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Kapitel 1
ОглавлениеWie heißt es doch so passend: „Das Leben ist eine Berg- und Talfahrt.“ Anscheinend habe ich nur das Ticket für die Talfahrt gelöst, es geht ständig bergab, dafür aber ziemlich rasant. Der Seelenklempner würde jetzt zu analysieren beginnen, Kindheit und Elternhaus durchleuchten, vielleicht irgendwann einmal und unglücklicherweise in schlechte Gesellschaft geraten.
Nein, nichts von alledem trifft zu – und eines kann ich gleich vorweg nehmen: ich bin nicht das Opfer, ich bin der Täter! Ich war es, der Scheiße gebaut hat und noch immer darin wühlt. Inzwischen habe ich auch bemerkt, wie schwierig es ist, aus diesem Schlamassel auszubrechen, den Blick wieder nach oben zu richten. Einige Anläufe habe ich schon genommen, um wieder ins normale Leben zurückzukehren, bisher jedoch vergebens. Aber ich versuch es wieder, das verspreche ich mir.
Mein Name ist Alfred Hauser, ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, zur Zeit arbeitslos, Notstandsbezieher – und ich liebe den Alkohol. Uns beide verbindet eine Hassliebe, tagsüber und am Abend ist er mir ein guter, ein sehr guter Freund. Am darauffolgenden Morgen hasse ich dieses Saufen so sehr, dass mich allein schon das Wort zum Erbrechen bringt. Allerdings, und das ist mein Fehler, ich bin ein gutmütiger Mensch und deshalb bekommt Kollege Alkohol immer wieder seine Chance. Wir freunden uns immer wieder aufs Neue an und das Rad dreht sich weiter.
Es ist ein schöner Herbsttag, ich stehe vor dem Kiosk beim Bahnhof. Mein Freund und ich, wir haben uns gerade wieder versöhnt, ich bin beim zweiten Bier und blinzle ins Sonnenlicht. Zurzeit bin ich der einzige Gast, keine Gelegenheit zum Smalltalk und die Lebensgeschichte von Sonja, der Kioskbetreiberin, kenne ich schon auswendig. Zweimal verheiratet, wieder getrennt, drei Kinder im Schulalter, einer von denen muss die Klasse wiederholen, weil er so einen blöden Lehrer hat. Der andere ist Vorzugsschüler im Gymnasium. Die Tochter ist fast siebzehn, hat schon einen Freund und Mutter Sonja predigt Barbara fast täglich, so heißt das junge Fräulein, immer ein Kondom zu nehmen, also in ihrer Handtasche dabei zu haben. Für alle Fälle, meint die Mutter. Ein großes Vorbild ist sie ja nicht, die Sonja, bei ihrem Verschleiß an Männern. Sie ist attraktiv, auch mir würde sie gefallen, doch ich versuche es erst gar nicht. Wie kann ich als heruntergekommener Sandler bei ihr punkten. Keine Chance. Verstehe ich auch.
Also blinzle ich weiter in die Sonne, taste mich langsam an das dritte Bier heran und plane den neuen Tag. Planen ist vielleicht etwas übertrieben, ja sogar maßlos überzogen, denn was soll ich eigentlich planen. Ich lebe in den Tag hinein, wechsle meinen Standort nach bekanntem Muster, treffe meine obdachlosen Kollegen, und das alles begleitet von Alkohol. Ausnahmen bilden nur jene Tage, an denen ich mir die Notstandshilfe hole, um dann mit vollen Taschen zum nächsten Kiosk zu eilen, um Versäumtes nachzuholen. So spielt sich zurzeit mein Leben ab. Allerdings, und das ist besonders hervorzuheben, schlafe ich nicht auf der Straße. Ich bewohne ein Zimmer, Klo und Dusche allerdings am Gang, bin also ein Privilegierter. Diese Unterkunft habe ich meinem Vater zu verdanken, ein Mann mit Weitblick. Er sah mehr oder weniger meinen Niedergang voraus und als ich das Familiennest verließ, war er es, der diese Unterkunft besorgte. Ein Freund von ihm war der Besitzer des Areals, einer früheren Metallgießerei, wo jetzt nichts mehr produziert wird. Solange er nicht verkauft, kann ich hier logieren. Die Miete ist leistbar, trotzdem bin ich im Rückstand und schon mehrmals gemahnt worden. Mit der nächsten Notstandshilfe muss ich das Finanzloch stopfen, das wird ein trockener Monat.
Ein älterer Herr, vornehm gekleidet, spaziert gemächlich am Kiosk vorbei. Normalerweise beobachte ich andere Leute kaum, doch als er die linke Hand aus seiner Hosentasche nimmt, fällt etwas zu Boden. Er merkt es nicht und ich mache ihn nicht auf seinen Verlust aufmerksam. Langsam schlendere ich in Richtung Fundstück, hebe es auf: es ist eine Geldbörse. Zurück beim Kiosk überlege ich, ihm nachzugehen, doch dann lasse ich es bleiben. Sonja hat nichts bemerkt, sie ist gerade mit dem Leergut beschäftigt, aber in ihrer Anwesenheit will ich den Fund nicht beäugen, daher wandere ich mit meinem dritten Bier Richtung Park und mache es mir auf einer Bank bequem. Zunächst checke ich einmal das Wichtigste: Bargeld – und siehe da, zweihundertvierzig Euro wechseln den Besitzer. Ich durchsuche meinen Fund weiter, finde Kreditkarte, Pensionistenausweis und Visitkarten. Der Besitzer ist ein Hofrat außer Dienst, heißt Ludwig Pokorny. Adresse und Telefonnummer wären also vorhanden, sollte ich irgendwelche Anwandlungen bekommen und das schlechte Gewissen oder meine Gutmütigkeit drängen mich zur Rückgabe. Schwer vorstellbar, aber man sollte ja niemals nie sagen. Feines Leder, denke ich, und streiche über die weiche Oberfläche. Ich stecke mein Fundstück wieder zurück in die Hosentasche, das Kleingeld kommt in die rechte Jackentasche. Macht ja keinen guten Eindruck, wenn sich ein Sandler ein Getränk bestellt und mit einer Hunderter-Note bezahlt.
Ein guter Tag heute, brumme ich halblaut und proste mir zu.
Ich spule mein Tagesprogramm ab, wie an jedem anderen Tag, wechsle zum Würstelstand beim Schillerpark. Zu Mittag gibt es heute keine Würstel, sondern Pommes, etwas fettig, aber die weiteren Biere neutralisieren die ungesunde Kost. Nach solchen Mahlzeiten kommt mir immer wieder der Gedanke, doch selbst zu kochen; wäre billiger und vor allem gesünder, doch diese vernünftige Idee wird mit dem nächsten Bier fortgeschwemmt.
Ich treffe die üblichen Verdächtigen, weiß nicht wie sie heißen, nur ihre Spitznamen sind mir geläufig. Da gibt es den Eimer, der kann Unmengen an Alkohol vertragen, fragt sich nur, wie lange er noch durchhält – besser gesagt, seine Leber. Neben ihm der Blade, ein Schwergewicht, gutmütig aber etwas beschränkt. Ein schlanker, immer tänzelnder Typ wird Homo genannt. Ob er tatsächlich schwul ist, entzieht sich meiner Kenntnis, ist mir auch egal. Der Kanzler ist einer, der viel redet und über alles Bescheid zu wissen glaubt, ein anstrengender Typ. Es gesellen sich immer ein paar Neue dazu und so wächst die illustre Runde. Die Gespräche, die geführt werden, drehen sich um belangloses Zeug: ums Saufen, das Prahlen mit Eroberungen von Schönheiten, um das bei den meisten nicht vorhandene Geld, alles eher niveaulos und entbehrlich. Aber sich schweigend dem Suff hinzugeben ist auch nicht das Wahre. Mich nennen sie übrigens Edamer, nach der holländischen Käsesorte. Der Grund ist mein Körpergeruch: ich konnte wegen eines Rohrbruches tagelang keine Körperpflege betreiben. Ehrlich, ich habe mich dafür geschämt. Jetzt müssten sie mir einen anderen Namen geben, aber der Edamer bleibt mir.
Gegen einundzwanzig Uhr kehre ich zurück in meinen Wigwam. An der Tür steckt ein Zettel. Kein gutes Zeichen, denke ich und lese: „Alfred, das ist der letzte Aufruf – wie am Flughafen. In deinem Fall nur umgekehrt: Zahlst du bis Ende der Woche nicht, fliegst du!“
Das ist eindeutig. Ich mache Kassasturz, mein gesamter Barbestand beträgt 268 Euro. Mit zweihundert werde ich meinen Hausherren vorübergehend zufrieden stellen. Mit dem Rest muss ich noch zwölf Tage auskommen. Mein Gehirn arbeitet um diese Zeit nicht mehr auf Hochtouren, aber es funktioniert – nur etwas langsamer halt. Ich mache es mir im Bett bequem und kontrolliere die Brieftasche des Hofrats intensiver. Rechnungskopien, ein Einkaufszettel, ein gebrauchter Fahrschein für die Straßenbahn. Und was ist das?, überlege ich und ziehe ein gefaltetes Stück Papier heraus. Ein Wettschein von Euromillionen für die kommende Donnerstag-Ziehung. Ich habe noch nie Lotto gespielt, Glücksspiel hat mich eigentlich nie interessiert. Aber nachdem ich jetzt im Besitz eines gültigen Wettscheines bin, werde ich wohl am Freitag nachschauen, ob diese gesetzten Zahlen zu einem Gewinn fähig sind. Mit diesen Gedanken schlafe ich ein, träume wirres Zeug, erwache am Morgen mit Magenschmerzen und Kopfweh und starte meinen täglichen Zweikampf mit meinem Freund und Gegner, dem Alkohol.