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6 Moonshadow

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Vier Tage später, am 28. September, verschwand ein Mädchen in Owls Head. Jake war bei Corinna, als sie abends davon erfuhren; sie hatten Spaghetti Carbonara gekocht, in der Küche gegessen, mehrere Espressi getrunken und danach die Spülmaschine eingeräumt. Als der Moderator auf Frank 106.9 vom vermissten Mädchen berichtete, lagen sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, plauderten und alberten herum: Die sechsjährige Jane Libby hatte mit ihrer Mutter Kylie deren Eltern in Owls Head besucht. Etwa um 14 Uhr hatte Jane das Haus verlassen, um zu spielen, zehn Minuten später hatte ihre Mutter nach ihr gesehen und festgestellt, dass sie verschwunden war. Sie machte sich, zusammen mit ihren Eltern und einigen Nachbarn, sofort auf die Suche, fand jedoch keine Spur ihrer Tochter. In der Zwischenzeit waren die Polizei und der Sheriff alarmiert und mit Suchtrupps und Spürhunden im Einsatz. Bisher ohne Erfolg.

Corinna stand auf, schaltete das Radio aus, legte Tango in the Night von Fleetwood Mac auf und setzte sich in Michaels früheren Musiksessel.

»Mac-Attac«, sagte Jake spöttisch, »die Lieblingsband aller Frauen.«

»Vermisstenfälle sind das Schlimmste, was du als Polizist erleben musst«, gab sie zurück, ohne auf seinen Scherz einzugehen.

»Kann ich mir denken.«

Sie sah sich in einer Reihe anderer Polizisten ein Feld durchkämmen, als sie noch Streife gefahren war, sah sich verzweifelten Eltern gegenüber vor einer Haustür stehen, sah sich im Rotorenstrudel eines Polizeihubschraubers in einer Wiese kauern, der dicht über ihr schwebte, sah sich heulen vor Erschöpfung und Enttäuschung.

»Die Hoffnung und Ängste der Eltern und Angehörigen haben mich fix und fertig gemacht«, sagte sie.

»Ich muss Ihnen etwas mitteilen.« Wie oft hatte sie diesen Satz im Dienst gesagt und dabei versucht, ruhig, gefasst und kompetent zu wirken?

»Furchtbar, nicht zu wissen, ob jemand, den man liebt, noch am Leben ist oder nicht.«

»Ganz schlimm war es, wenn wir von Spürhunden auf Leichenhunde umstellten.«

»Hast du das erlebt?«

»Einmal, ja. Libby. Komischer Name.«

»Nicht in Maine. Spätestens morgen sind die Freiwilligen da, glaub mir.«

»Die Freiwilligen?«

»Die Anonymen Alkoholiker. Der Frauenbund. Die Methodisten. Die von der Freikirche. Die ehemaligen Drogensüchtigen. Das ist so, hier bei uns in Amerika. Der ganze Zirkus der Hilfsbereiten.«

»Was ist mit der Army?«

»Vielleicht die Reservistenvereinigung, kann sein. Und selbstverständlich die Aasgeier von der Presse. Leg dich wieder zu mir, komm.«

Sie blieb einen Moment auf Michaels Sessel, um Jake nicht das Gefühl zu geben, sie gehorche ihm, stand dann aber auf und schmiegte sich an ihn. Mit Michael hatte sie selten länger geschwiegen, Jake dagegen sagte oft lange Zeit nichts und drängte sie nie, sich ihm andauernd mitzuteilen. Schweigend lagen sie auf dem Sofa, bis sich der Tonarm knackend von der Platte hob und in die Startposition zurückschwenkte.

»Du bist jünger«, flüsterte Jake, »darum müsstest eigentlich du aufstehen und die Platte umdrehen. Andererseits bist du die Frau.«

»Und du der Mann?«

Er gab ihr lachend einen Kuss, löste sich aus ihren Armen und stand auf. Es war kühl im Zimmer und so dunkel, dass sie die Katze, die reglos auf dem Deck vor der Glastür saß und sie mit grün blitzenden Augen starr ansah, erst nach einer Weile bemerkte.

Am nächsten Morgen fehlte noch immer jede Spur von Jane Libby. Es gebe, so der Radiosprecher, keine brauchbaren Hinweise, und die Eltern sowie die Polizei bäten um Hilfe und Unterstützung.

Sie aßen am Küchentisch, Porridge mit einem ungeschälten geraspelten Apfel, Nüssen, Leinsamen, gefrorenen Blaubeeren, die in der warmen Milch sofort tauten und Ahornsirup von der Weskeag Farm, dazu tranken sie Kaffee, den Jake gebraut hatte, weil er es liebte, mit ihrer glänzenden italienischen Caffettiera herumzuhantieren. Der Morgen war verhangen, der Nebel so feucht, dass Corinna glaubte, sie stehe im Nieselregen, als sie aufs Deck hinaustrat und nach der Katze rief. Schließlich gab sie auf, zog die Glastür hinter sich zu, legte Teaser and the Firecat von Cat Stevens auf, setzte sich aufs Sofa und hörte, wie Jake in der Küche die Caffettiera auswusch. Michael hatte ihr die LP zu ihrem fünfzigsten Geburtstag auf einem Flohmarkt gekauft, weil »Moonshadow« eines ihrer Lieblingslieder war. Als Jake sich neben sie setzte, roch er nach der Handseife, die in einem Spender neben der Keramikspüle stand.

»Gibt es Neuigkeiten, was den Erschossenen betrifft?«

Sie schüttelte den Kopf und ließ sich an ihn sinken; er legte einen Arm um sie und streichelte sie abwesend, mit seinen Gedanken offenbar an einem anderen Ort.

»Ich würd mal sagen, er hat mit Drogen gedealt.«

»Gut möglich«, sagte sie, die Lippen dicht am Stoff seines Jeanshemdes.

»Machen viele Fischer. Die meisten.«

»Er war kein Fischer. Er hat im Lager von Norwood gearbeitet.«

»Trotzdem.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

»Verrückt, nicht? Zwei Tote auf einer so kleinen Insel in so kurzer Zeit. Erst Dunbar im Juli und jetzt der Angestellte von Norwood

»Zufall«, sagte sie leichthin und setzte sich gerade hin, »oder glaubst du, ich ziehe das Unglück an?«

»Blödsinn!«

»Sieht doch beinahe so aus!«

»Hast du eigentlich noch Kontakt mit der Frau von Dunbar? Ist sie nicht eine Freundin?«

»Tracy? Von der hab ich nichts mehr gehört, seit sie nach South Carolina zurückgekehrt ist.«

»Und ihr Haus hier auf der Insel?«

»Steht leer.«

Kurz vor zehn begleitete sie Jake zur Haustür und sah zu, wie er auf die Rockledge Road zurücksetzte und dann Richtung Brücke davonfuhr. Sie erwiderte die Kusshand, die er ihr zuwarf und blieb vor der Tür stehen, bis sein Wagen verschwunden war. Der Wind hatte Wolken und Nebel vertrieben, die Blätter der Bäume leuchteten, als seien sie mit kräftigen Lackfarben bemalt worden. Erstaunlich, wie man sich an das Schauspiel der Natur gewöhnte und es als gegeben nahm – als sie Maine das erste Mal im Indian Summer besuchte, hatte sie sich kaum von der Farbenpracht lösen können.

Zurück im Haus ging sie durch die Zimmer im Erdgeschoss und räumte auf, bis ihr bewusst wurde, dass sie sich nur abzulenken versuchte. Sie hatte leichte Kopfschmerzen und verspürte das Bedürfnis, ein letztes Mal dieses Jahr im Atlantik zu schwimmen, am liebsten am kleinen Strand in der Bucht unter dem Leuchtturm am Owls Head.

Die Dublin Road war auf beiden Seiten von Autos gesäumt; ein Polizist in Uniform stand auf der Veranda eines stattlichen Hauses und gab der Menge, die sich auf der Wiese vor ihm versammelt hatte, Anweisungen. Sie fuhr im Schritttempo an einigen Klapptischen am Straßenrand vorbei und erkannte Stapel von Flugblättern, Klebebandrollen, Pappbecher und Thermoskannen.

Der Übertragungswagen eines Lokalsenders parkte auf der Wiese, aber da sein Logo von einer Menschentraube verdeckt wurde, konnte sie nicht erkennen, ob er zu einer Fernseh- oder Radiostation gehörte. Sie nahm die erste Parklücke, die sie sah, und ging zu einem der Tische, um den sich Freiwillige drängten. Auf die Landkarte des Bezirkes, die auf der Tischplatte klebte, war mit rotem Filzstift ein engmaschiges Gitternetz gezeichnet worden. Neben der Karte lagen Listen der verschiedenen Suchabschnitte, in die man sich eintragen sollte, sowie mehrere Stapel Flugblätter. Die Frau, die hinter dem Tisch auf einem Campingstuhl saß und telefonierte, hatte ein Klemmbrett im Schoß und klopfte mit ihren rot lackierten Fingernägeln ungeduldig auf den Tisch. Corinna nahm ein Flugblatt, faltete es zusammen und schob es in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Eigentlich wollte sie gleich wieder ins Auto steigen und losfahren, mischte sich dann aber doch unter die Leute.

»Haben Sie sich schon eingetragen?«

Die Frau, die sie angesprochen hatte, trug eine Rolle Klebband wie einen Armreif am Handgelenk und strahlte sie offen an. Corinna begriff erst nach einer Schrecksekunde, was die Frau meinte, und nickte beflissen.

»Suchen oder kleben?«, fragte die Frau.

»Kleben.«

»Die Flugblätter sind eine Spende vom Samoset Resort, also nicht kleckern, klotzen, wir haben genug davon! Am schnellsten geht es, wenn wir die Angestellten in Tankstellen, Schnellrestaurants, Waschsalons, Galerien und so weiter bitten, die Flugblätter gleich selber an die Tür zu kleben.«

»Mach ich. Klingt vernünftig.«

»Telefon- und Strommasten an Kreuzungen sind perfekt. Aber nicht an Bäume kleben, das gibt Bußen. Der Bus nach Rockland fährt da drüben. Aber nehmen Sie den eigenen Wagen, wenn Sie einen haben. Damit genug Platz ist für die, die darauf angewiesen sind. Ich heiße übrigens Kathy.«

»Corinna. Freut mich.«

»Sie sind aber keine Amerikanerin, nicht?«

»Aus Europa, stimmt.«

»Viel Glück!«, sagte die Frau und ging weiter.

»Danke«, rief Corinna ihr nach und ging zu ihrem Wagen zurück.

Ein Mann mit geschulterter Kamera ging an ihr vorbei, eine junge Frau ließ sich schminken, offensichtlich eine TV-Reporterin. Sie trug Pumps mit Absätzen, dunkle Strumpfhosen und ein senfgelbes Kostüm. Eine Frau verteilte Walkie-Talkies, Hunde bellten. Sie sah Namensschilder auf einem Tisch, mit dem Namen »Jane Libby« bedruckte T-Shirts. Es ging zu wie auf einem Rummelplatz. Die Menschen waren aufgeregt, viele wirkten, als seien sie in einer Art Trance, begierig darauf, zu helfen und etwas Gutes zu tun. Auf einem Tisch unter einem aufgespannten großen Schirm lagen in Plastikfolie eingeschweißte Sandwiches, Chipstüten und Kekse. Auf der Veranda sprach jetzt ein Pfarrer ein Gebet. Nahezu alle Freiwilligen hatten die Hände gefaltet, als er »Amen« sagte, bekreuzigten sie sich. Das Murmeln der Menschen, die auf ihren Einsatz brannten, schwebte über der Szene wie ein unheilvolles Omen, und Corinna ging schnell zu ihrem Wagen zurück. Fahrig zündete sie sich eine Zigarette an, schaltete zerstreut das Radio ein und gleich wieder aus, dann fuhr sie endlich los, ohne noch einmal in den Rückspiegel zu schauen.

Die Hummerzange

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