Читать книгу Vollzug - Hansjörg Anderegg - Страница 8
ОглавлениеKapitel 4
Marseille
Die ›Bonne Mère‹, Marseilles ›Gute Mutter‹, grüßte vom Kirchturm von Notre-Dame de la Garde, als Jochen Preuss den Mercedes am Zaun der Brache am Boulevard de la Méditerranée parkte.
»Manon würde uns jetzt beschwören, auf keinen Fall auszusteigen«, sagte er schmunzelnd zu seiner Begleiterin. »Sie bekäme einen Herzanfall, wenn sie wüsste, dass ich hier im Ghetto überhaupt anhalte.«
Sein Kommentar beruhigte Chris nicht sonderlich. Mit gemischten Gefühlen trat sie auf das Haus zu, das eher wie eine Garage wirkte. Der Kalk an den Wänden bröckelte überall dort, wo ihn nicht Plakate zusammenhielten. Zwei Teenager beobachteten sie aus einem düsteren Hauseingang. Jochen Preuss nickte ihnen mit einem Handzeichen freundlich zu, worauf einer ebenso freundlich auf den Boden spuckte.
»Ist das eine Art Geheimsprache?«, fragte sie irritiert.
Preuss lachte. »Könnte man sagen. Keine Sorge, die beiden sind harmlos. Sie passen auf mein Auto auf.«
»Ihr Vertrauen möchte ich haben.«
Er stieß die Tür auf. Lebhaftes Geplauder empfing sie.
»Schade, dass Ihr Verlobter nicht mitkommen konnte«, sagte Preuss.
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht … Er hat es nicht so mit dem Sozialen, und er muss wirklich an seinem Referat für Algier arbeiten. Ich frage mich, wieso die den Ärztekongress ausgerechnet in Algerien durchführen müssen.«
»Die Veranstaltung hat Symbolcharakter. Nach dem arabischen Frühling will sich Algerien als stolze, fortschrittliche Nation präsentieren. So ein hochdotierter Ärztekongress bringt willkommenes Prestige – und Devisen.«
Eine Frau um die fünfundzwanzig mit weißem Kopftuch und auffallend großen, schwarzen Augen kam ihnen entgegen. Preuss stellte sie vor:
»Das ist Amira Saidi. Sie ist Lehrerin und die gute Seele dieser Einrichtung. Amira, das ist Dr. Chris Hegel. Sie ist zu Besuch und interessiert sich für unsere Arbeit hier.«
Amira schüttelte ihr lächelnd die Hand und hieß sie willkommen.
»Es herrscht gerade ein ziemlicher Betrieb«, entschuldigte sie die lautstarke Unterhaltung im Hintergrund. »Die Schüler haben die Ergebnisse der Vorprüfung bekommen.«
»Das ist also eine Schule?«, fragte Chris mit einem Blick auf Jochen Preuss. Ihr Französisch klang etwas eingerostet, aber doch verständlich.
»So etwas Ähnliches«, antwortete er. »Amira und ihre Kollegen bemühen sich, jungen Leuten eine zweite Chance zu geben. Es sind Schulaussteiger und Kinder, die wegen ihres Immigrationshintergrundes besondere Schwierigkeiten haben. Diesen jungen Leuten geben Amira und die andern zwei Lehrer gratis Nachhilfeunterricht.«
»Sie werden vom Staat unterstützt, nehme ich an«, fragte Chris die gute Seele.
Amira lächelte säuerlich. »Ein wenig, und es wird immer weniger. Schulen, vor allem diese Art Einrichtungen für Benachteiligte, sind immer das erste Ziel von Sparübungen. Wir hätten längst aufgeben müssen ohne Monsieur Preuss.«
»Ach, Sie sind der Sponsor?«
Jochen Preuss schüttelte den Kopf. »Das würde meine finanziellen Möglichkeiten bei Weitem übersteigen. Ich – koordiniere lediglich.«
»Sie sind zu bescheiden, Monsieur«, widersprach Amira. Zu Chris gewandt, sagte sie: »Monsieur Preuss hat sehr gute Verbindungen in den Süden, wo die Reichen von Marseille wohnen. Er sorgt dafür, dass Sponsorgelder fließen.«
»Man tut, was man kann«, wehrte Preuss bescheiden ab. »Erst habe ich versucht, den jungen Leuten selbst etwas Kunstverständnis beizubringen. Damit bin ich aber kläglich gescheitert. Es ist wichtiger, dass die Kinder erst mal richtig Französisch lernen. Schöne Künste sind dann die nächste Kulturstufe.«
Chris war sprachlos. Jochen Preuss wandelte sich gerade vom etwas redseligen, geruhsamen Rentner zum seriösen Sozialarbeiter, der nicht nur Kinder unterstützte, die sonst auf der Straße landen würden, sondern auch Amira und ihren Kollegen bezahlte Arbeit verschaffte. Sie verstand immer weniger, weshalb seine Frau Manon nichts davon wissen wollte.
»Ich müsste kurz etwas mit Amira besprechen«, sagte er, »dauert nicht lang. Sehen Sie sich in der Zwischenzeit ruhig um.«
Die beiden zogen sich in die Nische mit dem antiken Computer zurück, die als Büro diente. Neugierig schlenderte sie in die Richtung, aus der das Stimmengewirr kam. Eine Gruppe Jungs hatte sich um ein Tischfußballspiel versammelt. Erst beachtete sie niemand, doch plötzlich stockte das Spiel. Grinsende Gesichter drehten sich ihr zu. Ein anzüglicher Pfiff provozierte Gelächter, als hätte sie ein Eigentor versenkt.
»Hallo Jungs«, grüßte sie salopp, bemüht, ihre Überraschung zu verbergen.
Einige der ›Kinder‹ waren bereits junge Erwachsene, deren Blicke ihr ungeniert zu verstehen gaben, dass sie perfekt in ihr Beuteschema passte.
»Darf ich mitspielen?«, fragte sie mit gezwungenem Lächeln.
Die Frage löste eine kurze, heftige Kontroverse aus. Halb französisch, halb arabisch stritten sich die beiden Teams darum, wer den Platz für sie räumen musste, angestachelt von Buhrufen und dem Gelächter der Zuschauer. Schließlich setzte sich der junge Mann durch, der gut pfeifen konnte.
»Enttäusch mich nicht!«, warnte er zwischen den Zähnen, bevor das Spiel weiterging.
Kaum rollte der Ball das erste Mal zwischen ihren Spielern durch, erstarrten die jungen Leute mit einem Schlag. Niemand bewegte sich und eisiges Schweigen herrschte wie in Dornröschens Schloss nach dem Stich der giftigen Spindel. Ein Mann mit Wollkappe und dichtem schwarzem Bart trat auf ihren Spielpartner zu, ohne sie zu beachten. Er fixierte ihn mit stechendem Blick aus dunklen Augen und packte ihn am Kragen, als wäre er ein bockiger Welpe. Er schleuderte ihm ein paar zornige Wörter auf Arabisch an den Kopf und zerrte ihn hinaus, ohne dass der Teenager sich wehrte. Auch sonst rührte sich niemand. Keiner wagte, den Mund zu öffnen, bis die beiden im Korridor verschwanden. Verdutzt ließ sie die Griffe am Spieltisch los und setzte ihnen nach. Der Bärtige redete verärgert auf den Jungen ein, der ihm zahm folgte. Wenigstens wandte der Ältere keine Gewalt an. Trotzdem wollte sie wissen, was vor sich ging. Sie kam nicht dazu, ihn zu fragen. Jochen Preuss stand plötzlich im Flur, gab ihr ein beruhigendes Zeichen und stoppte den Bärtigen mit dem Ruf:
»Mohammed!«
Die Männer kannten sich. Mohammed machte seinem Ärger mit einem arabischen Redeschwall Luft, gestikulierte dabei und zeigte mehrfach auf sie mit einem Gesicht, als hätte er ein faules Ei verschluckt. Preuss beschwichtigte ihn freundlich, aber bestimmt. Dabei sprach er fließend arabisch wie der Bärtige. Nach eingehender Diskussion beruhigte sich der Mann. Der Junge durfte gesenkten Hauptes zu seinen Kameraden zurückkehren, während der Bärtige das Haus verließ.
»Wer war das?«, fragte sie Preuss später im Auto.
Er fuhr nachdenklich ein Stück weiter, bevor er antwortete:
»Mohammed Hamidi, ein streng gläubiger Moslem. Er sorgt sich um die moralische Integrität seines jüngsten Bruders. Wahrscheinlich hat ihn die Wache alarmiert.«
»Alarmiert? Weshalb denn? Welche Wache?«
Er schmunzelte. »Die Teenager, die auf das Auto aufpassen. Wie alle haben sie größten Respekt vor Mohammed Hamidi.«
Sie hätte sich anders ausgedrückt. Was sie gesehen hatte, drückte weniger Respekt als pure Angst aus. Der Bärtige schien so etwas wie der Herrscher des Viertels zu sein. Sie behielt den beunruhigenden Gedanken für sich, sagte stattdessen:
»Monsieur Hamidi schien nicht gerade angetan zu sein von meiner Anwesenheit.«
»Na ja – wie gesagt, er ist streng gläubiger Moslem. Er war etwas schockiert, seinen Bruder neben einer Frau im Trägerleibchen mit sommerlichem Ausschnitt zu sehen.«
Sie konnte nicht glauben, was sie hörte. »Ich dachte, wir sind in Marseille, nicht in Saudi-Arabien«, murmelte sie betroffen.
»Marseille hat viele Facetten, wie alle Großstädte. Wie auch immer, es ist ja nichts passiert. Er hat sich beruhigt, nachdem ich ihm erzählt habe, wie wichtig Sie als Sponsorin für uns sind.«
Sie lachte laut auf, kramte einen Zwanzig-Euro-Schein aus der Tasche und legte ihn aufs Armaturenbrett.
»Damit Ihr Schwindel nicht so schnell auffliegt«, erklärte sie dazu. »Wie kommt es, dass Sie so gut Arabisch sprechen?«
»Ich habe es gelernt«, grinste er, »in Paris an der Sorbonne. Dort habe ich vor hundert Jahren Orientalistik studiert. Ich war immer fasziniert von der Sprache und Kultur der arabischen Welt, was mir auch den Spitznamen ›l’arabe‹ eingetragen hat. An der Uni in Paris habe ich übrigens Manon kennengelernt.«
»Dann hat sich Ihr Studium ja gelohnt.«
Er nickte und murmelte versonnen lächelnd: »Kann man sagen … kann man wirklich sagen.«
Port Grimaud, Côte d‘Azur
Chris streifte die Schuhe ab und trat barfuß auf die Terrasse. Die Sonne hatte die Granitplatten aufgeheizt. Schon am frühen Morgen gaben sie wohlige Wärme ab. Es war beinahe windstill, was ihren Geliebten zu sportlicher Aktivität anstachelte. Mit gemischten Gefühlen sah sie den beiden Männern zu, wie sie versuchten, den Außenbordmotor des alten Schlauchboots anzulassen.
»Das Ding gehört ins historische Museum«, brummte Jochen Preuss, als der Zweitakter wieder nur zwei Takte schaffte.
Sie heuchelte Mitgefühl: »Kann ich helfen?«
Jamie schüttelte den Kopf. »Das ist Männersache.«
»Sieht nicht so aus. Wie lang übt ihr schon?«
»Die Stresemanns haben sich mit der Küche entschieden mehr angestrengt als mit ihrem Boot«, musste Jamie zugeben.
Preuss richtete sich ächzend auf, reckte sich und sagte:
»Mein Angebot steht. Sie können unsern bescheidenen Kahn benutzen. Immerhin bietet der genug Platz für zwei Personen und den Captain.«
Der Motor überlebte die ersten zwei Takte. Er jammerte mitleiderregend vor sich hin, aber die Schraube drehte sich.
»Nicht nötig«, rief Jamie.
Er streckte strahlend die Hand aus, um ihr an Bord zu helfen. Resigniert verabschiedete sie sich von Jochen Preuss:
»Schicken Sie uns einen Suchtrupp, wenn wir zum Kaffee nicht zurück sind.«
Jamie saß betont lässig am Ruder wie ein alter Fischer, der den Weg durch das verwirrende Netz verzweigter Kanäle mit geschlossenen Augen fand. Auf seinem Gesicht jedoch spiegelte sich eine innere Anspannung, dass sie schließlich beruhigend eingreifen musste:
»Gut machst du das.«
Er musterte sie misstrauisch. »Du ziehst mich auf.«
»Nichts liegt mir ferner. Verrätst du mir, wohin die Reise geht?«
Er zuckte die Achseln. »Habe ich mir noch nicht überlegt. Ein Stück an der Küste entlang Richtung Saint-Tropez, was meinst du?«
»Die lassen uns da nie und nimmer anlegen mit dieser aufblasbaren Badewanne.«
»Wir können uns auch einfach treiben lassen, schwimmen, den freien Tag auf dem Wasser genießen.«
Er steuerte das Boot im Schneckentempo auf die Bucht hinaus. Sie entfernten sich nach ihrem Geschmack zu weit von der Küste. Einer Küste, die ihren Namen Tagen wie diesem verdankte. Versonnen blickte sie aufs himmelblaue Meer hinaus. Das Städtchen an der Spitze der Landzunge musste das berühmte Saint-Tropez sein, ganz niedlich anzusehen aus der Distanz. Sie drehte sich auf den Bauch, schob den Sonnenhut in den Nacken und begann, die Wellen zu zählen. Jamie drosselte den Motor noch weiter, bis er verstummte. Erschrocken fuhr sie auf.
»Wenn er nun nicht mehr anspringt?«
»Gute Frage«, murmelte er betroffen.
Beim zweiten Versuch lief die Maschine wieder. Jamie wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und drehte den Benzinhahn wieder zu.
»Kein Problem, wie du siehst.«
Von der Vergangenheit auf die Zukunft eines Motors zu schließen, der an Depressionen litt, war verwegen, doch sie schwieg. Der sanfte Wellenschlag und hin und wieder der Schrei einer Möwe unterstrichen die Stille inmitten der Bucht. Lange Zeit lagen sie in Gedanken versunken nebeneinander, jeder in seiner eigenen Traumwelt, weitab vom Alltag.
»Wovon Sven jetzt wohl träumt«, fragte sie unvermittelt. »Träumt man im Koma?«
»Medikamente wie Pentobarbital oder Thiobarbital reduzieren die Hirnaktivität drastisch, aber das Organ arbeitet weiter. Das wird laufend mit dem EEG kontrolliert. Viele Patienten behaupten nach dem Aufwachen, sie hätten geträumt, was durchaus möglich ist.«
»Da spricht der vorsichtige Mediziner«, lachte sie.
Es war kein befreites Lachen. Beim Gedanken an ihren Partner auf der Intensivstation erschien ihr das Blau des Wassers mit einem Mal eine Spur dunkler und bedrohlicher. Jamie spürte es. Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest.
»Bald hat er es überstanden«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Eng an seinen Körper geschmiegt, wurde ihr die Hoffnung allmählich zur Gewissheit. Alles würde sich doch noch zum Guten wenden. Ahmed Moussouni würde auspacken, sein Bruder Hassan gefasst werden und Sven wäre wieder ihr alter Partner, als hätte Hamburg nie stattgefunden. In Jamies Armen gab es nur den optimistischen Blick in die Zukunft. Im Augenblick stimmte einfach alles. Als er den Griff lockerte, zog sie ihn fester an sich und sagte leise:
»Ist gut so.«
Das Boot schaukelte sanft auf den Wellen. Eine Schönwetterwolke schob sich vor die Sonne und sorgte für willkommene Abkühlung. Sie brauchten nicht zu reden, um ihr Glück zu genießen. Sie kommunizierten auf andere Weise und verstanden sich auch so. Sie gehörten zusammen, zwei Wesen in perfekter Symbiose. Fast perfekt jedenfalls. So gut es eben ging in dieser Welt mit tausend Unbekannten. Sie sah ihm ins Gesicht und hätte schwören mögen, ihm schwirrten die gleichen Gedanken durch den Kopf.
Er räusperte sich. »Chris?«
»Hmm?«
»Willst du meine Frau werden?«
Der Schock katapultierte sie aus seiner Umarmung. Ein Fuß stieß an die Bootswand. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings mit Strandkleid und Sonnenhut ins Wasser, bevor Jamie seine Hand ausstrecken konnte. Mit einem Schreckensruf sprang er ihr nach. Sie strampelten im Wasser, eng umschlungen wie zwei Kröten im Frühling, bis sie am Boot Halt fand.
»Entschuldige«, keuchte er. »Das war dumm von mir, dich so zu überfallen. Eine altmodisch romantische Vorstellung – ich meine – wir sind doch sowieso zusammen – was würde sich überhaupt ändern …«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, dann kletterte sie ins Boot, schwerelos wie die Möwe in der lauen Brise. Er blieb wie ein Stoßdämpfer an der Hülle hängen, warf ihr dabei so leidende Blicke zu, als übte er genau diese Funktion aus. Ihr Herz pumpte heißes Blut durch die Adern, dass sie glaubte, es rauschen zu hören wie das Meer. Sie verschloss ihm den Mund mit einem langen, innigen Kuss, bevor sie ihm die einzig mögliche Antwort ins Ohr hauchte:
»Oui!«
Sie spürte, wie seine Anspannung nachließ. Ein verlegenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
»Das …«, begann er, stockte und schluckte leer.
Sie nickte lachend. »Das ist Französisch und heißt ›ja‹!«
»Das ist wunderbar, wollte ich sagen. Ich kann es gar nicht fassen. Chris, Liebste …«
Tausend Gedanken stürzten auf sie ein, während sie sich in stillem Glück umarmten, als dürfte sie nie mehr etwas trennen. Er schien vergessen zu haben, dass er immer noch mitsamt den Kleidern im Wasser hing.
»Willst du nicht reinkommen? «, fragte sie nach einer Ewigkeit.
Sie half ihm ins Boot. Beide streiften die nassen Kleider vom Leib und legten sie zum Trocknen aus. Er stand nackt vor ihr und stieß einen tiefen Seufzer aus, als wäre die Last seines Junggesellenlebens von ihm abgefallen.
»Mein Gott, Chris! Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Scheiß Angst ich vor deiner Antwort gehabt habe.«
Sie zog ihn an ihren Busen, damit er die wässrigen Augen nicht sehen konnte. Als Realistin hing sie längst nicht mehr an der romantisch verklärten Vorstellung des Teenagers von Traumhochzeit und ewigem Glück. Insgeheim aber hatte sie jahrelang auf seine fünf Worte gewartet.
»Wärst du ins Wasser gegangen, wenn ich Nein gesagt hätte?«, fragte sie nach einer Weile.
»Augenblicklich!«
»Aber du kannst schwimmen …«
»Nicht nach deinem Nein.«
Seine feuchte, warme Haut regte ihre Hormonproduktion an. Die Wirkung der Körpersäfte spürte sie deutlich in ihrem Schoß.
»Kannst du das nochmals machen wie neulich …«, flüsterte sie.
Das Salz auf ihrer Haut trieb ihn zu neuen Entdeckungsreisen an. Die beiden Körper verschmolzen zu einem Knäuel aus purer Leidenschaft. Die Sorge um ihren Partner, der Job, die Brüder Moussouni, der unheimliche Mohammed Hamidi in Marseille, alles rückte in weite Ferne. Jetzt musste die Zeit einfach stehen bleiben.
Sie hatte keine Vorstellung davon, wie lang sie schon auf den nassen Kleidern zuckten wie Fische, die das Wasser suchen, als lautes Gelächter sie plötzlich in die Gegenwart zurückholte. Sie stoben auseinander, schossen auf und starrten mit roten Köpfen in die grinsenden Gesichter von Jugendlichen, die in kleinen Jollen einen Kreis um sie bildeten. Anzügliche Rufe wurden laut, deren Sinn auch Jamie ohne Französischkenntnisse sofort verstand. Ihr erster Reflex war, die Blöße zu bedecken, dann verzichtete sie darauf. Die Bande hatte sowieso schon alles gesehen. Jamie spielte nach dem ersten Schreck den coolen Engländer. Er winkte den Seglern mit seiner schwarzen Unterhose zu und rief:
»Sie hat Ja gesagt! Oui!«
Antibes, Côte d‘Azur
»Sie ahnen nicht, worauf Sie sich einlassen«, warnte Chris Jochen und Manon Preuss am Eingang zur Markthalle von Antibes.
Jamie war bereits untergetaucht. Mit einem flüchtigen »Excuse me« hatte er sich unters Volk gemischt, das wie in einer Prozession an den Marktständen vorbeizog, vor den Auslagen mit Früchten, Gemüse, Gewürzen, Wurst und Bergen aus Käse stehen blieb, lebhaft über das Angebot diskutierte und die Einkaufstaschen füllte.
»Wahrscheinlich hat er den Grund, weshalb wir hier sind, schon vergessen«, fügte sie hinzu, während sie über Knoblauch staunte mit Zehen größer als ihre.
»Danken Sie Gott, dass ihr zukünftiger Ehemann nur das harmlose Kochen als Hobby betreibt«, bemerkte Manon mit einem vielsagenden Seitenblick auf ihren Jochen.
Der zuckte schmunzelnd mit den Achseln und entgegnete:
»Gerade beim Kochen kann man sich schwer die Finger verbrennen.«
Die Fahrt an der Küste entlang nach Antibes und weiter über die Corniche war nicht als Einkaufsbummel gedacht. Die Preussens hatten sie spontan zu dieser kleinen, vorgezogenen Hochzeitsreise eingeladen. Chris blickte ungeduldig auf die Uhr. Ihr Zukünftiger musste sich beeilen, wollten sie um die Mittagszeit in Èze sein. Unvermittelt stand er neben ihr. Er hielt ihr die Einkaufstüte unter die Nase und sagte begeistert:
»Riech mal. Das müsst ihr euch ansehen. Frische Feigen, Oliven wie Hühnereier, Rosmarin, Thymian – und dieser Knoblauch!«
Seine Hand fuhr in den Sack und brachte ein mit Blättern und Bast umwickeltes Paket zum Vorschein.
»Echter, unverfälschter ›Banon‹. Was sagst du jetzt?«
»Was soll ich sagen. Es wird spät.«
»›Banon‹! Chris, der berühmte provenzalische Ziegenkäse.«
Manon Preuss betrachtete die prall gefüllte Tüte, als sähe sie die Produkte der südfranzösischen Landwirtschaft zum ersten Mal.
»Was haben Sie mit all den Sachen vor?«, fragte sie ungläubig.
»Das gibt wunderbare Vorspeisen, Kräuter und Gewürze kommen in den Lammtopf und die Feigen mit frischem Zimt eignen sich hervorragend als Nachtisch. Lassen Sie mich nur machen …«
Jochens Handy unterbrach ihn. Preuss sah auf den Bildschirm. Sorgenfalten zeichneten sich auf seiner Stirn ab.
»Entschuldigung, ist dringend«, sagte er, wandte sich ab.
Er führte eine kurze, erregte Unterhaltung auf Arabisch. Seine Stimme verriet äußerste Anspannung. Als er das Telefon einsteckte, sah er blass aus.
»Ich muss dringend nach Marseille.«
»Das kannst du uns nicht antun«, protestierte Manon.
Er sah Chris schuldbewusst an.
»Ich bin untröstlich, aber es geht nicht anders. Wir werden das alles nachholen, versprochen.«
»Was ist denn los?«, wollte sie wissen.
Die Frage blieb unbeantwortet. Mit schnellen Schritten ging er voran Richtung Parkplatz.
Port Grimaud, Côte d‘Azur
Chris hatte sich die kleine Hochzeitsreise eine Spur gemütlicher vorgestellt. Jamie wohl auch. Sie saßen beide mit langen Gesichtern im Café am Kanal schräg gegenüber ihrem Haus. Manon leistete ihnen Gesellschaft. Sie versuchte vergeblich, den Ärger über Jochens Marseiller Geschäfte zu verbergen, rührte abwesend im Kaffee, während sie ab und zu böse Blicke auf die gegenüberliegende Häuserzeile warf.
»Tut mir echt leid wegen gestern«, murmelte sie nicht zum ersten Mal.
Chris versuchte erneut, mehr über das Problem in Marseille zu erfahren, doch Manon schüttelte nur den Kopf.
»Ich tappe genau wie Sie im Dunkeln. Es muss sich allerdings um ein ernstes Problem handeln. Jochen kam erst nach Mitternacht nach Hause, und als ich heute Morgen um sieben erwachte, war er schon wieder weg. So etwas ist in all den Jahren nicht passiert, seit wir in Port Grimaud wohnen.«
Chris faltete die ›La Provence‹ zusammen und bemerkte:
»Da steht jedenfalls nichts Besonderes über Marseille drin.«
Sie überlegte sich, Jochens Schulprojekt anzusprechen, ließ es jedoch bleiben, um nicht unnötig Staub aufzuwirbeln.
»Willst du nicht rangehen?«, fragte Jamie mit säuerlichem Lächeln.
In Gedanken versunken, hatte sie das Vibrieren des Handys nicht bemerkt.
»Oha!«, entfuhr es ihr, als sie Oberstaatsanwalt Richters Namen auf dem Bildschirm las.
»Ich fürchte, Ihre Ferien sind vorbei«, begann er.
Kein Gruß, kein »Wie geht es Ihnen«. Seine Stimme klang gereizt.
»Was gibt‘s?«, fragte sie ebenso kurz angebunden.
»Sie fliegen nach Berlin, dringend!«
»Berlin?«
»In die Zentrale auf dem Kasernengelände am Treptower Park. Sagt Ihnen das Kürzel GTAZ etwas?«
Selbstverständlich, auf welchem Planeten lebte sie denn? Sie entfernte sich einige Schritte vom Tisch und sprach leiser:
»Die Anti-Terror-Zentrale. Was haben wir mit der zu schaffen?«
»Die Geschichte mit den Moussouni Brüdern und den Unruhen scheint aus dem Ruder zu laufen. Das gemeinsame Terrorismus-Abwehrzentrum in Berlin übernimmt ab sofort die Koordination bei der Suche nach Hassan Moussouni. Im Gremium sitzen Leute von uns, den Landeskriminalämtern, dem BND und dem Verfassungsschutz. Sie vertreten das BKA.«
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken beim Gedanken an den Debattierklub im langen Sitzungszimmer am Treptower Park.
»Kann das nicht …«
Richter unterbrach sie scharf: »Nein! Sie kennen alle Details in diesem Fall. Sie sind die einzig Richtige für den Job. Melden Sie sich bei Heinrich Radtke, Abteilung TE des BND, Gruppe Nordafrika. Der Jet wird in vierzig Minuten in Nizza landen. Brauchen Sie einen Transport?«
Alle möglichen Antworten schwirrten ihr durch den Kopf. Schließlich entschied sie sich für die Einfachste:
»Nein, Jamie kann mich fahren.«
»Gut. Melden Sie sich, sobald sie da sind.«
»Wie geht es Sven?«
Richter hatte aufgelegt.
Zwei Stunden später verabschiedete Jamie sie in lupenreinem Französisch auf dem Flughafen Nice Côte d’Azur:
»Au revoir, madame Roberts.«