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20. Erste Tage als Aussenminister

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Am 1. März teilt der Bundesrat die Departemente für die laufende Amtsdauer neu zu. Wie erwartet übernimmt Pilet das Politische Departement, und Celio ersetzt ihn bei Post und Eisenbahnen. Als Stellvertreter des Aussenministers löst Etter Baumann ab. Auf Antrag Pilets wird noch eine bedeutsame Änderung vorgenommen. Die «Weisungen über die Gestaltung der Radioprogramme», die bisher durch das Post- und Eisenbahndepartement erteilt worden sind, gehen ans Innere über. Man traut dem Neuling und Tessiner Celio die politisch heikle Überwachung vor allem der deutschschweizerischen Radiosendungen offenbar nicht zu. Der ehemalige Journalist Etter ist die gegebene Person.

Die Telefondirektion unter ihrem Chef Muri behält die Zuständigkeit für technische Anlagen, Organisation, Finanzen und Personal des Schweizer Rundspruchs. Muri bleibt Pilets engster Vertrauter in der Bundesverwaltung, auch wenn er ihm nicht mehr unterstellt sein wird. Als eine seiner letzten Handlungen als Postminister empfiehlt Pilet General Guisan einen von Muri abgefassten Bericht zur Lektüre. Er handelt von der Vorbereitung des Telefonnetzes und der Radioinstallationen für den Kriegsfall. Im persönlichen Brief an mon cher Général lobt Pilet Muri als seinen «besten Mitarbeiter»:

Ich sage ohne zu zögern mein bester Mitarbeiter, weil er aussergewöhnlich fähig ist. Man würde in der Bundesverwaltung wenige hohe Beamte finden, die ihm ebenbürtig sind. Er ist sehr offen, sehr franc, von absoluter Loyalität und hat nicht die Gewohnheit zu verheimlichen, was er denkt.

Der 61-jährige Muri hat von seinem scheidenden Chef eine ebenso hohe Meinung wie dieser von ihm. Er schreibt ihm – von Hand und in gewähltem Französisch – einen sentimentalen Abschiedsbrief:

Ich habe, Sie wissen es, das Alter der leichten Emotionen überschritten. Damit Ihr alter Mitarbeiter sich mehr als gewöhnlich belebt und fiebert, müssen schon die tiefen Gefühle ins Spiel kommen, die jeder Mann von Herz im Geheimen in seinem Innern kultiviert. Jetzt, wo Sie im Begriff sind, uns zu verlassen, erlauben Sie mir, Monsieur le Président, die ganze respektvolle Zuneigung, die ich Ihnen entgegenbringe, zu äussern, denn so wird es mir leichter fallen, die tiefe Traurigkeit auszudrücken, die ich beim Gedanken empfinde, nicht mehr Ihren Anordnungen folgen zu dürfen.

Pilet kann sein Departement dem Nachfolger Celio in befriedigendem Zustand übergeben. Die Betriebe des EPED werden von fähigen Leuten geführt und funktionieren gut. Erstmals seit Ausbruch der Wirtschaftskrise schreiben die SBB wieder schwarze Zahlen. Als Eisenbahnminister musste Pilet mit teils horrenden Defiziten kämpfen. Für 1939 war immer noch eines von 37,7 Millionen veranschlagt, doch stattdessen verzeichnet die Bahn dank der «Landi» und dem wegen des Kriegsausbruchs angestiegenen Güterverkehrs einen kleinen Gewinn von 3,5 Millionen. Zum Abschied bedankt sich der scheidende Chef bei Beamten und Angestellten der PTT und der SBB. Durch seine Tätigkeit habe er nicht nur gelernt, die Beamten und Angestellten zu schätzen, «langsam, aber sicher» ist er dazu gekommen, sie zu «lieben».

Wird Pilet im Politischen Departement auf ähnlich fähige und loyale Mitarbeiter wie Dr. honoris causa Muri zählen können? Der mit ihm befreundete Journalist Léon Savary hat seine Zweifel. Er meint, Pilet müsse, um seine wichtige Aufgabe erfüllen zu können, gut sekundiert sein. Dies könne nicht geschehen, ohne dass er neue Mitarbeiter hole:

Bezüglich des Politischen Departements hat man von einem nötigen coup de balai [Reinemachen] gesprochen. Gewisse Persönlichkeiten, deren Unfähigkeit notorisch, erwiesen und offensichtlich ist und die eine Stellung einnehmen, die in keinem Verhältnis zu ihren Eignungen steht, müssen verschwinden.

Savary steht mit dem Chef der Abteilung für Auswärtiges, Pierre Bonna, auf Kriegsfuss. Er hält Bonna für einen übervorsichtigen, folgsamen, pedantischen Beamten, der auf seinem «enormen Hintern» sitzt und wenig Ideen entwickelt.

Bevor er sein neues Amt antritt, stattet Pilet zusammen mit Minger dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Genf einen offiziellen Besuch ab. Dabei wird ein vom IKRK verfasster Aufruf besprochen, der die kriegführenden Staaten auffordert, keine Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung auszuführen. Dann gönnt sich der Bundespräsidenten zusammen mit seiner Frau eine Erholungswoche im «Verenahof» in Baden. Am Samstagabend, 15. März, nimmt das Ehepaar Pilet an einem Unterhaltungsabend der 8. Division teil. Zum Andenken schickt ihm der protestantische Feldprediger Hptm. Pfaff ein selbst verfasstes Gedicht:

Wer schafft am meischte für mys Land? / Wer ischt in Härze wohlbekannt? / Wer will sich heregäh ohni End? / Doch Sie, Herr Bundespresident!

Auch mir im glyche Sinn und Trab / Lönd nüd vo eusem Ländli ab. / S’ischt euseri Liebi, wo nüd laht / Und immer wider uferstaht.

Und jede Ma und jede Sohn / In üisere 8. Division / Staht da mit Lyb und Bluet und Muet / und duckt si vor kem Gesslerhuet.

So simmer, meini, alli glych / Herr Bundespresident, Sie und ich / Und de Herr Oberschtdivisionär / Und all die Herre chrüz und quer.

Gwüss, Eine muss de Oberscht sy / So ischs i de Demokratie. / Doch au der Underscht seigi glych / I Heimetliebi starch und rych.

Und chlöpfts emal, so simmer da, / Alli Söhn vo der Helvetia./ Für eusri Muetter treu und guet / Z’bizahle mit em rote Bluet.

Bhüet s’Hergotts Allmacht ohni End / Sie, euse Bundespresident. / Und Bundesrat und Volch un Heer / Und euseri uralt Schwyzerehr!

Haben Monsieur und Madame Pilet die gut gemeinten Verse in Luzerner Dialekt verstanden?

Am Montag, 18. März, nimmt Pilet seine Arbeit im Politischen Departement auf. Bestrebt, sich über alles Wichtige auf dem Laufenden zu halten, liest er einen 20-seitigen (französisch geschriebenen) Bericht des «Politischen Informationsdiensts», der beginnt:

Seit dem 30. November, Datum der russischen Aggression gegen Finnland, hat sich keine Ausweitung der Feindseligkeiten ereignet. Drei Kriege bleiben im Gange: der erste zwischen Deutschland einerseits, dem britischen Reich und Frankreich andererseits, der zweite zwischen der UdSSR und Finnland, der dritte zwischen China und Japan.

Wie die Bleistiftstriche am Rand belegen, hat der neue Aussenminister den Text genau gelesen. In der Schlusszusammenfassung «am Ende des sechsten Kriegsmonats» streicht sich Pilet einige Punkte speziell an:

1.Zwischen den Alliierten und dem Reich Belagerungskrieg, immer engerer wirtschaftlicher Kampf, manchmal heftige Feindseligkeiten in der Luft und zur See. Die Vorbereitungen – Rekrutierung von Soldaten, Fabrikation von Kriegsmaterial, Kauf von Munition, Verstaatlichung der grossen Transport- und Produktionsmittel – setzen sich in immer schnellerem Rhythmus fort. Der wahre Krieg hat noch nicht begonnen …

4.Die Stellung Italiens, die für die Schweiz von grosser Bedeutung ist, nimmt einen rätselhaften Aspekt an, dessen «warum» schwer zu erkennen ist. …

6.Die Stellung der Neutralen verschlechtert sich, sei es, weil sie direkt bedroht sind, sei es, dass ihre Eigenschaft als Neutrale bestritten oder beschimpft wird, sei es schliesslich, dass ihnen irreparablen Schaden zugefügt wird. Sie sind eingeklemmt zwischen den totalitären Staaten, die die folgende Argumentation vertreten: der totale Krieg bedeutet auch totale Neutralität (politische, wirtschaftliche, moralische); und den demokratischen Staaten, welche die Enthaltung nur schwer ertragen, da sie die Wirkung der Blockade kompromittiert, und die entschlossen sind, in der Welt von morgen das Konzept der Neutralität verschwinden zu lassen (europäische Föderation, wovon die französisch-britische Union der Prototyp ist). …

8.Die neuralgischen Punkte bleiben dieselben: Belgien und die Niederlande im Westen; Schweden im Norden; Rumänien im Südosten; Türkei im Nahen Osten.

Das Exposé ist eine nüchterne, leidenschaftslose Analyse. Gezeichnet ist der «Berne, le 28 février 1940» datierte Bericht nicht. Im Departement kennt man den Autor, einen Mann von hoher Bildung und reicher internationaler Erfahrung: Daniel Secretan, Jahrgang 1895, Literaturstudium an der Uni Lausanne, zehn Jahre Legationsattaché im EPD, französischsprachiger Sekretär des Ständerats und dann von 1929–1939 Generalsekretär des IICI (Internationalen Instituts für geistige Zusammenarbeit) in Paris, das nach dem Krieg als Unesco neu auferstehen wird. Motta hat ihn als Direktor der Sektion für internationale Vereinigungen ins Departement geholt.

Tags darauf liest Pilet einen Brief von Georges Wagnière, der die Schweiz von 1918 bis 1936 als Minister in Rom vertreten hat. Im Brief zitiert Wagnière warnend aus der ersten Rede, welche der junge faschistische Abgeordnete Benito Mussolini 1921 im Parlament hielt. Darin hat der spätere Duce die «deutsche Durchdringung» des «bastardisierten und germanisierten» Kantons Tessin kritisiert und den Gotthard als «die reale und sichere Grenze Italiens» bezeichnet. Als Mussolini dann ein Jahr später Ministerpräsident wurde, habe Wagnière seinem ersten Treffen mit ihm mit mulmigen Gefühlen entgegengesehen. Mussolini habe sich dann aber äusserst freundlich gezeigt und auch bei späteren Audienzen immer wieder seine «völlige Loyalität» gegenüber der Schweiz betont. Er habe unser Land als die «beste Freundin Italiens» gelobt. Oft habe Wagnière sich mit Mussolini über den «Irredentismus» unterhalten:

Er stimmte mit meinen Ansichten überein, «vorausgesetzt», wie er einmal sagte, «dass der Tessin sich nicht germanisiere». Ich hatte einige Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass diese Gefahr illusorisch sei.

Wagnières Brief schliesst mit warnenden Worten:

Ich füge hinzu, dass die Gefühle des Duce und der regierenden Kreise sich mit den Ereignissen ändern können. Italien legt Wert auf unsere Freundschaft und unsere Integrität, solange wir entschlossen und fähig sind, uns gegen andere Nachbarn zu verteidigen.

In seiner Antwort an Wagnière schreibt Pilet:

Seien sie versichert, dass ich die Gefühle des feurigen Abgeordneten [Mussolini damals] nicht vergessen werde, wenn ich mir zu den Erklärungen des Regierungschefs [Mussolini heute] meine Gedanken machen werde.

Mussolini habe in den letzten Jahren unserem Land gegenüber seine «sehr lebhafte Sympathie» bekundet. Zweifellos hätten die Veränderungen in Europa ihn von der Notwendigkeit unserer Neutralität und Unabhängigkeit überzeugt:

Aber selbstverständlich bedeuten Worte und Beteuerungen nichts, wenn sie nicht von genügenden Machtmitteln gestützt sind. Dies ist eine elementare Wahrheit, die mich immer überzeugt hat und die mich gegenüber grossen verbalen Beteuerungen universeller Brüderlichkeit skeptisch gemacht hat.

An seinem dritten Tag im neuen Amt erhält Pilet Besuch vom deutschen Gesandten Köcher, der in seinem Telegramm ans Auswärtige Amt in Berlin die Begegnung zusammenfasst:

Ich verwies Pilet-Golaz sodann auf unsere bekannten Beschwerden, namentlich auf Haltung schweizerischer Presse. Er meinte, dass er als Welschschweizer deutschen Wünschen gegenüber eher Entgegenkommen zeigen könne als ein deutschschweizerischer Kollege, dem eine derartige Haltung viel leichter verdacht [übelgenommen] würde. Bundespräsident unterstrich sein Bestreben, schweizerische Neutralität mit allen Mitteln zu wahren. Ich wies ihn auf umlaufende Gerüchte hin, wonach schweizerische Armee gewisse Verabredungen mit Franzosen getroffen habe. Pilet erwiderte darauf sehr nachdrücklich, er habe sich bei Antritt seines Amtes als Bundespräsident Anfang Januar sehr genau über bisherige Massnahmen Armeestabes orientieren lassen. Es bestünden keinerlei Verabredungen, gegen die Deutschland irgendwelche Einwendungen erheben könne.

Sagt Pilet Köcher hier die volle Wahrheit oder die relative Wahrheit, so wie sie ihm damals als Bundespräsident bekannt war? Was oder wie viel wusste er von den von Hptm. Barbey in Guisans Auftrag mit der französischen Armeeführung geführten geheimen Gesprächen und den zwischen schweizerischen und französischen militärischen Stellen getroffenen Vorbereitungen für den Fall eines deutschen Angriffs auf die Schweiz?

Köcher in seinem Telegramm weiter:

Er [Pilet] wolle nicht abstreiten, dass persönliche Beziehungen schweizerischer Offiziere zu französischen Offizieren bestünden. Dasselbe sei jedoch auch auf deutschschweizerischer Seite der Fall, insbesondere gingen Sympathien des schweizerischen Generalstabs vielfach nach deutscher Seite hin. Er nannte in diesem Zusammenhang Oberstkorpskommandant Labhart und Oberstdivisionär Bandi. Im übrigen betonte Pilet mit grosser Bestimmtheit, dass schweizerische Politik nicht von Militär, sondern von verfassungsmässig dazu eingesetzter Zivilgewalt gemacht werde. Jede Entscheidung in dieser Hinsicht liege ausschliesslich beim Bundesrat.

Zuhanden seiner Vorgesetzten an der Wilhelmstrasse fügt Kocher hinzu:

Mitteilungen des Bundespräsidenten trugen Charakter amtlicher Versicherungen, an deren Zuverlässigkeit ich nicht zweifle.

Otto Köcher, 1884 in St. Louis geboren und in Basel zur Schule gegangen, versteht die Schweiz. Er ist 1912 in den Auswärtigen Dienst eingetreten und war zwischen 1918 und 1923 Konsul in St. Gallen und Legationsrat in Bern. Nach den Stationen Berlin, Mexiko, Barcelona wurde er 1937 Nachfolger Weizsäckers als Gesandter in Bern. Köcher ist ein aufrechter, zuverlässiger, genauer, deutsch denkender Diplomat alter Schule. Wie viele seiner Kollegen aus der Kaiser- oder Weimarerzeit misstraut er dem Nationalsozialismus.

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