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17. Abschied von einem Grossen
ОглавлениеNach seinem Schlaganfall im März 1939 erholte sich Bundesrat Motta langsam, aber er musste im Sommer und Herbst längere Kuraufenthalte machen. Am 16. Oktober schickte er Pilet aus dem Hotel Eden in Montreux einen wie immer von Hand geschriebenen Brief. Die oberste Zeile ist etwas verwischt, was Motta zu einem PS veranlasst:
Wollen Sie, s. v. p., den Tintenfleck entschuldigen, den ich hélas! gemacht habe.
Mitte November erlitt Motta einen zweiten Schlaganfall. Auf der linken Seite war er teilweise gelähmt. Nachher musste er im Auto ins Bundeshaus gefahren werden, wo er sich mit Stock und fremder Unterstützung mühsam die Treppe hinaufschleppte. An einer Bundesratssitzung im Januar doziert Motta eine Stunde lang über das eben in Frankreich erschienene Buch «Hitler m`a dit» von Hermann Rauschning. Die Enthüllungen des ehemaligen Danziger Senatspräsidenten über Hitlers Denken, Reden und Handeln sind aufschlussreich – auch wenn Rauschning seine im Buch wörtlich wiedergegebenen «Gespräche mit Hitler» (wie die deutsche Fassung heissen wird) aus dem Gedächtnis sehr frei zusammengefasst hat. Rauschnings Buch ist ein Alarmruf. Der Pariser Germanist und Diplomat Marcel Ray schreibt im Vorwort:
Wenn dieser Mann eines Tages triumphiert, werden nicht nur die Grenzen ändern. Gleichzeitig wird alles verschwinden, das für den Menschen einen Sinn und einen Wert hatte.
Motta empfahl den Kollegen das Buch zur Lektüre, es zeige «die eigentlichen Triebkräfte und Beweggründe des Nationalsozialismus» auf.
Am Ende der Bundesratssitzung vom Freitag, 19. Januar, plaudert Motta angeregt mit den Journalisten: «Nie habe ich mich schwungvoller und munterer gefühlt.» Sein gelber Teint und seine gebrochene Stimme beunruhigten hingegen die Presseleute. Am selben Abend, beim Tischgespräch mit der Familie, wollte der Papa aus seinem Lieblingsgedicht von Giacomo Zanella zitieren, konnte sich aber nicht an die Worte erinnern. Sein Sohn will ihm eine italienische Anthologie holen, doch plötzlich fallen ihm die Zeilen ein. An den Arm seiner Frau geklammert, steigt er zum Schlafzimmer hinauf und wiederholt dabei immer wieder die letzten Worte des Gedichts:
Deh, sia fatto il volere di Dio. (Oh, möge der Wille Gottes geschehen.)
Ein dritter Schlaganfall streckt ihn nieder. Vier Tage schwebt er zwischen Leben und Tod. Seine zehn Kinder wachen am Bett. Am 23. Januar noch vor Morgenanbruch stirbt er. Vor der Bundesratssitzung geht Bundespräsident Pilet-Golaz, begleitet von Bundeskanzler Bovet, zu Frau Motta um ihr sein Beileid auszudrücken.
Um 9 Uhr eröffnet Pilet die Bundesratssitzung mit der traurigen Nachricht. Er würdigt den Toten:
Der Verstorbene wird als leuchtendes Vorbild hingebender Pflichttreue und unbegrenzter Liebe zu seinem Vaterlande in dankbarem Gedächtnis eines jeden Schweizerbürgers fortleben.
In den nächsten Tagen überfluten viele Hunderte von Briefen, Karten und Telegrammen das Haus der Familie Motta im Berner Kirchenfeld. Hermann Obrecht entschuldigt sich bei Frau Motta. Sein Arzt hat ihm verboten, an der Trauerfeier für den «lieben verstorbenen Kollegen» teilzunehmen.
Dabei blieb Herr Motta die Bescheidenheit selber. Als Kollege war er von unwandelbarer Liebenswürdigkeit und Treue.
Philipp Etter versichert Frau Motta, dass das ganze Land um ihren «lieben Gatten», um den «herzensguten Vater», den «treuen edlen Freund» trauert:
Ich kann gar nicht sagen, was ich fühle. Aber Sie können es ahnen. Der liebe Verstorbene ist jetzt im Himmel und segnet seine Familie und betet für das Land, dem er so lange in soldatischer Treue gedient hat, bis zu seinem letzten Atemzug.
Auch unter Ausländern hatte Motta viele Freunde. Der Beileidsbrief des deutschen Gesandten Otto Köcher ist frei von diplomatischen Floskeln:
Mit der Schweiz steht auch mein Vaterland voller Ehrfurcht vor dem Grab eines Staatsmannes, der durch seinen unbestechlichen Charakter, seine Wärme und die Lauterkeit seines politischen Handelns durch Jahrzehnte das Ansehen aller Nationen genoss und als Persönlichkeit gesamteuropäische Bedeutung hatte.
In dieser Stunde des Abschieds ist es mir auch erlaubt, den tiefen Eindruck wiederzugeben, den ich in allen dienstlichen und privaten Unterredungen mit Bundesrat Motta erhalten habe. Die von ihm ausstrahlende Güte und sein ehrliches Wollen schufen in allen unseren Unterhaltungen eine wahrhaft freundschaftliche Atmosphäre. Es gab keine Angelegenheit, in der ich nicht bei Ihrem Gatten aufmerksames Gehör und stete Bereitwilligkeit zur Hilfe gefunden hätte.
Am Freitagmorgen ertönt aus einem Berner Nebengässchen ein Pfiff, und eine Kavallerieschwadron setzt sich in Bewegung. Schweigend schaut die auf dem Bundesplatz versammelte Menschenmenge dem Leichenzug zu. Die Berner Stadtmusik mit rot-schwarzem Federbusch auf der Schirmmütze schlägt die ersten Takte von Chopins Trauermarsch an. Hinter ihr marschieren die Studentenverbindungen mit ihren farbigen Mützen und Bannern, allen voran die katholische. Das Soldatendetachement mit den Kränzen gleicht einem marschierenden Blumenbeet. Durch ihre Grösse und Pracht fallen die Blumentribute des französischen Ministerpräsidenten Daladier und des bulgarischen Königs Boris auf. Ribbentrops Kranz hat ein Hakenkreuz auf der roten Schlaufe.
Auf dem von zwei stämmigen Rossen gezogenen Karren liegt ein einfacher eichener Sarg. «La voilà la vraie grandeur», raunt ein französischer Journalist. Hinter dem Leichenwagen schreiten die Bundesräte und Mottas ehemalige Regierungskollegen Musy, Calonder, Meyer, Häberlin und Schulthess. Es folgen der General allein, die höchsten Schweizer Heerführer, die Mitglieder des Diplomatischen Corps, hinter ihren Weibeln in bunten Kantonsuniformen die Vertreter der Standesregierungen, voran der Tessiner Staatsrat. Zum Klang der Glocken erreicht der Zug die katholische Dreifaltigkeitskirche, vor der behelmte Soldaten in Achtungstellung Spalier stehen. Sechs von ihnen tragen den mit einer Schweizerfahne bedeckten Sarg im rötlichen Schein der Kerzen durch das Kirchenportal.
Die Soldaten legen den Sarg sanft zwischen grünen Pflanzen beim Choreingang nieder. Hinter dem Chor hat man ein kleines Podium errichtet, auf das nun Bundespräsident Pilet-Golaz steigt. Mit einer Stimme, die tönt, als sei sie «in Krepppapier gehüllt», zeichnet er auf Französisch die wichtigsten Stationen von Mottas Laufbahn nach. Motta habe begriffen, dass das Wohl des eigenen Volkes und der Menschheit nur im Frieden liegen könne. Deshalb habe er der Schweiz ihren Platz im neu gegründeten Völkerbund gesichert und dann in Genf eine bedeutende Rolle gespielt:
Seinen Einfluss verdankte er vor allem seinem Charakter, seinem Herzen. Sein Glaube überzeugte ihn davon, dass am Ende das Gute siegen werde. Dieser gleiche Glaube hielt ihn bescheiden. Der Erfolg blendete ihn nicht. Seine Bescheidenheit leuchtete im Bundesrat auf.
Mit seiner einmaligen Erfahrung und seinen reichen Beziehungen hätte Motta eine persönliche Aussenpolitik betreiben können: «Nie hat er dies gewollt. Im Gegenteil, er trug ständig Sorge, in völligem Einklang mit uns zu bleiben.»
Pilet, der annimmt, dass er Mottas Nachfolge im Politischen Departement übernehmen wird, formuliert mit diesen Worten Führungsgrundsätze, die einzuhalten er fest entschlossen ist. Wie sein grosses Vorbild will er keine persönliche Aussenpolitik führen, nur diejenige des gesamten Bundesrats. Auch er will auf den Rat der Kollegen hören und ihre Zustimmung einholen. Die Schweizer Aussenpolitik werde bleiben, was sie war – «Meisterschaft in der Umsetzung ausgenommen» –, wie Pilet nachdenklich hinzufügt. Motta habe sein Departement inspirierend und wachsam geführt:
Pas d’éclats, pas de fracas, pas d’hésitations non plus (keine Skandale, kein Krach, aber auch kein Zaudern). Eine genaue Vorstellung von den Bedürfnissen des Landes, eine aussergewöhnliche Voraussicht der kommenden Entwicklungen. Ein präzises Ziel: Die Unabhängigkeit einer respektierten, wenn möglich geliebten Schweiz. Der feste Wille, sie zu erreichen. Die unvergleichliche Flexibilität der Mittel.
Gegen Ende der Rede überwältigen den Bundespräsidenten seine Gefühle. Nur schwer unterdrückt er ein Schluchzen:
Durch sein so grosszügig liberales Verständnis, durch seine Beherrschung der dreifachen europäischen Kultur, durch seinen Geist der Toleranz und Brüderlichkeit, durch sein demokratisches Ideal war er so etwas wie die zeitweilige Inkarnation des geliebten Vaterlands. Er war für jeden von uns un conseiller, un guide, un ami. Giuseppe Motta ist nicht mehr. Wir trauern um ihn und das Schweizervolk mit uns.
Die Trauergemeinde ist ergriffen. Mit seiner Abdankungsrede hat Pilet sich seinen Landsleuten, vor allem den Deutschschweizern, die ihn wenig kennen, als Redner von Format und umsichtiger Staatsmann vorgestellt. Ausländische Diplomaten, für die ein Eisenbahn- und Postminister wenig bedeutet, werden auf ihn aufmerksam.