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5 Ein Detective mit Gipsfuß

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Detective Robinson hatte einen Tick, der Corinna Holder bei seinem ersten Besuch nicht aufgefallen war: Vor jeder Frage zuckte er mit den Augen, ließ seinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen und sah dann für einen Moment abwesend in die Ferne. Damals hatte er sie befragt, weil sie Norman Dunbars Leiche gefunden hatte, heute wollte er wissen, ob sie den Schuss gehört hatte und was ihr aufgefallen war. Während er zuhörte, zeichnete er mit dem Zeigefinger Spiralen auf das rechte Bein seiner beigen Stoffhose. Seine Nase war so markant, dass sie einen Schatten auf seine Kinnpartie warf.

»Das Motorrad fuhr Richtung Norden. Richtig?«

»Wie gesagt, ja.«

»Wieso vermuten Sie, dass der Schuss von einem Gewehr und nicht von einer Pistole abgegeben worden ist?«

Seine blaue Krawatte schillerte, als bestehe sie aus lauter Schuppen wie ein Fisch, sein weißes Hemd war ungebügelt.

»Weil ich mich mit Schusswaffen auskenne.«

»Als ehemalige Polizistin, meinen Sie?«

»Ehemalige Kriminalpolizistin, Detective.«

»Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?«

Sie schüttelte den Kopf und schenkte ihm ungefragt Kaffee nach. Beim letzten Besuch hatte er ihn gerühmt, heute ging er nicht darauf ein. Sie hatte sich vom Rand des Steinbruchs ferngehalten und war auch nicht zum Hafen hinuntergefahren, wo man das Areal von Norwood Lobster ungehindert einsehen konnte. Sie wollte sich so gut als möglich aus der Sache heraushalten.

»Sportunfall?«, fragte sie und zeigte auf seinen eingegipsten rechten Fuß.

»Nicht der Rede wert«, sagte er, machte eine abschätzige Handbewegung und nickte, als wolle er sich selbst bestätigen.

Durfte sie nachhaken? War er von der Leiter gefallen? Hatte er sich den Fuß bei einem Einsatz gebrochen? Sein Blick war verhuscht und leicht verschwommen, wahrscheinlich von Schmerztabletten, die er einnahm. Sie warf einen Blick zum Bücherregal; hinter den Romanen von Albert Camus und Carlos Castaneda hatte sie früher das Xanax versteckt. Sie hatte die Bücher noch immer nicht gelesen, obwohl sie sich geschworen hatte, es zu tun, sollte sie je von der Sucht loskommen.

»Sammeln Sie Holz?«, fragte er und zeigte auf den Ast von Jakes Wiese, der auf dem Couchtischchen lag.

»Unter anderem«, sagte sie knapp und versuchte, das belustigte Grinsen auf seinem Gesicht zu ignorieren.

»Gesehen haben Sie niemanden?«

»Nein. Wie geht es dem Mann?«

»Er ist heute Nacht gestorben.«

»Wird jetzt die Maine State Police eingeschaltet?«

Er trank einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf den Unterteller zurück und ließ sich seufzend zurücksinken. Der Rücken seiner rechten Hand war rot, als habe er sich vor Kurzem gekratzt.

»Warum nicht gleich das FBI?«

Seine Stimme hatte jetzt einen pikierten, beinahe verärgerten Unterton, er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt.

»Ich kenne mich nicht aus mit den amerikanischen Gepflogenheiten.«

»Wir sind hier in Maine.«

»Nicht in Amerika?«

»Ach, ihr Europäer«, sagte er spöttisch und stand auf.

Dass Robinson ihr tatrelevante Hinweise verriet, etwa welche Handys in der Nähe des Tatortes eingeloggt gewesen waren oder ob eine Patrone gefunden worden war, hatte sie nicht erwartet, doch sein unfreundliches Verhalten erstaunte sie.

»Ich bin übrigens Detective Sergeant. Nicht bloß Detective.«

Er legte die Hand ans Revers seines Jacketts, zupfte daran, als sei es ihm zu eng, und reichte ihr die Hand. Sein Atem roch nach Kaffee und nach Erdbeeren, wahrscheinlich hatte er Kaugummi gekaut, bevor er an ihre Tür geklopft hatte. Wo hatte er ihn entsorgt?

»Das wusste ich nicht, Verzeihung, Detective Sergeant.«

Bevor sie Robinson zu seinem zivilen Einsatzwagen begleitete, warf sie einen Blick auf die Küchenuhr: 15:15. In letzter Zeit sah sie auffällig oft genau dann auf Uhren, wenn sich die Ziffern deckten. 11:11. 14:14. 22:22. Zufall? Oder hatte es eine Bedeutung?

Der böige Wind, der das Regenwetter vertrieben hatte, war unangenehm kühl und brachte eine erste Vorahnung des Winters mit sich. Detective Sergeant Robinson nahm das Blaulicht vom Armaturenbrett, legte es auf den Beifahrersitz und setzte seinen Grand Cherokee schwungvoll auf die Rockledge Road zurück. Bevor er losfuhr, nickte er ihr mit ernster Miene zu, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu nicken. Die untere Hälfte des Heckfensters war beschlagen, ein Draht der Scheibenheizung klar zu erkennen. Im Haus von David Byrd auf der anderen Straßenseite stand die Tür zum Deck weit offen, zu sehen war jedoch niemand. Die vom Morgenregen gewaschene Luft roch nach Salz, feuchter Erde und Fichten. Herbstlicht fiel gefiltert durch die Stämme der Bäume und legte Streifen auf die Straße.

Vor ein paar Tagen hatte sie Michaels T-Shirt, das sie lange als Pyjama getragen hatte, ohne nachzudenken in einen Abfallsack gestopft, um es endlich zu entsorgen. Aber dann hatte sie den Sack in letzter Sekunde, gerade als sich die hydraulische Presse in Bewegung setzte, wieder aus dem Container der Müllsammelstelle in South Thomaston gezerrt und das T-Shirt herausgesucht. Sie hatte es gewaschen, gebügelt und in die unterste Schublade ihrer Kleiderkommode gelegt. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, es je wieder zu tragen, aber sie brachte es auch nicht übers Herz, es wegzuwerfen.

Sie ging hinters Haus, um nach ihrem Garten zu sehen, und schaffte es zwar, sich vom Rand des Steinbruches fernzuhalten, achtete aber doch auf verdächtige Geräusche. War die Untersuchung des Tatortes bereits abgeschlossen, das Zelt der Forensiker abgebaut? Das Gras musste dieses Jahr noch mindestens einmal geschnitten werden, aber sie hatte keine Lust darauf und ging ins Haus zurück.

Die Vorstellung, den Rest des Nachmittages sowie den Abend alleine zu verbringen, machte ihr Angst, und sie beschloss, Maggie zu besuchen. Sie nahm das Gefäß mit dem Rest des Rindsgulaschs aus dem Tiefkühlfach, das sie letzte Woche für Jake gekocht hatte: Sie würde es als Geschenk mitbringen. Sie schlüpfte in eine Fleecejacke und zog sich eine Baseballkappe der Red Sox über, die ihr Sohn Thomas ihr zum Scherz aus Boston mitgebracht hatte, weil er wusste, dass sie die Regeln des Spieles nicht verstand, obwohl Michael sie ihr wieder und wieder erklärt hatte.

Wie sie es aus der Schweiz gewohnt war, ging sie am Rand der linken Fahrspur der Island Road; zwischen den Bäumen war es etwas wärmer, sie hörte das Krachen von Ästen, die vom Wind gegeneinandergeworfen wurden. Am Rand der Fahrbahn lagen ein zerfetztes Reifenstück, später eine zerknüllte Bierdose und die Kartonverpackung eines Hamburgers, noch später das blutige Fellbündel eines überfahrenen Tieres, unmöglich zu bestimmen. Das erste Auto überholte sie erst, als sie die Bufflehead Road schon beinahe erreicht hatte, an der Maggie wohnte: Der Pick-up gehörte einem Lobsterman, der als Drughead bekannt war. Er hupte und tippte, da sie nicht darauf reagierte, auf die Bremse, fuhr dann aber doch weiter, allerdings in wilden Schlangenlinien, sobald er auf der Brücke war. Etwas flog aus dem Fahrerfenster übers Geländer und klatschte ins Meer.

Sie bog auf die Bufflehead Road und fiel in leichten Laufschritt; gewisse Lobsterfischer verstanden keinen Spaß, wenn sie sich zu wenig beachtet fühlten, drehten um und verwickelten einen in unangenehme Gespräche. Der Vorplatz des Hauses mit dem besten Blick auf die Baum Bay war mit Unkraut überwachsen, im Carport stapelten sich Umzugskartons. War das Haus schon wieder verkauft worden? Nebelschwaden trieben übers Wasser, vom Wind in die Bucht gedrückt, von Rackliff Island war nur die Linie der Baumwipfel zu sehen. Die Straße lag still vor ihr, und sie ging jetzt wieder langsamer. Die Plastiktüte schnitt ihr in die Hand, das Gulasch war schwer. Ab und zu hörte sie ein Auto über die Brücke fahren; das Geräusch der Reifen auf dem gerillten Asphalt klang wie eine Spielzeugtrommel aus Blech, die jemand schnell oder langsam schlug, je nach Tempo des Autos.

Maggie saß auf der Veranda ihres hellgrün gestrichenen Hauses; als sie Corinna sah, stand sie auf und winkte, kam ihr aber nicht entgegen. Die Hühner im Drahtverhau, an dem sie vorbeiging, stoben auseinander, das Dach des Toyota Corolla vor dem Schuppen war mit Pfotenabdrücken übersät. In der Wiese lag ein zusammengerollter grüner Gartenschlauch. Corinna blieb vor dem Deck stehen und schwenkte die Tüte mit dem Gulasch hin und her.

»Ich hab dir was zum Futtern mitgebracht.«

»Gutes Mädchen!«

»Du musst jetzt für zwei essen.«

»Mach ich, glaub mir, mach ich. Eher für drei.«

Maggie sah müde aus, ihre roten ungewaschenen Haare waren strähnig.

»Morgens komm ich mir vor, als erwache ich aus einer Narkose. Groggy und völlig erledigt. Komm, setz dich.«

Corinna stieg über die Holztreppe aufs Deck, nahm Maggie in den Arm und setzte sich auf einen der zwei Gartenstühle. Der Boden des Decks war frisch gestrichen, und sie hatte die unangenehme Vorstellung, die Sohlen ihrer Schuhe lösten sich mit leisem Schmatzen.

»Die Müdigkeit gibt sich, glaub mir. Trinkst du genug?«

»Mehr als genug!«

»Und mit der Raucherei hast du aufgehört?«

»Ja!«

»Ganz?«

»Ja, Frau Polizistin! Ganz! Und du?«

»Ich bin nicht schwanger, Maggie. Ich darf rauchen.«

Auf der mit Gaffer-Tape zusammengeflickten Haube des Gasgrills lag ein aufgeschlagenes Buch neben einer Tasse, aus der es schwach dampfte.

»Seit wann kannst du lesen?«

»Ich schau mir nur die Bildchen an. Wie geht es Jake?«

»Bestens. Wie macht sich dein Ray?«

»Schlecht. Er taugt nicht fürs Leben hinter Gittern.«

»Das tut keiner. Wann kommt er noch mal raus?«

»In drei Monaten. Wenn er keinen Scheiß baut.«

»Du bist im siebten Monat, ja?«

Maggie nickte und ließ sich vorsichtig auf den anderen Stuhl sinken, den Bauch mit beiden Händen stützend.

»Dann verpasst er die Geburt von Janis.«

»So ist es.«

»Hast du ihm den Namen jetzt verraten?«

»Einem Kerl, der die Geburt seiner ersten Tochter verpasst, weil er Mist gebaut hat? Spinnst du? Kaffee?«

Sie nickte, half Maggie auf die Beine und folgte ihr ins Haus, obschon sie lieber draußen geblieben wäre; die Fliegengittertür girrte und knallte ihr in den Rücken, als sie zufiel. In der dämmrigen Küche war es warm, die Heizung wahrscheinlich schon eingeschaltet. Maggie nahm zwei Tassen aus dem Schrank, füllte sie mit Kaffee aus der Filtermaschine und stellte sie auf die Frühstückstheke.

»Meine Mutter hat mich Kürbis genannt, bis ich etwa zwölf war. Hattest du auch einen Übernamen?«

»Chnuschti«, sagte Corinna und setzte sich auf einen Barhocker.

»Und das bedeutet?«

»Schwierig zu übersetzen. Komischer Kauz. Komplizierter Mensch. So ähnlich. Hast du Milch?«

Maggie stand auf, nahm eine Plastikflasche Milch aus dem Kühlschrank, trat ans Fenster und gähnte. Die Brotbüchse auf der Ablage stand offen, aber Corinna konnte nicht sehen, ob sie voll war. Das Chillum daneben gehörte hoffentlich Ray, nicht Maggie.

»Mir ist weniger oft übel, dafür schlaf ich schlechter. Viel schlechter. Ist das normal?«

»War bei mir genauso. Meine Füße waren so geschwollen, ich musste orthopädische Schuhe tragen.«

»Sexy!«

»Fand Michael auch. Er hat mir gleich vier Paar gekauft.«

»Ich komm mir vor wie ein verstopfter Walfisch!«

Maggie zog die Gardine auf und sah ins Freie; ein Spaltbreit Licht fiel in die Küche, reichte aber nicht bis zur Theke. An der Scheibe klebte ein Thermometer an einem Saugnapf, dessen Spitze im Licht leuchtete.

»Arbeitest du noch bei Betsy im Café?«

»Sie hat nur noch Freitag und Samstag geöffnet. Der Sommer ist vorbei. Im Mai fang ich wieder bei ihr an.«

»Hast du vom Mord auf der Insel gehört?«

»Ich hab sogar den Schuss gehört, Maggie.«

»Er hieß Rick Cole, sechsunddreißig, Vater von zwei Kindern.«

»Woher weißt du das?«

»Kam eben im Radio. Hat bei Norwood gearbeitet.«

»Hast du ihn gekannt?«

»Nicht wirklich. Ray schon. Er kennt jeden hier auf der Insel. Ich hab Rick zwei, drei Mal gesehen, das ist alles.«

»Hast du eine Ahnung, was passiert sein könnte?«

»Keinen Schimmer.«

»Drogen?«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Haben sie was zum Täter gesagt?«

Maggie schüttelte den Kopf und nahm die Tupperware mit Corinnas Gulasch aus der Tüte.

»Ich sterbe vor Hunger. Isst du mit?«

Die Hummerzange

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