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Peinliche Panne

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Ein Junge träumte aus dem geöffneten Klassenfenster. Draußen läutete ein Weidensänger sein Zilpzalp. Entfernt antwortete ein anderer. Der Duft von gemähtem Rasen strich an die Nase des Jungen, der Philipp hieß. Der blühende Kirschbaum neben dem Schulhof blendete seine Augen.

Drinnen wälzte sich in Geschichte der „Dreißigjährige Krieg“ lähmend durch den Klassenraum. ›Was sollen die Kriege, wenn es nach Tausenden von Toten doch irgendwann einen brutalen Friedensschluss gibt, wo ehemalige Streithammel als Friedefürsten gefeiert werden und das Elend zerstörter Familien vergessen ist‹? Nur Zahlen merkte Philipp sich, für die Arbeit, versteht sich. Aber sonst schaltete er gern gelegentlich ab und ging mit seinen Gedanken spazieren.

„Wann endete der dreißigjährige Krieg?“, riss ihn plötzlich Frau Moltke aus seinen Gedanken. Drei Finger stießen in die Höhe, zwei Mädchen am hintersten Zweiertisch tuschelten sich Neuigkeiten zu, und Philipp drehte sich schnell nach vorn. „Sascha?“ Sie deutete auf eine gehobene Jungenhand. „Dreißig Jahre!“ – „Dann hast Du nicht richtig zugehört“, tadelte ihn die Lehrerin. „Ich fragte nicht nach der Dauer, sondern nach dem Ende des Krieges. - Philipp?“ , wandte sie sich an den Jungen mit dem rosigen plötzlich hellwachen Gesicht. Der hatte schnell im Kopf die Ziffern der Jahreszahl 1648 addiert und meinte grinsend: „Obwohl ich mich nicht gemeldet habe, lautet die Quersumme neunzehn.“ Gelächter in der Klasse. Plötzlich war die Aufmerksamkeit wieder da. Schnell rechnete Anne die Zahl nach. Sie stimmte. Philipp schaute seine Lehrerin schelmisch an. Die verzog den Mund und blickte mit gerunzelter Stirn gegen die Decke, als wäre diese an der verschlüsselten Antwort schuld. Im Stillen aber schmunzelte sie und ließ sich auf die Herausforderung ein. „Na gut, Philipp, machen wir zum Spaß mal fächerübergreifenden Unterricht und beziehen Kopfrechnen mit ein. - Anne, dann sag Du mir doch bitte, welche Quersumme die Jahreszahl vom Beginn des Dreißigjährigen Krieges hatte. - Nun?“ Ganz schnell hatte auch Anne die Jahreszahl 1618 vor Augen und vermutete: „Sechzehn?“ - „Gut, Anne, und wenn die Quersummen der Jahreszahlen sechzehn und neunzehn lauten, wie lange dauerte dann der Dreißigjährige Krieg?“ Auf diese Fangfrage war sie nicht gefasst, subtrahierte die Quersummen und schoss heraus: „Drei Jahre!“ Die Schüler bogen sich vor Lachen und Philipp, dieser schlagfertige Dauer-Grinser, setzte noch eins drauf, indem er theatralisch säuselte: „Die hübsche Anne schmeißt in Mathe eine Panne.“ Anne zischte „Idiot“ in Richtung Philipp und starrte dann, sich die Ohren zuhaltend, wütend auf ihr Geschichtsbuch.

„Das reicht jetzt, Philipp. Halte Dein loses Mundwerk und versuche nicht, deinen Spaß an den Fehlern anderer zu haben!“, tadelte ihn Frau Moltke, und zur Klasse gewandt: „Auch euer schadenfrohes Lachen war unfair, als ob ihr nie dumme Antworten geben würdet.“

Der Gong zur großen Pause erklang. Die Schüler drängten aus der Klasse. „Na toll“, ärgerte sich Anne, „jetzt hat sie auch noch der ganzen Klasse gesteckt, dass ich dumme Antworten gebe.“ Annes Mathematikleistungen waren tatsächlich nur mäßig. Sie benötigte mehr Zeit als ihre Mitschüler, um die Aufgaben zu verstehen und dann auch zügig zu Ende zu rechnen. Oft träumte sie vor sich hin und ließ sich durch Kleinigkeiten ablenken. Gerade in ihrem Lieblingsfach Geschichte musste ihr das passieren. ›Hübsche Anne, in Mathe eine Panne‹, klang ihr noch Philipps Spottgesang in den Ohren, als sie beleidigt als Letzte das Klassenzimmer verließ.

Anne – schmales Gesicht, fein geschwungene Nase und etwas blass, von schulterlangem braunem Haar umrahmt, Ponyschnitt über ihren Augenbrauen, leichter Schatten unter den Augen, nachdenklich. Schlank wie die meisten ihrer Mitschülerinnen und schnellste Läuferin der Klasse – da hätte sie eingebildet sein können. War sie aber nicht, sondern selbstkritisch und seit einem besonderen Ereignis unsicher. Es passierte vor einem Jahr am Ende der fünften Klasse, einige Wochen nach den Osterferien. Anne Mitscherlich war wegen ihres Umzuges aus Berlin nach Iserlohn neu in der Klasse. Ihr Vater war Studienrat und wegen Unstimmigkeiten mit seinem ehemaligen Direktor nach Iserlohn versetzt worden, wo er im Gymnasium wieder Biologie und Religion unterrichtete. Nachdem er eine Wohnung gefunden hatte, kamen sie und ihr kleiner Bruder Pitt mit ihrer Mutter nachgezogen. Anne besuchte als Neue die hiesige Realschule und hatte gerade Biologie. Eine ganze Unterrichtseinheit umfasste das Thema „Steinzeit“ bei Herrn Moosbach. Sie lernten, woher der Mensch und schließlich alles Leben auf der Erde kämen.

Anne erinnerte sich, dass an den Wänden Poster von Affen und affenähnlichen Menschen hingen, welche wie die Orgelpfeifen in einer Kirche aneinandergereiht waren. Sie sollten den Schülern streng wissenschaftlich eintrichtern, dass sie von tierischen Vorfahren abstammten. Als Frau Müller damals auch noch in Religion die Frage aufgriff und provozierend die Klasse fragte: „Was meint ihr, wovon wir Menschen abstammen?“, meldete Anne sich und sagte, wie sie es aus der Bibel wusste: „Von Adam und Eva.“ Zustimmendes Nicken von Sabrina und Wolf, höhnisches Grinsen bei den meisten anderen Schülern. Schließlich antwortete Frau Müller: „Danke, Anne für deinen Mut zu dieser Antwort. Du hast insofern recht, als es uns so in der Bibel überliefert ist. Aber die Erklärung, wir würden von Adam und Eva abstammen, ist nun über fünftausend Jahre alt. Heute ist die Naturwissenschaft weiter“, belehrte sie. „Es ist erwiesen, dass der Mensch nicht von Adam und Eva, sondern von affenähnlichen Vorfahren abstammt. Die Affen sind so etwas wie unsere entfernten Cousins und Kusinen.“

Noch heute hatte sie das hämische „Siehste, Anne...!“ von Gunnar im Ohr, der hinter ihrem Tisch saß: „…Wir stammen doch von Affen ab.“ Nur Sascha hatte sich einen Witz nicht verkneifen können, indem er halblaut zum Besten gab: „Der Mensch stumpft eher vom Gaffen ab!“, womit er wohl das viele Fernsehen meinte. Sie erinnerte sich noch an das peinliche Pausenverhör von Susi, Marc und Philipp: „He, Anne, du glaubst doch nicht in echt, dass wir von Adam und Eva abstammen? Ich meine, als wir neulich im Osnabrücker Zoo waren, konnte man klar sehen, dass wir den Affen ähnlich sind, oder?“, hatte Philipp herausfordernd gefragt und allgemeine Zustimmung geerntet. Anne hatte sich verteidigt und zurückgeätzt: „Sag mal, du Neunmalkluger, waren dein Vater oder dein Großvater eigentlich Affen? Oder Martin Luther oder Cäsar?“ – Da hatte sich Susi eingemischt und gemeint: „Ich glaub, du lebst ein bisschen hinter dem Mond. Hier geht es nicht um ein paar hundert Jährchen, sondern um viele Millionen von Jahren, in denen wir uns vom Affen zum Menschen entwickelt haben. Das steht doch in jedem Sachbuch.“ „Du mit deinen vielen Millionen von Jahren. Das klingt für mich wie Grimms Märchen: ›Es war einmal vor langer, langer Zeit…‹“. „Ach, lasst sie doch“, hatte Marc sich eingemischt. „Sie glaubt eben noch an den lieben Gott, an den Weihnachtsmann und an den Osterhasen“, und dann war Philipp ziemlich gemein geworden und hatte erstmalig so einen seiner dummen Sprüche losgelassen: „Als Gott erschuf die Anne, erlebte er ´ne Panne.“ Abrupt hatte Anne danach der Gruppe den Rücken zugedreht und war in der Mädchentoilette verschwunden, damit die anderen nicht sehen konnten, wie verletzt sie war. Von diesem Zeitpunkt an musste sie häufiger hören: „Ach, da kommt Panne“ oder „Weißt du, was Panne neulich gesagt hat?“ Und so hatte sie damals ihren Spitznamen abbekommen. Irgendwann hörte sie nicht mehr hin und versuchte cool zu bleiben. Die Klasse hatte sich daran gewöhnt, dass man mit ›Panne‹ möglichst nicht über Glauben oder Evolution reden sollte und sie damit am besten in Ruhe ließ. Bis wieder Phil, dieser Blödmann, ihren Spitznamen, diesmal mit ihren Mathematikleistungen, in Verbindung brachte und der Klasse erneut präsentierte. Anne hatte sich schon lange nicht mehr provozieren lassen, zumal sie zunehmend durch Sportlichkeit, Fairness und ihr taffes Äußeres respektiert wurde. Man ließ sie in Ruhe. Aber sie war trotzdem wegen ihrer Einstellung zur Außenseiterin geworden, was ihr auch ganz gelegen kam. Nur, dass sie in der Klasse keine Freundin hatte, wurmte sie. Und durch Philipps erneutes Lästern war sie wieder unsicher geworden, ob sie jemals eine finden würde. Auf ganz unerwartete Weise kam es aber doch zu einer Freundschaft, mit der sie überhaupt nicht gerechnet hatte.

Mondgesicht und Panne im Archenland

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