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7 Die Schaukel

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Es verschlug ihr den Atem, so kalt war das Wasser. Sie widerstand dem Drang, ans Ufer zurückzulaufen, und watete stattdessen weiter ins tiefere Meer hinaus, bis sie schließlich den Boden unter den Füßen verlor und mit kräftigen Zügen in die Bucht hinausschwamm.

Eine Weile trat sie hinter der Brandungslinie Wasser, dann wagte sie sich darüber hinaus, drehte sich auf den Rücken und überließ sich dem Puls des Meeres. Urplötzlich wurde sie seitwärts weggetragen, als liege sie in einem Schlafwagen, der sich mit einem Ruck in Bewegung setzte und nun der Küste entlangfuhr. War sie in die Rückströmung der Brandung geraten oder in einen gefährlichen Gezeitenkanal, der sie in den offenen Atlantik hinauszog? Sie kämpfte sich in die Senkrechte und sah, dass der Strand wie eine Kulisse an ihr vorbeiglitt. Mit aller Kraft schwamm sie gegen den starken Sog an, begriff aber schnell, sie hatte keine Chance. Es war, als halte sie jemand an der Schulter fest und ziehe sie unerbittlich vom rettenden Ufer weg.

Ihr fiel ein, dass sie parallel zum Ufer schwimmen musste, um mit etwas Glück aus der Strömung zu kommen; sie drehte sich um neunzig Grad, wurde von einer Welle erfasst, wie eine Marionette herumgewirbelt, am Nacken gepackt, nach unten gedrückt und seitwärts über den Grund geschleift. Der Lärm war ohrenbetäubend, das Wasser um sie schäumte weiß, als werde es gekocht. Sie hatte keine Ahnung, wo oben war und in welcher Richtung sich das Land befand, ruderte mit beiden Armen, so kräftig sie nur konnte, schlug mit den Beinen um sich, bis sie plötzlich mit den Zehenspitzen den Meeresboden berührte, sich abstoßen konnte und nach Atem ringend die Wasseroberfläche durchbrach. Sie war hinter der Brandungslinie, in Sicherheit. Um aufzustehen, fehlte ihr die Kraft, doch es gelang ihr, sich so weit ans Ufer zu kämpfen, bis sie mit den Händen den Boden berührte und keuchend auf allen vieren an Land kriechen konnte. In ihren Augen brannte Salz, ihre Schulter tat weh, als sei sie gebrochen, die rechte Seite ihres Oberkörpers fühlte sich wund und taub an.

Sie rannte über den Sand, ließ sich auf dem Grasband am Waldrand zu Boden fallen und riss sich die Badeschuhe von den Füßen. Ihre Zehen waren eiskalt und gefühllos, und sie fing an, am ganzen Körper zitternd, sie mit beiden Händen zu reiben und zu massieren. Wäre sie ertrunken, kein Mensch hätte es mitbekommen. Das Meer hätte sie davongetragen und mit sich genommen und vielleicht irgendwo wieder abgelegt. Wieso rief sie nicht Jake an und bat ihn um Hilfe? Sie rollte mit der Schulter und betastete sie: gebrochen war sie bestimmt nicht. Ihre rechte Hüfte und die rechte Seite ihres Oberkörpers waren aufgeschürft und bluteten leicht, wenn sie tief Luft holte, schmerzte der Brustkorb. Sie massierte ihre Zehen, bis sie wieder normal durchblutet waren und ihre Beine sie trugen. Sie schälte sich aus dem Badeanzug und zog sich schnell an. Als sie in die Jeans schlüpfte, fiel ihr das Flugblatt ein, und sie zog es aus der Gesäßtasche und entfaltete es.

Das Farbfoto auf dem Flyer zeigte die sechsjährige Jane Libby auf einer Schaukel, die am Ast eines Baumes hing. Sie trug ein blau-weiß kariertes Kleid mit Puffärmeln, eine Halskette aus Brausetabletten, war barfuß und hatte die langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich einzelne Strähnchen gelöst hatten. Neben ihr saß ein Teddybär im Gras, vornübergesunken, als habe er aufgegeben. Jane sah offen in die Kamera, ohne zu lächeln, als warte sie auf Anweisungen oder eher noch ein Lob. Ihr linkes Knie war aufgeschürft.

Direkt unter dem Foto war aufgelistet, was Jane Libby getragen hatte, als sie verschwunden war (schwarze Leggins, einen gelben Sweater mit Kapuze, eine Jeansjacke mit goldenen Sternchen auf den Brusttaschen, weiße Walmart-Sneakers und Engelsflügel), dass sie 114 Zentimeter groß und 16,3 Kilogramm schwer war, dunkelblonde, schulterlange, gelockte Haare, grünblaue Augen und keine besonderen Kennzeichen hatte, außer dass ihr der obere rechte Eckzahn fehle. Unter diesen Angaben stand in etwas kleinerer Schrift: »Sollten Sie Informationen haben, wenden Sie sich bitte an die Rockland Police oder an den Bezirkssheriff.« Dann folgten mehrere fett und rot gedruckte Telefonnummern und Hotlines.

Sie verwarf den Gedanken, nach Owls Head zurückzufahren, um bei der Suche mitzuhelfen. Sie würde stattdessen nach Hause zurückkehren, sich ausruhen, die Schürfwunden verarzten, eine Schmerztablette nehmen, heißen Tee trinken und die Katze ins Haus rufen. Sie wäre beinahe ertrunken, doch sie hatte sich zurückgekämpft und lebte.

Das Meer hatte eine bleigraue Farbe angenommen, die Wellen, die in die Bucht rollten, trugen weiße Schaumkronen; sie hörte das Knirschen der Kiesel, die von den Wogen umgeschichtet wurden. Ein Geräusch, das sie sonst beruhigte und mit angenehmer Wehmut erfüllte, ihr heute jedoch Angst machte, verriet es doch die Macht des Meeres.

Der Wald hinter South Thomaston war dunkel, der Himmel wurde von Scheinwerfern der Autos erhellt, die auf der Route 73 unterwegs waren. Sie fuhr langsam, hörte keine Musik. Auf der Brücke vom Festland zur Insel wurde ihr Auto von einer Windböe erfasst, und sie glaubte, sie werde von einer großen starken Hand emporgehoben und wieder abgesetzt.

Sie fuhr vorsichtig in ihre Garage, schaltete Licht und Motor aus, blieb jedoch sitzen. Es war kühl und dunkel in dem schmalen Raum, es roch nach Motorenöl und Dachpappe. Erst nach einer Weile bemerkte sie die Katze. Sie hockte auf dem Reifenstapel in der Ecke, sah sie unverwandt an, sprang endlich unvermittelt zu Boden und dann in einem Satz auf die Motorhaube und schmiegte sich an die Windschutzscheibe, als sei das Auto ein Wesen, das sie liebkoste.

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