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4. Tücken der Zensur

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Am Samstag, 2. September, besprach der Bundesrat in einer dringlichen Sitzung ein vom Militärdepartement vorgelegtes Projekt zur Kontrolle «von Nachrichten und Äusserungen insbesondere durch Post, Telegraph, Telephon, Presse, Nachrichtenagenturen, Radio und Film zu überwachen». Angegebener Zweck der geplanten Massnahmen ist die «Aufrechterhaltung der Neutralität», weshalb Pilet das Ding «Neutralitätsverfügung» nennt.

Pilet hatte das Gefühl, die von der Armee gewünschte Zensurvorlage «ersticke alles», sei «une aberration». Auf seinen Antrag hin verschob der Bundesrat den Entscheid. Die Kollegen gaben ihm Zeit, ein Gegenprojekt auszuarbeiten.

Wie im Fall der Staatsschutzverordnung schlug Pilet Änderungen vor, die er wiederum Oberst Logoz übermittelte. Der juristische Berater der Armee teilte auch hier die Auffassung des Waadtländer Bundesrats, der sich notierte:

Sehr liebenswürdig verspricht er [Logoz], uns zu helfen, dem ‹militaristischen› Clan Widerstand zu leisten und sich zu meiner Verfügung zu stellen, wenn er mir nützlich sein kann.

Pilet konsultierte weitere Juristen. Zum Schluss einigte er sich mit dem Zensurbeauftragten des Armeekommandos, Oberst und Bundesrichter Hasler, auf eine neue Fassung, welcher der Bundesrat diskussionslos zustimmte. Der Bundesbeschluss über die Zensur tritt am 8. September in Kraft.

Pilet hat sich im Laufe Zeit beträchtliche staatsrechtliche Kenntniss erworben. Auch in diesem Fall ist es dem Juristen Pilet gelungen, den Text substanziell zu verbessern und die Stellung des Bundesrats gegenüber dem Armeekommando zu stärken. Die von ihm durchgesetzte Hauptänderung betrifft die Vorzensur, deren Erlass nicht mehr im freien Ermessen des Armeekommandos liegt, sondern «nur mit Ermächtigung des Bundesrats verfügt werden» kann.

Der Erlass führt ein Beschwerderecht ein. Wer sich von der Überwachungsstelle ungerecht behandelt fühlt, kann bei einer Rekurskommission Einspruch erheben. Vorsitzender ist ein Bundesrichter. Ihre Mitglieder sind geachtete Persönlichkeiten aus allen politischen Lagern. Auch zwei Sozialdemokraten sind in der Kommission: Regierungs- und Nationalrat Ernst Nobs und Prof. Max Weber, Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Beide betätigen sich publizistisch und verstehen etwas vom Pressewesen. Es sind gradlinige, patriotische Politiker. Pilet kennt und schätzt sie. Nobs wird 1943 als erster Sozialdemokrat in die Landesregierung gewählt und Weber 1951 dessen Nachfolger als Bundesrat.

Die von zur Überwachung von Presse, Radio, Telegraf, Telefon, Post, Buchhandel und Film eingesetzte «Abteilung für Presse und Funkspruch» wird von Bundesrichter Oberst Eugen Hasler kommandiert. Das Departement Pilet ist für die Kontrolle von Telefongesprächen, Telegrammen, Postsendungen und Radioprogrammen zuständig. Die bestehende Überwachung von Telefonaten, Briefen und Paketen wird erweitert und verschärft. An der Praxis ändert sich wenig. Die Überwachungsarbeit liegt weiterhin bei Mitarbeitern der PTT-Verwaltung. Die Protokolle von abgelauschten Telefongesprächen gehen zum Chef der Telegrafendirektion Dr. h.c. Alois Muri. Muri leitet Kopien von Berichten, die er für brisant hält, an Pilet weiter. Oft fügt er mit Rotstift kleine, manchmal ironische Randbemerkungen hinzu.

Als Oberst Hasler Pilet schriftlich über die von der Armeeleitung verfügten neuen Zensurmassnahmen für die Briefpost und den Telegrammverkehr benachrichtigt, legt Pilet sein Veto ein. Solche Massnahmen dürften nur mit seinem, Pilets Einverständnis erlassen werden:

Aus den Gründen, die ich Ihnen mündlich genannt habe, habe ich momentan nicht die Absicht, die mir zukommenden Kompetenzen zu delegieren.

Für Telefon, Telegraf und Radio sei die Lage geregelt. Für die Post im eigentlichen Sinne will Pilet sich an die Bestimmungen des Postgesetzes von 1924 halten: «Dies soll genügen.»

Besondere Bedeutung kommt der Beaufsichtigung des Radios zu. Das Radio – das deutsche Wort «Rundfunk» ist in der Schweiz verpönt – hat einen schwindelerregenden Aufschwung erlebt. Die Zahl der Radiohörer im Inland hat sich vervierfacht – aus 150 000, die 1930 für ihre Empfangskonzession Gebühren zahlten, sind 1939 fast 600 000 geworden. 80 Prozent der Haushalte haben einen Empfänger, bei dem es sich meist um ein massives, kunstvoll gefertigtes Möbelstück handelt. Die Besitzer sind stolz auf ihren teuren Apparat. Wenn in der Deutschschweiz um 12.30 Uhr nach dem «Zeitzeichen aus Neuenburg» die Mittagsnachrichten gesendet werden, läuft in den Wohnstuben das Radio, und die Familie schweigt. Dann wird in den Wirtschaften auf den Einstellknopf gedrückt. die Die Gäste spitzen die Ohren.

Das Radiowesen untersteht der «Telegraphen- und Telephondirektion» im Departement Pilet. Als der Waadtländer Bundesrat 1930 vom Departement des Innern zu Post- und Eisenbahn wechselte, hat er kaum vermutet, dass der Ausbau des Radios fast so viel von seiner Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen werde wie das Sorgenkind Bundesbahnen. Die der Schweizerischen Rundspruchgesellschaft SRG erteilte Konzession von 1936 trägt Pilets Handschrift. Sie regelt die Beziehungen zwischen den sechs auf Privatbasis gewachsenen Studios von Genf, Lausanne, Zürich, Bern, Basel und Lugano, der Generaldirektion SRG und dem Departement.

In der Programmgestaltung und für die Anstellung der Mitarbeiter geniessen die Studiodirektoren in den drei Landesteilen viel Freiheit. Sie sind allerdings auf das Wohlwollen von Vorständen und Programmkommissionen angewiesen. Auf die Zusammensetzung dieser Gremien wie auf die Nomination des SRG-Generaldirektors und des SRG-Zentralvorstandspräsidenten übt der Chef des Post- und Eisenbahndepartments einen entscheidenden Einfluss aus. Dafür hat Pilet gesorgt. Auch in anderen wichtigen Fragen behält er sich den letzen Entscheid vor.

Dr.h.c. Alois Muri – den Ehrendoktorhut verdankt er einer Empfehlung Pilets bei der ETH-Führung – leitet die Telegraphendirektion. Sie ist für die Sendeanlagen, die von den Studios benötigten technischen Einrichtungen und – vor allem – für die Verteilung der Konzessionsgelder zuständig. Wer das Geld hat und es verteilt, befiehlt. Muri denkt ähnlich wie sein Chef und er geniesst Pilets volles Vertrauen. Der letzte Entscheid hat immer der Departementsvorsteher. Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Pilet ist Herr des Radios.

Der Waadtländer Bundesrat ist mit den von den sechs Studios über die Landessender Beromünster, Sottens und Monte Ceneri ausgestrahlten Sendungen im Grossen und Ganzen zufrieden. Im Grossen und Ganzen sind auch die Verantwortlichen in den Studios und an der Berner Neuengasse 30, dem Sitz der Generaldirektion, mit Pilet-Golaz zufrieden. Die starke Figur in der SRG, der als Rotkreuzdelegierter weit gereiste, umfassend gebildete Jurist Rudolf von Reding, seit 1931 ihr Generalsekretär, preist sich glücklich, einen liberalen Chef zu haben, der in Programmfragen kaum dreinredet.

Pilet nimmt die Programmverantwortlichen regelmässig gegen Kritik aus Parlament und Öffentlichkeit in Schutz. Für ihn ist das Radio Mittel zur Kulturwahrung, zur Volkserziehung und zur Unterhaltung. Der Informationsvermittlung soll es nur beschränkt dienen. Was Pilet und der Gesamtbundesrat unter keinen Umständen wollen, ist ein Radio im Dienst der Politik. Politische Debatten sollen im Parlamentssaal ausgetragen werden, nicht über die Ätherwellen. Politische Kommentare und politische Auseinandersetzungen sind Sache der Zeitungen. Dies ist Auffassung des Bundesrats und – wen wundert’s? – die Auffassung der Zeitungsverleger. Sie und ihre Redaktoren sehen im Radio eine gefährliche, ja existenzgefährdende Konkurrenz. Der Widerstand der Zeitungen ist auch der Grund, wieso die Studios keine eigenen Nachrichten senden dürfen. Das Monopol für die lange Zeit nur zweimal am Tag ausgestrahlten Radionachrichten hat die Schweizerische Depeschenagentur SDA. Ihre Redaktoren stellen die kurzen Bulletins zusammen, und ihre Sprecher verlesen sie in trockenem Ton.

Noch am Tag des deutschen Einmarschs in Polen suspendierte Pilet die Konzession der SRG. Gestützt auf einen Bundesratsbeschluss unterstellte er den Rundspruchdienst der PTT-Verwaltung und ernennte den bisherigen Generaldirektor der SRG, Alfred Glogg, zum Direktor des nunmehr staatlichen «Schweizer Rundspruchs» (SR). Die PTT-Verwaltung gebietet jetzt über das Personal der SRG und über die Studios der Mitgliedgesellschaften. Wichtigster Artikel der Ausführungsbestimmungen:

Der Direktor des Rundspruchdiensts [Glogg] erhält in Bezug auf die Programme seine allgemeinen Weisungen vom Vorsteher des Post- und Eisenbahndepartements; er ist diesem gegenüber für deren Beobachtung verantwortlich.

Als Verbindungsmann des Bundesrats zum Radio bestimmte Pilet den Journalisten Georges Perrin, Korrespondent verschiedener welscher Zeitungen in Bern, darunter des Parteiblatts von Pilets Waadtländer Radikalen, La Revue. Er schätzt Perrin als gewissenhaften, unaufgeregten und um Objektivität bemühten Journalisten, auf den Verlass ist. Perrin sieht die Hauptaufgabe der Presse (wie er in einem Vortrag 1953 ausführen wird) in der «präzisen, exakten, vollständigen Information».

Die Unterstellung des Radios unter das Post- und Eisenbahndepartement und dessen Zentralisierung wird in der Romandie, besonders in Genf, nicht geschätzt. Pilets Mitarbeiter kopieren für ihren Chef kritische Zeitungsartikel. So einen aus der Tribune de Genève vom 22. September, in dem sich Pilet den folgenden Abschnitt anstreicht:

Es ist tatsächlich ein offenes Geheimnis, dass seit dem 2. September die Direktoren und die Dienste der Studios von Genf und Lausanne unter dem Befehl von Bern stehen. Das Studio Lausanne besorgt alle Sendungen und das Studio Genf ist im Winterschlaf. Ausser, dass diese Massnahme für Genf schikanös, folglich ungeschickt ist, fragt man sich, welcher strategischen, technischen, administrativen, wirtschaftlichen, künstlerischen und finanziellen Notwendigkeit sie entspricht. Bis zum Beweis des Gegenteils rät uns der simple bon sens zu denken, dass sie keiner von diesen entspricht.

Auch einen Artikel des sozialdemokratischen Nationalökonomen Prof. Fritz Marbach (aus La Lutte syndicale) hat Pilet aufbewahrt. Marbach begreift, dass in Kriegszeiten die Sendestationen den Behörden zur Verfügung stehen müssen. Er kann jedoch nicht verstehen, dass man sie einem eidgenössischen Verwaltungsorgan unterordnet und jeden Kontakt zur Bevölkerung und zu den kulturellen Kreisen abbricht. Damit meint er den von Pilet suspendierten Zentralvorstand der SRG, dem Marbach selber angehört. Seiner Meinung nach wäre es besser und «schweizerischer» gewesen, diesen Vorstand als Beratungsorgan beizuziehen, statt ihn aufgrund der Vollmachten zu entlassen. Die Art, wie die dem Bundesrat vom Parlament gegebenen Vollmachten auf gewissen Gebieten angewandt würden, lasse nichts Gutes erahnen. Jeder Schweizer sei bereit zu tun, was das Vaterland von ihm verlange, aber schweizerische Traditionen sollten berücksichtigt werden.

Der Bürger erträgt die Diktatur des Bundesrats, aber nicht diejenige von Leuten, die zeigen wollen, wo’s langgeht. Die Eidgenossen dies- und jenseits der Saane sind sich in diesem Punkt völlig einig. Es gibt keinen Graben.

Pilet lässt sich von Marbachs Argumenten überzeugen. Der aufgelöste Zentralvorstand wird schon bald wieder tagen.

Staatsmann im Sturm

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