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Es war einmal… kein Märchen

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Nach der Schule und dem Mittagessen schnappte Anne sich das dritte Narnia-Buch, um es Philipp auszuleihen, und radelte mit den Hausaufgaben in ihrem Rucksack in den Südengraben zu seiner Wohnung. Nachdem Frau Noffke sie freundlich begrüßt hatte, meinte sie: „Anne, du kennst dich ja hier schon aus. Philipp ist im Wohnzimmer und sitzt an seinem Notebook mit so einem Computerspiel. Sag ihm bitte, dass er jetzt aufhören soll.“ Anne nickte, klopfte kurz an und öffnete nach seinem „Herein!“ „Hi Phil! Na wie geht’s?“ „Besser! Kannst dich schon mal setzen. Ich muss eben meinen ersten Level speichern.“ Dann schloss er den PC und drehte sich ganz zu Anne um.

Beide sahen einander etwas verlegen an und dann sagten sie fast gleichzeitig: „Du, wegen…“ „…also wegen…“. Dann meinte Anne: „Bist du noch sauer wegen meinem dummen Spruch gestern? Tut mir leid! War nicht so gemeint. Ich find dich ehrlich nicht dumm.“ „Macht nichts“, lenkte Philipp ein. „Ich war auch zu schnell eingeschnappt und hab dich fast rausgeschmissen. Sorry!“ „Ist schon okay. Dann sind wir also quitt?“, lächelte sie. „Klar“, meinte Philipp. „Hier sind deine Hausaufgaben. Nur Deutsch und Mathe. Hier ist der Aufgabenzettel.“ „Danke! Mach ich später, wenn du wieder weg bist.“ Philipp legte ihn auf den Wohnzimmertisch. „Und hier hab ich dir ein Narnia-Buch mitgebracht. Von dem gibt’s noch keinen Film. Kannst ja mal lesen.“ „O prima, danke! ›Das Pferd und sein Junge‹. Komischer Titel, müsste doch eigentlich ›Der Junge und sein Pferd heißen‹, oder?“ „Du wirst schon sehen, warum. Es geht jedenfalls um ein Abenteuer von einem Ritt nach Narnia. Ich find den Roman ziemlich spannend.“ Philipp legte das Buch zur Seite und kam auf seine gestrige Frage zurück: „Nochmal zum ersten Roman: Wenn der ›König von Narnia‹ ein Märchen ist, wieso ist die Bibel dann kein Märchenbuch?“ „Du stellst vielleicht Fragen! Kann ich dir auch nicht so genau erklären. Ich glaube jedenfalls, dass die Bibel wahr ist und keine Märchen erzählt. Aber das könnte mein Papa dir besser erklären. Du kannst mich ja auch mal besuchen, wenn du wieder gesund bist.“ „Echt? Würden deine Eltern das okay finden?“ „Na klar, warum denn nicht?“ „Wenn du meinst. Ich glaub, nächste Woche muss ich leider wieder gesund sein, und vorbei ist’s mit dem Urlaub“, seufzte er.

Eine Woche später saßen Philipp und Anne in der Wohnküche bei Mitscherlichs. Sie beendeten gerade erfolgreich komplizierte Dreisatzaufgaben, die sie gemeinsam erledigt hatten, als Annes Vater die Tür öffnete: „Hallo, Tag Philipp. Nett, dass du Anne bei den Mathe-Hausaufgaben hilfst. Anne hat mir schon von dir berichtet.“ „Tag, Herr Mitscherlich, hoffentlich nicht zu viel Schlechtes?“, grinste er etwas verlegen Annes Vater an. „Es geht so“, meinte der verschmitzt. „Papa, du bist doch Fachlehrer in Reli. Phil hat mich gefragt, wieso die Bibel nicht auch so eine Art Märchenbuch wie ein Narnia-Roman ist.“ „Gute Frage, Philipp, ist schon fast die halbe Antwort. In der Tat sind die Narnia-Bücher

moderne Märchen, die sich der Autor C. S. Lewis für Kinder ausgedacht hat. Seine Figuren sind frei erfunden und teilweise aus der griechischen Sagenwelt entnommen. Aber sie enthalten auch biblische Wahrheiten. Die Bibel wurde zwar von über vierzig Schreibern in einem Zeitraum von mehreren tausend Jahren aufgeschrieben und später zusammengestellt. Aber sie waren eben keine Schriftsteller, denn der Autor der Heiligen Schrift war Gott, der ihnen die Gedanken eingegeben hat. So glaube ich persönlich, dass die Bibel nicht nur Wahrheiten enthält, sondern dass sie die Wahrheit ist. Aber das ist Glaubens- oder Ansichtssache. Ich hoffe, das reicht fürs erste als Gedankenanstoß. Ich muss jetzt meine Vorbereitung für morgen machen.“ Damit überließ er die Kinder wieder sich selbst.

„Hast du eigentlich schon ›Das Pferd und sein Junge‹ angefangen?“, lenkte Anne Philipps Gedanken auf das Buch. „Hab ich schon durch. Kann ich dir morgen in der Schule wiedergeben.“ „Und, wie fandst du es?“ „Super! Ich glaub, ich wünsch mir nach und nach alle Narnia-Bücher. Da steckt immer mehr drin, als man vermutet. Zum Beispiel gibt es da das Land Narnia, in dem die guten Menschen und sprechenden Tiere leben, und das Land Kalormen, in dem die Feinde Narnias hausen. Und dazwischen liegt das Archenland. Das ist wieder so ein Name mit Widerhaken. Es liegt einem auf der Zunge aber man kommt nicht darauf. Was ist mit Archenland gemeint? Würde man das in unserer Welt vielleicht ›Greenpeace-Land‹ nennen? Also, wenn ich an Arche denke, dann fällt mir immer Tierschutz oder so was ein.“

Anne konnte sich ein Grinsen gerade noch verkneifen, denn sie wollte Phil nicht wieder verärgern. „Du hast Recht, dass die Arche etwas mit Tieren zu tun hatte, aber in erster Linie mit der Rettung von Menschen, von Noah und seiner Familie. Im Roman waren die Kinder Shasta und Aravis gerettet, nachdem sie das Archenland erreicht hatten. In der Bibel waren einige Menschen vor der Sintflut gerettet, nachdem sie samt den Tieren in die Arche gegangen waren.“ Ungläubig starrte Phil sie an und meinte dann: „Und du glaubst wirklich, dass die ganze Tierwelt einschließlich Noah und seiner Sippschaft in diesen Äppelkahn von Arche hineingepasst haben? Also für solche Märchen bin ich eigentlich zu alt!“ „Von wegen Äppelkahn!“, entrüstete sich Anne. „Nach biblischen Angaben war dieser schwimmende Überlebenskasten ungefähr hundertfünfzig Meter lang, fünfundzwanzig Meter breit und fünfzehn Meter hoch.“ „Wer’s glaubt, wird selig“, meinte Philipp abfällig. „Dann lässt du’s eben“, gab Anne patzig zurück.

Da sie ihre Hausaufgaben fertig hatten, gab es für Philipp keinen Grund mehr, länger zu bleiben, und so sagte er kurz angebunden: „Das war’s dann. Also bis demnächst.“ - „Tschüß, bis morgen.“ Anne hörte das Zuschlagen der Haustür: „O Mann, Jesus, warum kann dieser Kotzbrocken nicht einfach glauben, was in der Bibel steht?“ Auf eine Antwort nach diesem wenig himmlischen Gebetsseufzer wartete sie allerdings nicht, sondern verdrückte sich in ihr Zimmer und räumte mechanisch auf, um nicht mehr an den ungläubigen Philipp denken zu müssen.

Philipp indes brütete finster vor sich hin und trat nach Steinen, die ihm vor die Füße kamen. ›Anne glaubt tatsächlich an das Sintflut-Märchen. Die hat doch einen Riss! Ich komme mir vor wie im falschen Film. „Die Schöne und das Biest“ zum Beispiel. Mit dem Unterschied, dass ich in ihren Augen zwar das Biest bin, bei mir aber nicht das Wunder passieren wird, dass ich solchen hirnrissigen Quatsch glaube. Hundertfünfzig Meter! Und dann noch fünfundzwanzig Meter breit‹. Und nun fing er an, nachzurechnen: ›Fünfundzwanzig mal hundertfünfzig, das machen dreitausendsieben-hundertfünfzig Quadratmeter Grundfläche. Ein Reihenhaus hat ungefähr fünfmal zehn, also fünfzig Quadratmeter. Wenn ich mit Rechenvorteil drei-hundertfünfundsiebzig durch fünf dividiere, erhalte ich fünfundsiebzig Reihenhaus-Grundflächen. Wenn ein dreistöckiges Reihenhaus ohne Keller und Spitzdach ungefähr sieben Meter fünfzig hoch ist, dann würden hundertfünfzig Reihenhäuser in dieser Arche Platz haben, vorausgesetzt, sie hätte keine Zwischenböden‹.

Inzwischen war er zu Hause angekommen und rief anstelle einer Begrüßung: „Mama, haben wir irgendwo eine Bibel?“ „Hallo Philipp! - Na, dann seid ihr ja mit den Mathematikaufgaben fertig geworden. Musst du noch etwas in Religion machen?“ „Nö, ich will nur mal was nachgucken.“ „Oben in Papas Bücherregal steht noch unsere alte Familienbibel. Aber vorsichtig damit umgehen, sie ist ein altes Erbstück in Goldschnitt und mit unserer Familiengeschichte.“

Während der letzten Ermahnungen war Philipp schon nach oben gespurtet und hatte nach kurzem Suchen das Prachtstück gefunden und den Staub ab gepustet. „Ob die wohl auch zum Lesen gedacht ist?“, frage er sich, denn der Goldschnitt sah noch ziemlich unversehrt aus. Er vertiefte sich in die ersten Kapitel und sagte halblaut: „So haben die Leute also vor ungefähr hundert Jahren deutsch gesprochen. Komische Sprache.“ Aber als er schließlich an das sechste Kapitel des ersten Buches Mose kam, ging es um Zahlen, und da las er schwarz auf weiß: ›Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen die Breite und dreißig Ellen die Höhe‹. „Aber wie lang war eine Elle damals?“, dachte er laut und blätterte im Lexikon. Vor viertausend Jahren maß eine Elle etwas über fünfzig Zentimeter. Er rechnete schnell um und pfiff durch die Zähne: Anne hatte also recht mit den hundertfünfzig Metern. Dann fiel ihm ein, dass er noch einen Prospekt von der ›Cap San Diego‹ besaß. In einer seiner Wusel-Kisten fand er ihn nach einigem Suchen und verglich die darin angegebenen Längen- und Breitenmaße des Hamburger Museumsschiffes mit den Angaben der Arche: Ungefähr hundertsechzig mal zweiundzwanzig Meter, das kam fast genau hin. Philipp erinnerte sich noch, wie er vom mehr als sporthallengroßen Maschinenraum im Bauch des Stückgutfrachters beeindruckt war, als seine Mutter mit ihm vor zwei Jahren eine Fahrt in den Hamburger Hafen unternommen hatte. Wenn es kein Märchen ist, dann gab es im Altertum ein Schiff von einer Größe, wie es erst wieder im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gebaut wurde. Nur, dass die ›Cap San Diego‹ eher wie eine übergroße Hochseeyacht und die Arche wie ein schwimmfähiger Riesensarg gebaut war. Angenommen,

es war nicht gesponnen, dann war diese Arche eigentlich das erste und größte Weltwunder, noch vor den sieben anderen. Nur, dass in dieser Story die Lebenden im Sarg und die Toten draußen waren, gruselte ihm. ›Ach was‹, wischte er diesen Gedanken beiseite, ›das kann es nicht gegeben haben. Aber immerhin hat Anne darin recht, dass die biblische Arche hundertmal größer war, als sie in sämtlichen modernen Mal- und Tierbüchern für die lieben Kleinen geschildert wird‹.

„Mama, ich dreh jetzt ´ne Runde mit meinem Bike, okay?“, unterbrach er seine Gedankengänge. Ein bisschen frische Luft um die Ohren und Abstrampeln nach den zwei Wochen Pause würden ihm gut tun.

Mondgesicht und Panne im Archenland

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