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11. Ein Elefant im Porzellanladen

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Trotz Krieg in Europa nimm die Schweizer Innenpolitik scheinbar ihren gewohnten Lauf.

Nach Konsultation massgeblicher Politiker aus allen Parteien hatte der Bundesrat kurz nach Kriegsausbruch beschlossen, dass die Parlamentswahlen vom 29. Oktober normal stattfinden sollen. Im Vorfeld dieser Wahlen diskutierten die Parteigewaltigen in den Kantonen über einen politischen Waffenstillstand. Zu stillen Wahlen kommt es in neun Kantonen, darunter in Pilets Waadt. Umkämpft bleiben vor allem Genf und Zürich. Im September schlossen die Sozialdemokraten den Genfer Volkstribun Léon Nicole aus der Partei aus, weil er nach dem Hitler-Stalin-Pakt weiter den Kurs Moskaus verteidigt. Die meisten Sozialisten in Genf und der Waadt schlossen sich der von Nicole neu gegründete Fédération socialiste suisse (FSS) an.

Als am 29. Oktober 1939 die Stimmen gezählt werden, bleiben grössere Überraschungen aus. Gottlieb Duttweilers Landesring gewinnt je einen Sitz in Bern und Zürich und kommt auf 9 Mandate. Die Kommunisten verlieren ihre zwei Sitze, die Frontisten ihren einen. Die FDP mit 50, die SP – die vier Sitze an Nicoles FSS abgeben muss – mit 45, die KK mit 43 und die BGB mit 22 Nationalratsmandaten bleiben die stärksten Parteien. Die Schweiz ist ein stabiles Land. Weltpolitische Erdbeben können die Parteienlandschaft nicht erschüttern.

Am 3. Dezember ist das Volk an die Urnen gerufen, um über ein Gesetz zu urteilen, das die Löhne des SBB-Personals und die Sanierung seiner verschuldeten Pensionskassen regelt. Das «Verständigungsgesetz», wie Bundesrat, Parteien und Gewerkschaften es gerne nennen, wurde im Juni von beiden Kammern mit jeweils einer einzigen Gegenstimme angenommen. Nach enorm zähen Verhandlungen zwischen Bundesrat und Personalverbänden hatte ein Kompromiss dem Streit um den vom Bundesrat verhängten Lohnabbau, der seit dem Ausbruch der Krise vor sieben Jahren das Klima zwischen Regierung und Bundespersonal vergiftete, ein Ende gesetzt. Betroffen von der Lohn- und Pensionskassenfrage sind in erster Linie 29 000 Eisenbahner. Ihr «General», Robert Bratschi, handelte mit Pilet den Kompromiss aus. Das Gesetz ist Bratschis und Pilets Kind.

Trotz der Einmütigkeit in den Räten war damit gerechnet worden, dass das Referendum gegen das Gesetz ergriffen würde. Eines jedoch hatten weder Bundesrat noch Verbandsführer vorausgesehen: die Form, die der Abstimmungskampf annehmen würde. Eine Gruppe von 22 nicht parteigebundenen Bürgern, die sich «Bund der Subventionslosen zur Erhaltung der freien Wirtschaft» nennen, sammelte Unterschriften und startete eine Werbekampagne, wie die Schweiz sie noch nie gesehen hatte.

Die führenden Figuren im Aktionskomitee waren, was man «Erzliberale» nennen könnte: der Unternehmer Christian Gasser, der Reklameberater Bolliger – «dem schon recht nette Anzeigen für duftende Zigaretten, unschädliche Kaffeebohnen und angenehmes Rasieren gelungen sind» –, der PR-Mann Robert Eibel, nach dem Krieg berühmt für seine «Trumpf Buur» Inserate, und Pierre Béguin.

Die Wege von Pilet und des 13 Jahre jüngeren Pierre Béguin – nach dem 2. Weltkrieg Chefredaktor der Gazette de Lausanne und später Verwaltungsratspräsident der Depeschenagentur SDA – werden sich bis ans Lebensende Pilets kreuzen.

Béguin wuchs als Sohn eines Apothekers in La Chaux-de-Fonds auf und studierte in Genf und Wien Juristerei. Er ist Bellettrien. Die Leidenschaft des beleibten, fast 1,90 m grossen Manns gilt der Musik, er ist ein begabter Pianist, liebt Mozart. Der Kunst und Literatur zugetan, liest er Rilke und Thomas Mann, kann gut Deutsch. In der Wiener Schlosskirche heiratete er eine Österreicherin aus guter Familie, versuchte sich in Genf lustlos als Anwalt und schlitterte per Zufall in den Journalistenberuf. Man muss ja leben, er hat jetzt Frau und Kind. Als ihm der Besitzer der La Suisse die Korrespondentenstelle in der Bundesstadt anbot, zog er mit Familie nach Bern an die Morillonstrasse. Um ein Zubrot zu verdienen, aber auch aus politischer Überzeugung, verdingte er sich als Polemiker für Zürcher Finanz- und Wirtschaftskreise beim «Bund für Volk und Heimat», später beim «Redressement national». Er schrieb Brandartikel gegen das Getreidemonopol, die AHV, die Richtlinienbewegung, die Gewerkschaften und gegen Gewerkschaftsführer wie Bratschi. Béguin ist zudem Korrespondent für die katholische Freiburger Zeitung La Liberté und stand Bundesrat Musy nahe, der ihn als liberalen, antietatistischen, antibürokratischen und antikommunistischen Gesinnungsgenossen schätzte. In La Suisse verteidigt Béguin Pilet, wenn dieser sich für Liberalismus, die freie Wirtschaft, die Landesverteidigung und den Föderalismus einsetzt, und greift ihn an, sobald er als Mitglied des Bundesrats Staatseingriffe ins Wirtschaftsleben, Subventionen und Steuererhöhungen vertritt.

Pilet erfuhr erst im September, dass Béguin einer der Motoren des Referendumskomitees gegen das Beamtengesetz ist. Zuerst nahm man im Bundeshaus die Gegner des von von allen Parteien gebilligten Gesetzes nicht ernst. Wer sind schon diese politischen Aussenseiter, die gegen den Staat als «ungeheure Ausbeutungsmaschine» wettern?

Nach Zustandekommen des Referendums brüsteten sich die «Subventionslosen» in einem ganzseitigen, vor allem in der NZZ geschalteten Inserat:

Gross ist die Enttäuschung im Lager der Eisenbahngewaltigen! Es war doch alles so fein eingefädelt gewesen: der Bundesrat hatte alle Forderungen von Herrn Nationalrat Bratschi bewilligen müssen, wollte er das Finanzprogramm in der Volksabstimmung nicht gefährden, und vom Parlament hatte man auch den Segen.

Dann sei die Wendung gekommen, aber nicht von den «zahlreichen Handels- und Industrievereinen, sondern wie gewöhnlich von den «Kleinen und Unbekannten»:

Die Referendumsaktion ist ein Sieg des Volkes über die parlamentarischen Winkelzüge; sie ist ein Beweis dafür, was möglich ist, wenn sich einige wenige unerschrockene Bürger für eine gerechte Sache ins Zeug legen.

Es folgte eine Serie von weiteren Grossinseraten, in denen der erwachte «schlafende» Elefant – ein auf dem Rücken liegendes Elefäntchen ist die Signatur des Aktionskomitees – gegen die «Pensionskassenmilliarde» vom Leder zog. Immer wieder wurde dieselbe einfache Botschaft dem Leser in den Kopf gehämmert: Die Schweiz kranke an Staatsverschuldung – genannt wird die «astronomische Zahl von über 10 000 Millionen». Hauptübel seien die Verstaatlichung, der Bürokratismus, die Subventionen «und letzten Endes das Versagen der Elite!» Unsinnige Steuern brächten die Fleissigen, Intelligenten und Tatkräftigen um die Früchte ihrer Arbeit. Man habe dem Volk eingeredet, die Verstaatlichung der Eisenbahnen wäre ein Segen und jetzt seien «die Bundesbahnen ein Mühlstein an seinem Hals». Obschon die SBB längst konkursreif seien, «schanzt sich das Bundespersonal Vergütungen zu, die weit über jenen der schweizerischen Maschinenindustrie stehen».

Unablässig wiederholte der schlafende Elefant seine einfache Botschaft:

Das Bundespersonal ist zeit seines Lebens frei von Arbeitslosigkeit und materiellen Sorgen, und ausgerechnet diese Leute, die am besten für ihr Alter vorsorgen könnten, verlangen heute vom Volk, dass es das Milliardendefizit in den Pensionskassen übernehme.

In einer Karikatur auf der Titelseite von Béguins Bulletin Commercial sitzt ein bequemer Herr mit Eisenbahnermütze auf einem aus den Buchstaben «m i l l i a r d» gebildeten Sofa – mit einer langen Zahl 1 als Lehne – und liest mit übereinander-geschlagenen Beinen seine Zeitung. Legende: «1 Milliarde für die Pensionierten des Bundespersonals? Nein.» Ein Nein in ganz dicken Buchstaben.

Béguin polemisiert in seinem Blättchen besonders vehement gegen «General Bratschi», «vor dessen Wort im Departement Pilet und in der Bundesversammlung manche sonst so stolze Säule umfällt». Bratschi wehrt sich geschickt gegen die demagogischen Angriffe Béguins. Auch Pilet leistet seinen Teil. Den ihm nahestehenden welschen Journalisten erklärt er die historischen Umstände und die versicherungstechnischen Fehlrechnungen, die kurz nach dem Weltkrieg zur Schaffung zweier insolventer Pensionskassen für Bundesangestellte führten.

Wegen der Mobilmachung finden wenig Abstimmungsveranstaltungen statt. Pilet, der 1935 mit zahlreichen starken öffentlichen Auftritten mithalf, der Wehrvorlage seines Freundes Minger zum Sieg zu verhelfen, beschränkt sich auf eine Versammlung, natürlich in seinem Lausanne. Er erklärt dem Publikum im «Métropole», wieso die von den Gegnern ins Feld geführte «Milliarde» eine «Phantommilliarde» sei. Das durch die längere Lebensdauer und die tiefer als erwarteten Zinsen entstandene technische Defizit der beiden Versicherungskassen sei kleiner.

Wenn das Schweizervolk das Gesetz ablehnt, wird es nicht davon entbunden, die 600 Millionen für die Pensionskassen zu bezahlen, denn es handelt sich um eine formelle Verpflichtung der Eidgenossenschaft. Wenn man glaubt, dass der Staat die 1919 eingegangen Versprechen brechen kann, begibt man sich auf einen gefährlichen Weg.

Unendlich wichtiger als die paar Millionen, die der Bund für die Kassensanierung ausgeben müsse, «sei die ehrliche Mitarbeit des Staatspersonals, um die zunehmend schwieriger werdenden Aufgaben, die sich aus dem Kriegszustand ergeben, zu einem guten Ende zu führen.» Langer Applaus am Ende der «glänzenden Schlussworte» (Gazette), und dann darf sich das Publikum einen langweiligen Film anschauen, der die von den Bundesbeamten auf den verschiedensten Gebieten geleistete tüchtige Arbeit illustriert.

Als am Sonntagnachmittag die Abstimmungsergebnisse hereintröpfeln, ist bei Bund, Parteien und Beamtenverbänden die Ernüchterung gross.

Bei einer Stimmbeteiligung von 62% wird das «Verständigungsgesetz» mit 481 035 Nein zu 280 238 Ja klar abgelehnt. Nur Genf, Tessin, Basel-Stadt und Uri stimmen Ja. Pilets Waadt, auch Pilets Lausanne, sagen Nein. Eine Ohrfeige für den Bundesrat.

Staatsmann im Sturm

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