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Ein böser Unfall mit guten Folgen

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Das „Man sieht sich“ kam nach ein paar Tagen am späten Nachmittag. Anne hatte ihre Mutter gebeten, sie zum Sportplatz der Schule zu begleiten, um beim 75m -Lauf ihre Zeit zu stoppen. Anne war im Sprint sehr gut und hatte den Ehrgeiz, bei den nächsten Bundesjugendspielen Beste zu werden.

Frau Mitscherlich hatte als Krankenschwester eine halbe Stelle beim hiesigen Krankenhaus und jetzt zwei Tage frei, so dass sie dem Wunsch ihrer Tochter gern nachkam und sie mit ihrem Minivan hinfuhr. Nach dem Warmlaufen holte Anne die Startmaschine aus dem Wagen, schlug sie hinter der Startlinie ein, pellte sich aus ihrem Trainingsanzug und ging in die Hocke. Ihre Mutter stand am Ziel, breitete beide Arme aus, den rechten Daumen auf dem Auslöser der Stoppuhr und rief: „Auf die Plätze ---fertig--- los!“ Anne drückte sich vom Start ab und sprintete erst mit schnellen kleinen und dann mit immer größeren Schritten wie eine Gazelle los. Ihre Spikes trommelten über die Aschenbahn. Vor dem Ziel lief sie locker aus.

Als sie zurückkam und keuchend nachfragte: „Wie viel?“, las ihre Mutter ab: „Zehn vier!“ „Mist“, rief Anne enttäuscht. „Ich war doch schon unter Zehn!“ „Kein Wunder“, lachte Frau Mitscherlich, „du hast dich ja schon bei fünfzig Metern treiben lassen. Aber dein Start und die ersten Schritte waren super. Noch mal!“ – „Okay!“ Sie joggte auf die Startlinie zu und schüttelte vor dem Tiefstart noch einmal ihre Beine aus.

Gerade als sie sich hinknien wollte, entdeckte sie einen Radfahrer, der in waghalsigem Tempo aus dem angrenzenden Wald gekeucht kam. „Mondgesicht!“, fuhr es Anne durch den Kopf. Sie streckte sich schnell und winkte ihm zu. Jetzt hatte Philipp Panne auch erkannt und winkte aufgeregt zurück. „Nette Überraschung“, freute er sich, beeindruckt von ihrer sportlichen Erscheinung.

Während seine linke Hand heftig winkend in der Luft wedelte und die rechte den Lenker hielt, machte das Vorderrad den Schlenker mit. Als Phil versuchte, durch Nachfassen und schnelle Gegenbewegung auszugleichen, krachte sein Vorderrad diesmal gegen die Bordsteinkante. Er spürte nur noch, wie in Zeitlupe, dass sich sein Körper vom Fahrrad löste und in hohem Bogen über den Lenker flog. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen. Als er benommen aus seiner kurzen Ohnmacht aufwachte, fühlte er einen stechenden Schmerz am rechten Knie und hatte dröhnende Kopfschmerzen. Er lag am Rand des Bürgersteigs auf dem Grasstreifen zwischen Straße und Sportplatz. Sein Mountainbike mit sich noch drehendem Vorderrad lag fünf Meter weiter.

Zwei besorgte Gesichter beugten sich über ihn. „Mama, er ist wieder da!“, seufzte Anne erleichtert. „Phil, wie geht’s dir?“, fragte sie besorgt. „Könnte nicht besser gehen“, stöhnte Philip mit schmerzverzerrtem Gesicht. “O, mein Kopf!“ „Wo tut es noch weh?“, fragte Frau Mitscherlich und sah dann auch schon das aufgeschlagene und blutende Knie. Aber Philipp schien nur eine äußerliche Schürfwunde erlitten zu haben, die vom Schotterbett herrührte, denn er konnte es noch beugen und strecken. „Ich glaube, Anne, wir fahren

deinen Freund erst mal zu uns, damit ich ihn notdürftig verarzten kann. Das Rad passt in den Kofferraum. Ich mache eben die rechten Sitze flach, damit wir ihn liegend transportieren können.“ Und so hievten Mutter und Tochter Mondgesicht in ihren Wagen, fuhren ihn zu sich nach Hause und betteten ihn in ihrem Wohnzimmer vorsichtig auf das Sofa. Frau Mitscherlich desinfizierte seine blutende Schürfwunde und verband sie fachlich. Anne umwickelte schnell ein Kühlkissen mit einem Geschirrtuch und legte es Philipp auf die Stirn. „Danke, geht schon etwas besser“, kam es gequält aus ihm heraus. Nachdem Annes Mutter Frau Noffke informiert hatte, wurde Philipp wieder vorsichtig in den Wagen verfrachtet und zu seiner besorgten Mutter nach Hause gefahren. Die rief sofort ihren Hausarzt an. Nach zwei Stunden erschien er, stellte eine Gehirnerschütterung fest und schrieb ihn für zunächst sieben Tage krank. In den ersten zwei Tagen konnte von Schularbeiten nicht die Rede sein. Aber danach hatten die Kopfschmerzen nachgelassen. Zwar schmerzte das Knie noch stark, weil irgendein Nerv unter der Haut beleidigt war, aber Philipp konnte endlich sein begonnenes Buch zu Ende lesen.

Am vierten Tag klingelte es an der Haustür. Er hörte seine Mutter sagen: „Tag Anne! Danke, es geht ihm schon besser. Du kannst ihm ruhig die Hausaufgaben reinbringen.“ Philipp sagte bei ihrem Eintreten mit gespieltem Entsetzen: „O Schreck, jetzt kommt die Arbeits-Panne!“ „Hi Mondgesicht. Es scheint dir ja wieder gut zu gehen, wenn du mich so anmachst.“ „War nicht so gemeint, Panne. Wie war’s so in der Schule?“ „Wie immer. Keine Arbeit geschrieben, keine zurück gekriegt. Sascha und Frau Moltke vermissen dich und deine flotten Sprüche und wünschen dir, dass du dich besserst!“, grinste sie. „Hey, Mondgesicht, was liest du denn da gerade?“ „Erst mal ein Vorschlag zur Güte: Könnten wir uns vielleicht mit unseren bürgerlichen Vornamen anreden, wenn wir unter uns sind? Also, unter besseren Feinden heiße ich Phil.“, sagte Philipp. „Freut mich, deine Bekanntschaft gemacht zu haben“, erwiderte sie gespielt förmlich, „und mich darfst du als entfernte Bekannte Anne nennen.“ Beide lachten verlegen und Anne wiederholte ihre Frage: „Aber jetzt mal im Ernst. Liest du gerade das rote Buch da?“ „Hab ich eben durch: ›Der König von Narnia‹! Ich hab‘ die drei Filme gesehen und mir jetzt das Buch zur ersten Folge vorgenommen. Kennst du es?“ „Na klar, ich habe schon alle sieben Narnia-Bücher durch. Das erste hat mein Pa uns vorgelesen, als mein kleiner Bruder Pitt sieben Jahre alt war. Danach habe ich die anderen selbst durch geschmökert. Und wie findest du es?“ „Spannend, sogar besser als den Film. Die Flucht vor der Hexe und ihren Wölfen über abbrechende Eisschollen hab ich im Buch nicht entdeckt. Dafür fand ich das Selbstgespräch von dem Verräter Edmund interessant:

Der gute Edmund diskutiert im Selbstgespräch mit dem bösen Edmund. Aber hast du verstanden, wieso Aslan erst von der Hexe ermordet wurde und danach plötzlich wieder quicklebendig vom zerborstenen Steintisch springen konnte? Irgendwie hat mich das an was erinnert, ich komm bloß nicht drauf.“ „Ich erst auch nicht. Aber der Autor hat das in Briefen an seine jungen Leser selbst beantwortet, indem er ihnen Gegenfragen gestellt hat. Mal sehen, ob du auch darauf kommst. Also, er hat es ungefähr so ausgedrückt: ›Kennst du jemanden, der zur gleichen Zeit wie der Weihnachtsmann auf diese Welt kam und der behauptet hat, er sei der Sohn des großen Herrschers? Er hat sich für den Fehler eines anderen von brutalen Leuten erniedrigen und töten lassen und ist ins Leben zurückgekehrt. Manchmal wurde er auch als Lamm oder als Löwe von Juda bezeichnet. Kennst Du nicht seinen Namen in dieser Welt?‹“ „Meint der etwa das Christkind? Aber das sind doch alles nur Märchen, wie sein Buch auch!“ „Jesus ist doch kein Kleinkind geblieben, wenn du mal ein bisschen nachdenkst“, belehrte ihn Anne empört. ›Also, bei dir könnte man manchmal daran zweifeln‹, ergänzte sie in Gedanken, sprach es aber nicht aus. „Also soll Aslan sozusagen in Narnia darstellen, was Jesus in unserer Welt war?“ „Du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst, Mondgesicht“, bestätigte Anne gönnerhaft. Aber da hatte sie Philipp auf dem falschen Fuß erwischt. Beleidigt brach er das Gespräch mit den Worten ab: “Ach, zieh Leine, Panne, ich hab jetzt keinen Bock mehr auf deine oberschlauen Antworten. Außerdem dachte ich, wir wollten uns normal anreden. Kannst mir die Hausaufgaben morgen bringen. Heute mach ich sowieso nichts mehr. Und Tschüss!“

Damit drehte er sich demonstrativ zur Wand hin und ließ sie einfach dumm da stehen. „Tut mir leid! War nicht so gemeint, Phil!“, murmelte sie noch und verließ betroffen sein Zimmer. Auf dem Nachhauseweg machte sie sich Vorwürfe, war aber auch sauer auf Philipp, weil er so empfindlich reagiert hatte. Es stimmte weder, dass er dumm war, noch dass er dumm aussah, war halt nur so eine Redensart. Immerhin hatte er ihr noch erlaubt, dass sie ihm die Hausaufgaben bringen durfte. Wie gnädig von diesem Smiley! Am Abend war ihr Ärger über sich selbst und die beleidigte Leberwurst namens Mondgesicht verflogen und sie überlegte sich, wie sie ihn etwas aufmuntern konnte. Nachdem Philipp gehört hatte, wie die Haustür zugeschlagen war und sich ihre Schritte entfernten, kam ihm nach dem ersten ›Der-hab-ich’s aber-gegeben-Gedanken‹ seine Reaktion albern vor und er wünschte sich, dass sie morgen wiederkäme. Er schnappte sich das Narnia-Buch und vertiefte sich noch einmal in die letzten Kapitel.

›Das Böse bekam Macht über Edmund, weil er seine Geschwister an die Hexe verraten hatte. Und Aslan konnte Edmund nur vom Fluch der Hexe befreien, indem er sich selbst von ihr auf dem Steintisch des Gesetzes ermorden ließ. Aber dadurch, dass es einen Urzauber vor dem Anfang der Weltendämmerung gab, den die Hexe nicht kannte, wurde der Leichnam Aslans wieder zum Leben erweckt. Das ist tatsächlich so ähnlich wie bei der Kreuzigung und Auferstehung von Jesus‹, dachte Philipp. Aber „Der König von Narnia“ war eindeutig ein modernes Märchen. Wieso sollte denn die Bibel, die doch noch viel älter war, nicht auch einfach ein Märchenbuch sein, eben ein ganz altes? Er würde morgen Anne danach fragen.

Mondgesicht und Panne im Archenland

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