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Kapitel 1

Hamburg

Der Einsatzleiter streckte drei Finger hoch, dann gab er dem Mann am Rammbock das Zeichen zum Angriff. Sperrholz splitterte. Die Tür prallte an die Wand des Flurs. Eine Blendgranate rollte in die Wohnung und explodierte mit einem Knall, der die ganze Etage erschütterte. Im nächsten Augenblick standen in jedem Zimmer der kleinen Wohnung Männer des SEK Hamburg, das Sturmgewehr im Anschlag.

»Polizei! Hinlegen und Hände auf den Rücken!«

Der Einsatzleiter hätte sich den Befehl sparen können. Die Sozialwohnung im achten Stock des Plattenbaus war leer in fast jeder Hinsicht. Möbel gab es so gut wie keine. Einzig ein Fernseher und zwei Pritschen mit Luftmatratzen, auf denen zerknüllte Schlafsäcke lagen, die von Weitem nach scharfem Schweiß stanken, zeugten von menschlichen Bewohnern. Das Fernsehgerät stammte von einem andern Planeten als die abbruchreife Wohnung. Der ultraflache Großbildschirm war an einen Satellitenempfänger gekoppelt, den zwei XXL Parabolantennen auf dem Balkon speisten. Der arabische Kanal von Al Jazeera sendete eine Art Talkshow, in der sich drei Männer anschrien.

»Soviel zu den Bewohnern«, knurrte der Einsatzleiter, verärgert und erleichtert zugleich.

Immerhin hatte er richtig gezählt. Er befahl den Rückzug. Spurensicherung und Fahndung nach den Verdächtigen waren nicht mehr Aufgaben des Spezialeinsatzkommandos.

»Ihre Wohnung«, sagte er zu den Kommissaren vom Bundeskriminalamt, denen er diesen zweifelhaften Einsatz verdankte. »Das Loch ist praktisch leer. Zwei Pritschen, zwei benutzte Schlafsäcke, TV Gerät, das ist alles. Gute Unterhaltung.«

Oberkommissarin Dr. Chris Hegel vom BKA dankte höflich und fügte hinzu:

»Lassen Sie zwei Männer zur Bewachung zurück, bis die Kollegen vom LKA eintreffen.«

Sie nickte ihrem Partner, Kommissar Sven Hoffmann, zu, streifte die hauchdünnen Latex-Handschuhe über und betrat das ›Loch‹. Sven rümpfte die Nase, als sie im einzigen Zimmer standen, das die Verdächtigen bewohnt hatten.

»Stinkt wie im Klassenlager«, brummte er angewidert.

Chris schaltete das arabische Streitgespräch stumm. Für die Kriminaltechnik gab es in dieser Wohnung nicht allzu viel zu entdecken, stellte sie rasch fest. Ein paar Gratiszeitungen und eine Ausgabe der ›Frankfurter Allgemeinen‹ lagen neben dem Fernseher. Der Rest des Lebens hatte sich offenbar draußen und auf den Pritschen abgespielt. Sie schob den einen Schlafsack vorsichtig beiseite. Ihre Hand zuckte unwillkürlich zurück, begleitet von einem überraschten Ausruf.

»Bettnässer?«, fragte ihr Partner grinsend.

»Das Zeug ist noch warm!«, gab sie hastig zurück.

Sie tastete den zweiten Schlafsack ab. Er war kalt.

»Einer muss vor wenigen Minuten noch hier gelegen haben«, schloss sie, »höchstens eine Viertelstunde, schätze ich.«

Sie spürte, wie sich ihre Nackenhärchen sträubten. Das ist unmöglich, sagte ihr Verstand, und Sven sprach aus, was sie dachte:

»Kann nicht sein. Seit einer Stunde beobachten wir mit dem SEK den Zugang zur Wohnung, das Treppenhaus und den Hauseingang. Die Aufzüge sind ausgeschaltet. Der kann unmöglich unter unsern Augen abgehauen sein.«

Chris‘ Gedanken überschlugen sich. Eine unbekannte Person, wahrscheinlich der Verdächtige, Hassan Moussouni, hatte in diesem Zimmer gelegen, während sie die Zugänge zur Wohnung beobachteten. Daran zweifelte sie keinen Augenblick. Nun war er verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Es gab nur eine logische Erklärung. Beide eilten gleichzeitig zur Balkontür. Sie war nur zugezogen, nicht verriegelt.

»Scheiße, der muss ein verdammter Akrobat sein«, knurrte Sven beim Blick in den klaffenden Abgrund.

Ohne Seil und Haken gab es auch für einen Akrobaten keine Möglichkeit, nach unten oder oben zu entweichen. Der Nachbarbalkon jedoch war mit einem tollkühnen Sprung zu erreichen.

»Er versteckt sich in einer andern Wohnung auf dieser Etage«, rief sie und rannte hinaus, um das SEK aufzuhalten.

Zu spät. Bis auf zwei Männer war die Truppe abgezogen. In voller Kampfmontur, mit schwarzer Gesichtsmaske, die nur Augen und Mund freiließ, standen die beiden Wache an der Tür, als führte sie zum Tresor der Bundesbank, statt zu stinkenden Pritschen.

»Der Verdächtige versteckt sich in einer der Wohnungen auf dieser Etage«, erklärte sie den verblüfften Kollegen. »Rufen Sie Ihre Leute zurück. Wir beginnen beim Treppenhaus.«

Sven war schon lange genug ihr Partner, um sofort zu verstehen, weshalb sie nicht in den unmittelbaren Nachbarwohnungen zu suchen begann, sondern am Ende des Ganges. Dort lag die einzige Wohnung, deren Tür sich keinen Spalt geöffnet hatte nach der Detonation der Blendgranate. Mit gezogener und entsicherter Pistole stellten sie sich zu beiden Seiten der Wohnungstür auf. Chris drückte auf die Klingel.

»Polizei, öffnen Sie bitte!«, rief sie laut.

Nichts regte sich. Kein Geräusch drang aus der Wohnung. Sie drückte länger auf den Klingelknopf, klopfte und wiederholte die Aufforderung mit eindringlicher Stimme.

»Niemand da«, murmelte Sven kaum hörbar und ließ die Waffe sinken.

Bevor sie antworten konnte, vernahm sie einen leisen, metallischen Knacks. Innen an der Tür kratzte es, als würde ein Riegel geschoben. Im selben Augenblick, als sich ein Spalt öffnete, schoss Svens Arm mit der Pistole wieder nach oben. Chris hielt den Atem an. Auf halber Höhe erschien ein weißes Gesicht, umrahmt von seidig schimmerndem schwarzem Haar. Schneewittchen, so klein wie ihre Zwerge. Die großen Augen des Mädchens starrten die Polizisten angstvoll an. Chris entspannte sich, beugte sich zum Kind hinunter und beruhigte:

»Hab keine Angst, Prinzessin …«

Die Bewegung rettete ihr das Leben. Der Schuss traf Sven mitten ins Gesicht. Die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn zu Boden. Er rührte sich nicht mehr. Das Mädchen war verschwunden. Der Mann mit dem Gesicht des Fahndungsfotos gab einen zweiten Schuss auf sie ab. Ihre Hüfte brannte augenblicklich. Die Schritte des Gesuchten verhallten im Treppenhaus, bevor sie ihre ›Glock‹ auf ihn richten konnte.

»Sven – nein!«, stöhnte sie mit erstickter Stimme.

Unter seinem Kopf bildete sich eine Blutlache. Die Augen starrten ins Leere. Die Gliedmaßen zitterten im eisigen Hauch des Todes. Unscharf wie durch eine falsche Brille nahm sie seine letzten Lebenszeichen war, sah die Männer des SEK auf ihren Partner zustürzen. Als hätte sie Watte in den Ohren, vernahm sie nur Bruchstücke hektischen Funkverkehrs. Sie richtete sich ächzend auf. Das Feuer in der rechten Hüfte hinderte sie nicht daran. Im Gegenteil: Es verlieh ihr Flügel. Ein einziger Gedanke kreiste in ihrem Schädel und trieb sie an: Er darf nicht entkommen!

Sie hetzte dem Verdächtigen die Treppe hinunter nach. Neugierige Bewohner hatten sich auf den Flur in der siebten Etage gewagt, verschwanden aber beim Anblick ihrer Pistole schneller als Röhrenwürmer in ihren Wohnungen. Der Gesuchte war nirgends zu sehen. Sie hörte seine Schritte nicht mehr, sah jedoch bereits die Verstärkung des SEK die Treppe herauf stürmen. Dieser Fluchtweg war versperrt. Sie musste den Kerl stoppen, bevor er in eine weitere Wohnung eindringen konnte.

Ihre Hand mit der Waffe fuhr herum, als sie ein Geräusch hinter ihrem Rücken hörte. Ein weißhaariger Mann zeigte sich in einem Türspalt und deutete stumm auf ein schmales Zimmer neben dem Liftschacht. Er zog sich sofort wieder zurück. Eine Abstellkammer? Sie drückte sich an die Wand des Korridors, näherte sich der Kammer, vorsichtig darauf bedacht, das Schussfeld der Türöffnung zu vermeiden. Nach einem tiefen Atemzug versetzte sie der Tür einen kräftigen Faustschlag und brüllte:

»Polizei! Waffe fallen lassen! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«

Drei Schüsse waren die Antwort. Sie zerfetzten das Holz genau an der Stelle, wo sie geklopft hatte. Kaum waren sie verhallt, stand der Gesuchte vor ihr. Sie duckte sich. Mit einem einzigen Knall lösten sich zwei Schüsse. Seine sechste Kugel pfiff an ihrem Kopf vorbei, ihre zerschmetterte ihm die rechte Schulter. Seine Pistole fiel scheppernd zu Boden, doch der athletische Mann gab nicht auf. Er stürzte sich mit Triumphgeschrei auf sie, wollte sie mit dem unversehrten Arm in den Würgegriff nehmen. Ihr zweiter Schuss traf ihn in den Bauch. Mit pfeifendem Röcheln sackte er zu Boden, als ginge ihm die Luft aus.

Männer des SEK umringten sie. Der Einsatzleiter führte sie weg, während seine Leute die Waffe des Schwerverletzten sicherten und Erste Hilfe leisteten, wie sie es als Profis gelernt hatten.

»Kein Sprengstoff«, lallte Chris.

Sie grinste dabei albern, als wäre die Feststellung tatsächlich ein Grund zur Freude. Der Einsatzleiter blickte sie besorgt an.

»Alles in Ordnung?«

Sie reagierte nicht auf die Frage, die ihre grauen Zellen nur als dumpfes Rauschen erreichte. Es dauerte seine Zeit, bis das Adrenalin nicht mehr kochte in ihren Adern. Allmählich beruhigte sich ihr Puls. Der Gedanke an Sven jedoch sandte einen lähmenden Schock durch ihren Körper. Die Knie gaben nach. Sie musste sich hinsetzen.

»Sven – ist er …?«, stammelte sie tonlos.

Sie brachte die Frage nicht über die Lippen. Der SEK-Mann nahm den Helm ab und streifte endlich die Maske vom Gesicht. Mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn schüttelte er den Kopf und sagte:

»Ihr Partner lebt. Ein glatter Kopfdurchschuss. Es ist ein Wunder, aber sein Zustand ist äußerst kritisch. Er muss sofort in den OP.«

Nur Minuten später lag sie selbst nach einer Beruhigungsspritze auf der Trage im Rettungswagen. Sie zählte ängstlich die Sekunden, bis sie hörte, wie der Hubschrauber mit ihrem Partner und seinem potentiellen Mörder abhob. Was für ein elender Scheißtag!, dachte sie, bevor ihr die Augen zufielen.

Sie erwachte kurz nach Mitternacht. Trotz des langen, traumlosen Schlafs fühlte sie sich müde und ausgelaugt. Wenigstens brannte die Hüfte nicht mehr. Sie tastete vorsichtig nach der Stelle, wo sie der Streifschuss verletzt hatte, und riss dabei um ein Haar den Beutel mit der Infusionslösung vom Haken. Die Hüfte schmerzte nur, wenn sie auf den Knochen drückte.

»Warum versenken die mich im Krankenhaus?«, murrte sie.

Sie schwang die Beine aus dem Bett, blieb einen Augenblick benommen stehen im lächerlichen Krankenhemd. Den Sinn dieses Tuchs hatte sie nie verstanden. Ein Stofffetzen, der den Allerwertesten der öffentlichen Gaudi preisgab, die Vorderseite aber keusch verhüllte, albern.

»Sven!«, schoss ihr unvermittelt durch den Kopf.

Sie drückte hastig auf den Alarmknopf und ließ ihn erst los, als die Nachtschwester ins Zimmer trat.

»Legen Sie sich bitte wieder hin, Dr. Hegel«, war das Erste, was sie sagte.

Sie schlug die Bettdecke einladend zurück und wartete mit der Miene eines Blockwarts.

»Blödsinn, ich bin nicht krank«, murrte Chris. »Ich muss zu meinem Partner, Sven Hoffmann, wo liegt er?«

»Sie müssen sich schonen. Sie können jetzt nicht …«

Weiter gedieh der Protest der Schwester nicht. Mit offenem Mund sah sie zu, wie Chris das Heftpflaster vom Arm entfernte, die Infusionsnadel herauszog, zum Schrank ging und sich anzuziehen begann. Erst als sie nochmals nach Sven fragte, löste sich die Starre der Schwester.

»Ich rufe den Arzt. Warten Sie hier«, ordnete sie an.

»Gute Idee«, murmelte Chris und folgte ihr.

Das Gespräch mit dem Arzt war kurz.

»Kriminalkommissarin, aha«, murmelte er.

Es hörte sich an wie: »Alles klar …« Er reichte ihr ein Formular.

»Unterschreiben Sie bitte hier.«

Kommentarlos legte er das unterschriebene Blatt, das die gesamte medizinische Gilde Deutschlands und insbesondere dieses Krankenhaus von jeder Verantwortung entband, zu ihrer Akte.

»Die Schwester zeigt Ihnen den Weg zur Intensivstation, wo ihr Bekannter liegt.«

»Partner«, korrigierte sie.

Er nickte freundlich. »Partner. Gute Nacht.«

Die Ärztin auf der Intensivstation war jung, ihr emotionaler Panzer noch wenig ausgeprägt. Sie zeigte Mitgefühl, und Chris dankte ihr insgeheim dafür.

»Wir haben Herrn Hoffmann ins künstliche Koma versetzt. So braucht das Hirn weniger Sauerstoff und die Körperfunktionen können sich stabilisieren«, erklärte sie beinahe flüsternd, als fürchtete sie, den Patienten zu wecken.

Chris hörte nur mit halbem Ohr zu. Svens wächsernes Gesicht war kaum zu erkennen unter dem dicken Kopfverband, der Atemmaske, den Schläuchen und Messsonden. Die leise summenden, blinkenden und keuchenden Maschinen schienen das einzig Lebendige zu sein in dieser düsteren Kammer. Sie berührte sachte seine Hand.

»Es ist meine Schuld, Sven«, murmelte sie mit bebender Stimme. »Ich müsste jetzt da liegen oder im Sarg, nicht du.«

Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und wandte sich ab. Die Ärztin kontrollierte schweigend die Messprotokolle, dann folgte sie ihr auf den Flur. Im Bereitschaftsraum fasste Chris endlich den Mut, die alles entscheidende Frage zu stellen:

»Wie sieht die Prognose aus?«

»Es wird lange dauern«, antwortete die Ärztin zögernd, »aber wir sind zuversichtlich.«

Das konnte alles oder nichts bedeuten, doch Chris mochte nicht argumentieren. Stattdessen fragte sie:

»Hassan Moussouni, liegt er auch hier?«

Die Ärztin nickte. »Gleich nebenan. Wir mussten auch ihn ins Koma versetzen nach dem massiven Blutverlust. Milz und Leber sind schwer verletzt.«

»Kommt er durch?«

»Wenn es keine Komplikationen gibt.«

Es war die erste halbwegs gute Nachricht nach dem Desaster des Vortags. Gut für ihren eigenen Seelenfrieden und gut für das Justizsystem. Sie dankte der Ärztin und verabschiedete sich. Es gab viel zu tun.

Im achten Stockwerk des Plattenbaus zerschnitt sie das Siegel an Hassan Moussounis Wohnung und trat ein. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit getan. Trotzdem wollte sie sich noch einmal gründlich umsehen. Zumindest redete sie sich das ein. Sie kannte natürlich den wahren Grund: Sie wollte allein sein, mochte mit niemandem reden. So stürzte sie sich in die Arbeit, als wäre sie die Erste am Tatort, versuchte, sich in die Gedanken der Bewohner zu versetzen, sich das fremdartige, offensichtlich nur auf Zeit angelegte Leben zwischen den kahlen Wänden vorzustellen. Immer wieder drängte sich ein hartnäckiger Vorwurf in den Vordergrund. Sie hätten die Fluchtmöglichkeit über die Balkons in der Einsatzplanung berücksichtigen müssen, so unwahrscheinlich sie auch schien. Sie waren gewarnt. Im Schreiben des Bundesnachrichtendienstes hieß es sinngemäß:

Der gesuchte Hassan Moussouni wird verdächtigt, als Anführer einer Terrorzelle der AQIM (al-Qaida des Islamischen Maghreb) Anschläge in Marseille zu planen. Der Verdächtige ist bekannt als rücksichtsloser, harter Elitekämpfer. Er ist Spezialist für Sprengstoffeinsätze. Man muss davon ausgehen, dass er eine Schusswaffe trägt, die er ohne Zögern einsetzt.

Da stand es, schwarz auf weiß, so wie es der BND von den Terrorspezialisten des französischen Auslandsgeheimdienstes, DGSE, erfahren hatte. Trotzdem hatten sie Moussouni unterschätzt, sich zu sehr auf den möglichen Sprengstoffeinsatz konzentriert. Solche Fehler durften ihr nicht mehr unterlaufen. Sie arbeitete schon zu lang an der Front beim BKA. Zu lang für eine glaubwürdige Entschuldigung. O. K., Moussouni konnte keinen Schaden mehr anrichten. Aussagen würde er allerdings auch nicht auf absehbare Zeit. Justitia musste warten. Nun rang ihr Partner mit dem Tod als Folge ihres Versagens. Das war das Schlimmste, der größte anzunehmende Unfall.

Aufgewühlt setzte sie die Suche nach jeder Nichtigkeit fort, die ihre Kollegen vom LKA vielleicht übersehen hatten. Sie war selbst ausgebildete Kriminaltechnikerin. Ihr entging normalerweise keine noch so kleine Spur. Dennoch fand sie nichts in der trostlosen Leere dieser Bleibe, die keine Wohnung war, eher ein Loch, in das man sich verkroch, um nicht gehört und gesehen zu werden. Was plante Hassan Moussouni in Hamburg? Er und wer immer sonst hier gewohnt haben mochte waren nicht zufällig in dieser Stadt abgestiegen. Vielleicht wollte der Algerier hier eine Terrorzelle aufbauen. Es wäre nicht sein erster Versuch. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu spekulieren.

Noch einmal streifte sie durch die Wohnung, klopfte an die Wände auf der Suche nach versteckten Hohlräumen. Irgendeinen Anhaltspunkt musste sie finden! Die Kriminaltechnik hatte das Wenige mitgenommen, das Moussouni hinterlassen hatte. Alles außer dem Fernseher und der Satellitenanlage. Dort genügte offenbar die Sicherstellung von Fingerabdrücken, Haaren und Hautpartikeln für DNA-Abgleiche. Vorwurfsvoll betrachtete sie das Empfangsgerät, als müsste wenigstens der schwarze Kasten zu ihr sprechen. Sie drehte ihn um, überprüfte gedankenverloren die verwirrende Vielfalt der Anschlüsse. Schon wollte sie sich abwenden, als sie plötzlich stutzte. Sie sah genauer hin, las die kryptische Beschriftung, dann nickte sie befriedigt. Das unscheinbare Gerät war kein primitiver Satellitenempfänger. Es enthielt ein Modem für den Internetverkehr über Satellit und eine Festplatte mit der Kapazität von hundert Gigabytes. Falls sie für einmal Glück hatten, konnten die Techniker damit Moussounis Netzaktivitäten rekonstruieren.

»Immerhin ein Hoffnungsschimmer«, sagte sie zum schwarzen Kasten.

»Wer sind Sie, was tun Sie hier?«, fragte eine schneidende Stimme auf dem Flur.

Chris fuhr erschrocken herum und blickte in die Mündung einer Pistole. Sie gehörte einem uniformierten Polizisten frisch von der Polizeischule, der vorsichtig auf sie zutrat.

»Oberkommissarin Hegel von BKA«, antwortete sie erleichtert. »Mein Ausweis steckt in der linken Hosentasche. Ich ziehe ihn jetzt heraus …«

Der Uniformierte wartete, die Pistole im Anschlag. Er entspannte sich erst, als er den Dienstausweis sah.

»Entschuldigen Sie, Kommissarin. Ich bemerkte das zerschnittene Siegel.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es war Ihre Pflicht, nachzusehen. Mein Fehler. Ich hätte Sie über meinen Besuch informieren müssen. Wieso sind Sie überhaupt hier?«

»Man hat uns gerufen, um allzu aufdringliche Presse-Fritzen zu vertreiben.«

Dabei grinste er unsicher und konzentrierte sich auf das Verstauen seiner Pistole.

»Die verlieren wirklich keine Zeit«, brummte Chris, während sie das Gerät von den Kabeln befreite. »Können Sie mich mitnehmen zum LKA? Ich bin mit dem Taxi gekommen.«

Der junge Beamte sah sie mit geweiteten Augen an, als hätte sie ihm ein unanständiges Angebot gemacht.

»Äh – ja, klar, kein Problem«, stammelte er nach einer Schrecksekunde. »Wir sind hier fertig.«

Ihre immer noch sportliche Figur und der lange, dicke, goldene Haarzopf wirkten offenbar selbst in ihrem lausigen Gemütszustand Wunder. Vielleicht lag es auch nur am angedeuteten Stupsnäschen.

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