkern und sogar einer Tankstelle. Knapp drei Kilometer außerhalb liegt der Gutshof. Früher, ich glaube seit 1820 oder so, wurde dort intensiv Landwirtschaft betrieben. Durch die beiden Weltkriege ging dann alles den Bach runter, bis mein Urgroßvater den Hof wieder aufgebaut hat. Mittlerweile sind die Stallungen an einen Pferdebesitzer verpachtet, der wiederum zwei Ferienwohnungen vermietet. Der Reitbetrieb geht nach wie vor ganz gut, soweit ich weiß. Früher bin ich auch oft geritten.«

»Gut, das waren alles richtig wichtige Infos«, grinste Raster, »was ich aber eigentlich wissen wollte, war, wie sie so ist. Was ist sie für ein Typ?«

Sabine schwieg eine ganze Weile, während sie sich auf den mittlerweile etwas flüssigeren Verkehr konzentrierte. »Oma ist der beste, klügste und warmherzigste Mensch, den ich kenne«, brach es schließlich aus ihr heraus.

Raster wartete einen Moment, bis er sie fragend anschaute. »Aber?«

»Hast du das Aber tatsächlich gehört? Du bist doch sonst nicht so sensibel. Nein, im Ernst. Da ist nichts. Sowohl als Kind als auch später während des Studiums waren die Zeiten bei Oma immer die Highlights. Das Tolle war, dass ich schon früh mit fünf Jahren ein Nachbarmädchen kennengelernt habe, mit dem ich die wildesten Abenteuer erlebt habe.«

»Was denn für Abenteuer?«, fragte Raster neugierig.

»Na ja. Kleine Katzenbabys versorgen, Ponyreiten, auf Bäume klettern, Äpfel von den Bäumen stibitzen und solche Sachen halt.«

»Ach, diese Abenteuer. Ich verstehe«, meinte Raster und verdrehte die Augen.

Und natürlich gab es ein Aber, dachte Sabine. Doch wie sollte sie ihm davon erzählen, wenn sie es sich selbst nicht erklären konnte.

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