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16. Gäste aus West

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Am 6. Januar nimmt Bundespräsident Pilet das Beglaubigungsschreiben des neuen britischen Gesandten David Victor Kelly (später Sir David Kelly) entgegen. Kelly hat auf Posten in Argentinien, Portugal, Mexiko, Belgien, Schweden, Ägypten und zuletzt im Foreign Office in London reiche diplomatische Erfahrung sammeln können. Die Schweizer Gesandtschaft in London beschreibt ihn als einen «der liebenswürdigsten Beamten des Foreign Office». Minister Kelly ist irischer Herkunft und Katholik. Die Schweiz kennt er gar nicht, aber er erklärt sich glücklich, in ein geschichtsträchtiges Land zu kommen, «dessen hohe Zivilisation und Hingabe an humanitäre Werke seiner Freiheitsliebe gleichkommen». Kelly wird in den nächsten beiden Jahren viel mit Pilet zu tun haben.

Als Bundespräsident verfasst Pilet Spendenaufrufe für Hilfswerke wie Pro Infirmis. Zeitungen und Zeitschriften wünschen von ihm Beiträge. Meist muss er aus Zeitgründen absagen. Immerhin schreibt er einen kleinen Aufsatz für L’écolier romand, in dem er sich an die eigene Jugend erinnert – lang ist’s her. Als vieux monsieur will er – keine Angst! – nicht moralisieren, sondern fordert die Kinder auf, im Schnee zu spielen und sich des Lebens zu freuen.

Ein Bundespräsident wird mit Briefen von Unbekannten überhäuft, die Ratschläge geben, kritisieren oder etwas von ihm wollen. Er verwaltet eine aus einer privaten Spende gespeiste Schatulle zur Unterstützung von notleidenden Bittstellern und muss abklären, ob diese einen Zustupf verdienen oder nicht. Pilet hat dies schon 1934 gewissenhaft getan.

In der ersten Januarwoche 1940 erhält der Bundespräsident ein Empfehlungsschreiben von André Siegfried, einem namhaften französischen Soziologen und Historiker, der später ein Standardwerk über die Schweiz verfassen wird. Siegfried kennt Pilet von früheren Begegnungen. Er bittet ihn, James Hyde, einen seit Jahren in Frankreich lebenden Amerikaner, zu empfangen. Hyde, «der Beste unter den Amerikanern und auch der Beste unter den Franzosen», habe «in den kulturellen Beziehungen zwischen Europa und Amerika eine beträchtliche Rolle gespielt». So stellte der Multimillionär – Mehrheitsaktionär der Equitable Life Assurance Society, der von seinem Vater gegründeten zweitgrössten Versicherungsfirma der USA – im Weltkrieg sein Pariser Haus dem Roten Kreuz zur Verfügung und fuhr selber Ambulanzen, wofür er mit dem Grosskreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde.

Nach seinem Treffen mit Mr. Hyde schreibt Pilet vertraulich an Minister Stucki in Paris:

Der Eindruck, den er [Hyde] mir gemacht hat, ist exzellent. Er ist sogar zu gut und dies ist der Grund, wieso ich Ihnen schreibe. Er hat ein sehr grosses Interesse für unser Land gezeigt und hat sich über die Dinge und besonders die Leute von drüben mit einer Freimütigkeit geäussert, die mich erstaunte. Er scheint eine gewisse Zeit in der Schweiz verbringen zu wollen. Er hat angedeutet, dass er mich wiedersehen möchte. Er ist gar noch weiter gegangen: Er hat sich auf eine gewisse Weise mir zur Verfügung gestellt. Daher möchte ich von Ihnen nähere Auskunft über ihn. Ist er ein ehrlicher Mensch – nicht materiell, aber moralisch? Ist er loyal, sicher? Und auch vorsichtig? Ist er in seinem Herzen Amerikaner oder Franzose oder beides? Ist er in völlig persönlicher und privater Eigenschaft in der Schweiz? Ich sage nichts mehr. Sie werden verstanden haben. Merci zum Voraus.

Stucki wird verstanden haben. Will Hyde als inoffizieller Abgesandter der amerikanischen oder der französischen Regierung über die Möglichkeit einer Schweizer Friedensmission sondieren? Im Verlauf der nächsten Jahre werden immer wieder ausländische Persönlichkeiten zu Pilet kommen, deren wirkliches Ansinnen nicht klar ist, die ihn jedenfalls aushorchen möchten. Es gilt, auf der Hut zu bleiben.

Es wird sich herausstellen, dass James Hyde ein ehrlicher Freund ist, der in Genf das IKRK materiell unterstützt. Ein paar Monate später (März oder April) wird der Bundespräsident an einer Einladung der amerikanischen Gesandtschaft erneut Mr. Hyde treffen. Man redet über den zu erwartenden Kriegsverlauf, die Maginot-Linie und die Widerstandskraft der Franzosen. Darauf soll Pilet plötzlich eingeworfen haben: «Ich glaube nicht an diese Widerstandskraft. Innerhalb von drei Monaten werden die Deutschen in Paris sein, aber der Krieg wird noch Jahre weiter dauern.» Betretene Stille. Für den Rest des Essens schneidet Mr. Hyde den Bundesrat. Nach dem Krieg wird der Millionär Alt-Bundesrat Pilet-Golaz ein Telegramm schicken; «You were right and I was wrong.» Als das Ehepaar Pilet 1946 nach Amerika reist, wird es von Hyde zu sich eingeladen und fürstlich bewirtet.

Pilets Prognose über eine rasche französische Niederlage widerspricht der Lagebeurteilung von fast allen massgeblichen Politikern und Militärs in Frankreich und England. Selbst die deutschen Heerführer glauben lange Zeit nicht an den Erfolg der von ihnen vorbereiteten Offensive. Bloss Hitler ist siegesgewiss.

Jules Romains – Verfasser der Romanreihe «Les Hommes de bonne volonté», des Erfolgsstücks «Docteur Knock», Präsident des PEN-Clubs – ist auf Vortragstournee in der Schweiz. Im Saal sitzt auch der Bundespräsident. Romains kennt Pilet ein wenig, schätzt ihn als «soliden Geist, zutiefst ein Freund Frankreichs, ganz von unserer Kultur imprägniert». Am Ende des Vortrags sagt Pilet zu ihm: «Kommen Sie mich morgen besuchen, wir können dann plaudern.» Tags darauf geht Romains ins Bundeshaus. Der Bundespräsident fragt seinen Gesprächspartner über alles Mögliche aus, besonders über Romains’ persönliche Einschätzung der Zukunftsaussichten. Nachdem er dem Schriftsteller nachdenklich zugehört hat, sagt Pilet:

Ich bin überzeugt – notez-le bien –, dass Frankreich und Grossbritannien schliesslich den Sieg erringen werden. Übrigens wäre das Gegenteil für uns alle so schrecklich, dass man gar nicht daran zu denken wagt … Ja … Aber ich bin nicht sicher, ob eure Regierung sich eine richtige Idee über die Lage macht. Für uns ist es schwierig, sie auf dem offiziellen Weg zu warnen.

Romains bittet Pilet um eine nähere Erklärung. Er garantiert ihm, dass seine vertraulichen Mitteilungen nicht verloren gehen werden. Er werde davon auch keinen indiskreten Gebrauch machen. Darauf Pilet:

«Eh bien! Ich habe den Eindruck, dass ihr in Frankreich euch über die Haltung Hitlers ziemlich schwer täuscht. Ihr scheint zu glauben, dass er die Dinge in die Länge zieht, weil er nicht entschlossen ist, die Partie à fond zu beginnen. In der Lage, in der wir uns befinden, haben wir Informationsquellen, die ihr nicht habt. Glauben Sie mir, es ist sehr ernst. Die Nazis bereiten sich voll und ganz vor. Sie ziehen Streitkräfte und Mittel zusammen, von denen ihr keine Ahnung habt. Persönlich bin ich sehr beunruhigt. Noch einmal, ich will nicht am Endsieg zweifeln. Aber ihr wollt doch nicht, dass er sich sehr spät einstellt, vielleicht erst nach schrecklichen Niederlagen, nicht wahr?»

Zurück in Paris, ersucht Romains den mit ihm befreundeten Ministerpräsidenten Daladier telefonisch um eine Unterredung. Weil dieser gerade im Parlament beschäftigt ist, bittet er Romains, vorerst mit X, seinem aussenpolitischen Berater, zu reden. Der Schriftsteller geht zu X, um ihn über Nachrichten von «auschlaggebendem Interesse» zu informieren. Doch X lässt ihn gar nicht erst zu Wort kommen und meint:

Hitler weiss, dass er verloren ist. Er fragt sich einzig, wie er fallen wird. Es ist sehr wohl möglich, dass er das Spiel einer Offensive mit grossem Orchester spielt, wobei er in Flammen aufgehen wird. Etwas sehr Wagnerianisches …

X erzählt Romains, dass Hitler kürzlich vor der holländischen Grenze einen riesigen Zusammenzug von Panzern und Fahrzeugen inspiziert habe. Ein Desaster sei es gewesen, Wagen seien stecken geblieben oder explodiert, an Brennstoff habe es gemangelt, ein allgemeines Chaos habe geherrscht. Auch für eine «Pseudo-Offensive» brauche Hitler zuerst noch ein paar Hauptproben! X, der wichtige Berater Daladiers, ist siegesgewiss. Romains solle sich doch von seinem Gespräch mit «dem braven Staatschef», der vielleicht Bauchweh habe, nicht demoralisieren lassen. Drückt ihm die Hand und verabschiedet ihn.

Jules Romains, inzwischen in die Académie française gewählt, wird die Geschichte 1954 in der Aurore erzählen und Alt-Bundesrat Pilet-Golaz einen Durchschlag des Artikels schicken. Es ist leicht zu erraten, bei wem es sich um Romains’ mysteriösen X handelte. Es war Alexis Leger, Generalsekretär im Quay d’Orsay und dort der eigentliche Aussenminister. Der damals engste Vertraute Daladiers schrieb unter dem Pseudonym «Saint-John Perse» Gedichte. 1960 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Verständlich, dass Romains den Namen seines Schriftstellerkollegen nicht preisgab. Eingeweihte werden ihn erraten haben.

Am 23. Januar 1940 empfängt der Bundespräsident den Sonderkorrespondenten der viel gelesenen Daily Mail George Ward Price. Der prominente Journalist hat Hitler und Mussolini beide mehrmals interviewt und gewann von ihnen anfänglich einen positiven Eindruck. Nach München revidierte er seine Meinung. Pilet benützt die Gelegenheit, um der englischen Öffentlichkeit den Schweizer Standpunkt zur internationalen Lage verständlich zu machen. In seinem Artikel erklärt Ward Price seinen Lesern, wie sich die einzigartige Schweizer Neutralität von derjenigen anderer Staaten unterscheide und wie sie tief in den Herzen aller Schweizer verwurzelt sei. Er zitiert «M. Pillet-Golaz» [sic!]:

«Von welcher Richtung aus auch immer ein Versuch unternommen werden könnte, Druck auf die Schweiz auszuüben, würden wir ihm bis zum Äussersten unserer Kraft, die nicht gering ist, entgegentreten. Auf diese Weise sind wir ein Faktor des Friedens und der Stabilität im Herzen Europas, denn alle Nachbarn der Schweiz sind gewarnt, dass unser Volk jedem Versuch widerstehen würde, unser Gebiet zum Zwecke eines Angriffs auf ein anderes Land zu benutzen.»

Die Schweizer, schreibt Ward Price weiter, begriffen, dass auch sie in Kriegszeiten wirtschaftliche Entbehrungen auf sich nehmen müssen. Jetzt versuche Grossbritannien ein neues Handelsabkommen mit der Schweiz auszuhandeln, das «vorübergehende Unannehmlichkeiten» überwinden soll. Der «Schweizer Präsident» erklärt seinem Gesprächspartner, dass die alliierte Blockade, wenn sie aus Angst «die Kriegsbedürfnisse Deutschlands zu erfüllen», die Versorgung unserer Fabriken verhindere, diese stillstehen würden. Es käme zur Arbeitslosigkeit mit all ihren Übeln. Pilet wörtlich:

«Wir wollen aus dem Krieg keinen Profit ziehen, wir wollen bloss unseren normalen Handel aufrechterhalten. Das Problem, wie das nationale Interesse der Schweiz mit den nationalen Interessen der Alliierten, welche die Welthandelswege kontrollieren, zu vereinbaren ist, ist die Frage, die hier in Bern zwischen britischen Wirtschaftskommissionen und Vertretern der Schweizer Regierung diskutiert wird.»

Das Gespräch mit den englischen Journalisten führte Pilet auf Französisch. Zu dieser Zeit ist Französisch immer noch die einzige Diplomatensprache. Die Zahl der Schweizer, die der englischen Sprache mächtig sind, ist verschwindend klein. Keiner der sieben Bundesräte kann Englisch. Ward Price schickt den Entwurf zu seinem Artikel Pilet, der ihn vom Politischen Departement übersetzen lässt und dann autorisiert.

Das Interview, das Pilet am Nachmittag jenes 23. Januars mit dem englischen Journalisten führt, ist seine geringste Sorge. Er hat zuvor eine traurige Nachricht erhalten und nachher eine bedrückende Bundesratssitzung geleitet.

Staatsmann im Sturm

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