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4 Auge um Auge

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Leah Tucker fuhr ihren El Monte vorsichtig an den äußersten Rand des Grundstückes ihres Sohnes J, machte den Motor aus und blieb am Steuer sitzen, ohne sich zu rühren. Sie war müde, denn sie hatte schlecht und nur oberflächlich geschlafen.

Sie war vor wenigen Tagen aus New Hampshire angereist, wo sie zwei Wochen im Fahrgeschäft des Vergnügungsparkes Story Land gearbeitet hatte, aber das betrunkene Gegröle ihres Sohnes und seiner Kumpel und der monotone Death-Metal, den sie hörten, gingen ihr bereits so sehr auf die Nerven, dass sie darüber nachgedacht hatte, früher aus Maine abzureisen, statt wie geplant bis Dezember auf dem Grundstück ihres Sohnes stehen zu bleiben, wo sie gratis Strom beziehen und ihre beiden Wassertanks auffüllen konnte. Im Dezember würde sie wie schon seit vier Jahren zum »Amazombie« werden und in Campellsville in Kentucky im Amazon-Warenlager arbeiten. Danach würde sie nach Quartzside in Arizona fahren, um die Wintermonate wie gewohnt im Wohnmobilpark Coyote Flat zu verbringen. In Quartzside gab es ein Kaugummimuseum mit Kaugummis aus aller Welt, vielleicht schaffte sie es diesmal endlich, es zu besuchen.

Hoffentlich konnte sie am neuen Standplatz am Rand des Grundstückes besser schlafen und brauchte nicht abzureisen; sie war ausgelaugt und auf die Erholung vor der anstrengenden Arbeit bei Amazon angewiesen. Die Erde unter der mageren Grasnarbe war fest und trocken, die Gefahr, dass ihr schweres Mobil einsank und festsaß, selbst bei heftigem Regen, gering. Sie blieb hinter dem Steuer sitzen und achtete angestrengt darauf, ob der Lärm aus dem Haus hier weniger gut zu hören war. Während sie lauschte, ertastete sie eine einzelne Eichel in der Tasche ihres Parkas, die in ihrem Becher steckte, und erinnerte sich an den Satz ihres Vaters, den er jedes Jahr zum Besten gegeben hatte: »Jede Eichel passt nur in ihren eigenen Becher, in keinen anderen, stellt euch vor, Mädels!«

Was wohl aus ihrer Schwester Roxanne geworden war? Als sie vor neun Jahren das letzte Mal in einem staubigen Kaff in New Mexico ein paar Tage zusammen verbrachten, hatten sie sich nur in den Haaren gelegen und festgestellt, dass sie sich nichts zu sagen hatten und sich eigentlich nicht mochten. Roxanne hatte in einem Striplokal an der Bar gearbeitet und jede Nacht einen anderen Mann in ihre Wohnung abgeschleppt, in der die Klimaanlage kaum für Abkühlung sorgte, abgekämpfte zynische Kerle, die sie mit misstrauischen Blicken musterten.

Sollte sie das Fenster nach unten drehen, um den Lärmpegel zu prüfen? Sie nahm die Eichel aus der Parkatasche, musste sie aber dicht vors Gesicht halten, um sie sich genau anzusehen, weil die Lesebrille auf dem Esstisch ihres Campers lag und sie zu erschöpft war, sie zu holen. Wie sie nicht anders erwartet hatte, war das Haus ihres Sohnes schmutzig und in schlechtem Zustand. Auch um den Garten hatte er sich offenbar lange nicht gekümmert: Das Gras war an mehreren Stellen von offenen Feuerstellen verbrannt und ansonsten ungemäht, die Hecken hatte er bestimmt noch nie zurechtgeschnitten. In den Büschen, die den hinteren Teil seines Landstückes begrenzten, hing Abfall, das Dachgestänge der Hollywoodschaukel war gebrochen, das Stoffdach hing schief über der Sitzfläche und war wie ein Fangnetz mit Blättern umstehender Bäume gefüllt.

Seit sie in Vermont Himbeeren gepflückt hatte, taten ihr die Kniegelenke und Unterarme weh, und sie kam nur mit Mühe aus dem hydraulischen Fahrersessel hoch. Im Wohnbereich öffnete sie den Kühlschrank, aber es war keine einzige Flasche Budweiser mehr da. Sie würde morgen früh für einen Großeinkauf zu Walmart fahren und danach in einem der vielen Lokale in Rockland einen Cappuccino trinken. Auch das Frostfutter für ihre Königspython Slash ging zur Neige; sie musste dringend Nachschub im Internet bestellen. Es war aufwendig gewesen, das große Terrarium zwischen Küchenkombination und Sitznische in die Wand einpassen zu lassen; sie hatte das sechsjährige Schlangenweibchen, mittlerweile war es beinah zwei Meter lang und annähernd drei Kilogramm schwer, vor fünf Jahren bei einem Reptilienhändler in Texas gekauft, den Ford Chevrolet El Monte besaß sie seit dreieinhalb Jahren.

Seit die Schlange ausgewachsen war, war sie ihr manchmal unheimlich, und sie war froh, schlief sie im Alkoven über der Fahrerkabine, weit weg vom Terrarium, das sie ab und zu zusätzlich mit einem Tuch verhängte, um die Python nicht sehen zu müssen.

Sie war hungrig, aber zu träge, um zu kochen, kämpfte sich aus ihrem hydraulischen Fahrersitz, riss eine Familienpackung Chips auf, stellte Mac and Cheese in die Mikrowelle und öffnete den Weißwein, den sie bei einer Party ihres Sohnes hatte mitgehen lassen. Ihr Fernseher hatte keinen Empfang, und sie ging ihre DVD-Sammlung durch, obwohl sie die meisten Filme schon so oft gesehen hatte, dass sie viele Dialoge auswendig mitsprechen konnte. Sie entschied sich für Out of The Furnace mit ihrem Lieblingsschauspieler Woody Harrelson, schaltete die neue Lavalampe an, drehte alle anderen Lichter aus und machte es sich mit den Käsemakkaroni, den Chips und dem Wein auf dem Sofa bequem und startete den Film.

Die Hummerzange

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