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Kapitel 2
ОглавлениеHerr Pokorny ist verzweifelt, seine Wohnung hat er schon auf den Kopf gestellt, praktisch alles von oben nach unten gedreht, nichts von seiner Geldbörse zu sehen. Immer wieder überlegt er, wo er gestern überall gewesen ist. Hat er das Portemonnaie beim Einkauf liegen lassen? Aber gestern war er doch gar nicht im Supermarkt. Ein Spaziergang stand auf seinem Vormittagsprogramm. Ratlos setzt er sich auf den Diwan und versucht noch einmal den vergangenen Tag zu rekonstruieren. Es geht ihm um die Kreditkarte: Wenn die in die falschen Hände gerät. Ich muss es melden, überlegt er und denkt an das für ihn komplizierte Prozedere des Sperrenlassens. Aber es muss sein und am besten sofort.
Nach zwei Tassen Kaffee lässt das Kopfweh nach, trotzdem glaube ich, mein Schädel ist innen wattiert. Der Magen rebelliert noch immer, vielleicht sollte ich etwas essen, etwas Trockenes. Langsam, wie in Zeitlupe, ziehe ich mich an, nehme ein frisches T-Shirt und schlüpfe in meine fleckigen und zerrissenen Jeans. Die sollten auch wieder einmal mit einer Waschmaschine in Berührung kommen. Ich rieche, und zwar entsetzlich, bemerke ich und ziehe die Stinkbombe wieder aus. Automatisch kommt mir der Name Edamer in den Sinn. Mehr als berechtigt!, signalisiert mein langsam in die Gänge kommendes Gehirn. Ich wechsle zur zweiten und damit letzten Gelegenheit: einer Sommerhose. Sie besteht den Geruchstest. Zum Glück ist das Wetter immer noch warm und sonnig, obwohl sich der September dem Ende nähert. Heute habe ich allerhand an Erledigungen zu absolvieren. Das ist gut, das hält mich vom Saufen ab. Ich bin immer noch stocksauer auf meinen treuen Begleiter Alkohol. Im Moment ist er mein erbitterter Gegner und im Innersten formieren sich eine Reihe von guten Vorsätzen, die nur darauf warten, in die Tat umgesetzt zu werden. Aber das Warten sind diese guten Geister bereits gewöhnt.
Mein erster Weg führt mich zum Haus meines Vermieters, dem ich die Rate schweren Herzens in einem gebrauchten Kuvert in seinen Briefkasten werfe. Hoffentlich beruhige ich diesen Gierschlund für eine Weile. Die nächste Station, ein Waschsalon, wo ich das geruchsintensive Kleidungsstück schleunigst in den Schlund einer frei gewordenen Maschine werfe. Jetzt heißt es warten. Mein persönlicher Feind klopft mir auf die Schulter und murmelt: „Sind wir wieder gut.“ Ich ziere mich noch, aber meine Aversion ihm gegenüber bröckelt erkennbar ab. Warum dauert der Waschvorgang so lange?, frage ich mich, sehe aber sofort ein, dass dieses Dreckstück stundenlang rotieren muss, um wieder in einen geruchlosen Zustand zu gelangen. Endlich gibt die Maschine meine Hose frei – jetzt nichts wie in den Trockner damit.
Die guten Vorsätze, meinem Feind doch die Stirn zu bieten, habe ich wieder schubladiert. Kollege Alkohol sitzt schon auf meiner Schulter, flüstert mir ständig ins Ohr: „… du bist mein bester Freund, du brauchst mich.“ Die Magenschmerzen und das Kopfweh, wie weggeblasen. Ich fühle mich gut und ich weiß auch schon, wo mich mein nächster Weg hinführt. Die saubere Hose unter dem Arm, werden meine Schritte flotter, bestimmter und das Ziel ist vorgegeben.
„Hallo, Edamer, heute bist du aber spät“, empfängt mich ein junger Säufer, der erst seit Kurzem in diese Runde aufgenommen wurde. Anscheinend hat er den Eignungstest mit Bravour bestanden.
„Ja, ich habe noch bei meiner Bank vorbeigeschaut, die Dividende meiner Voest-Aktien kassieren“, erkläre ich mit vollem Ernst.
Der Junge versteht meinen ironischen Sager nicht, während sich andere Vormittagstrinker um mich scharen. „Na, wenn das so ist, gibt es jetzt sicher eine Extrarunde, was Edamer?“, und klopfen mir aufmunternd auf die Schulter.
„Die Auszahlung erfolgt erst im letzten Quartal, ihr müsst euch also noch etwas gedulden. Aber dann gibt es ein Vorweihnachtsgeschenk, versprochen.“
Wenn es ums Saufen geht, und die Möglichkeit eines Gratisgetränkes tut sich auf, verstehen meine Saufkumpane keinen Spaß. Mit Genuss gleitet das erste Bier durch meine trockene Kehle und der Kollege auf der Schulter, inzwischen wieder zum Freund geworden, applaudiert heftig. Beim zweiten Bier fällt mir plötzlich ein, dass ich die Geldbörse des Hofrats samt Lottoschein auf dem Tisch liegen gelassen habe. Egal, morgen ist auch noch ein Tag, und jetzt bin ich gerade in netter Runde. Außerdem habe ich Aufholbedarf und da kann und will ich mir keine unnützen Unterbrechungen leisten.
Der neu dazu Gestoßene will sich besonders hervortun, so als müsste er den etablierten Trinkern etwas beweisen. Er ist bereits beim fünften Bier, was sich bei seiner Artikulation bemerkbar macht. Undeutlich und nicht zusammenhängend werden seine Sager. Immer wieder hebt er seine Willensstärke hervor. „Jederzeit, aber wirklich jederzeit, kann ich mit dem Trinken aufhören. Ehrlich, ich werde euch das beweisen.“ Sein Griff nach der Flasche geht ins Leere, er dreht sich um die eigene Achse und klatscht auf den Boden. Er übergibt sich und macht sich gleichzeitig in die Hose. Also, die Aufnahmeprüfung doch nicht bestanden. In solchen Momenten verspüre ich einen unbändigen Hass auf den Alkohol, der sofort wieder zu meinem Feind wird, und auf mich selbst, der ich nicht in der Lage bin, etwas dagegen zu unternehmen. Wir mutieren sogleich zur Selbsthilfegruppe, zerren den armen Kerl auf eine Bank, geben ihm ein Taschentuch. Homo kommt mit einem Glas Wasser, während der Kanzler ein Pflaster über seine Kopfwunde klebt. „Wird schon wieder, Kleiner“, meint der Blade beruhigend, „das sind nur Anlaufschwierigkeiten.“
Ich stehe daneben und gaffe nur blöd, so als wäre ich in eine Schockstarre gefallen. Doch nach ein paar Minuten ist alles wieder beim Alten, business as usual. Die Lockerheit in mir kehrt zurück, ich bestelle das nächste Bier, der Vorfall ist vergessen, das Saufen kann weitergehen.
Der Hofrat ist erleichtert, er hat seine Kreditkarte sperren lassen und eine neue beantragt. Ein Blick auf die Uhr, dann macht er sich fertig zum Ausgehen. Es ist elf Uhr fünfzehn, Zeit zum Vormittagsspaziergang. Anschließend geht er Mittagessen, immer ins gleiche Gasthaus. Dieses Ritual findet bereits seit fast sechs Jahren statt, seit seine Frau Agnes ihn verlassen hat. Da die Ehe kinderlos geblieben ist, er also von dieser Seite keine Unterstützung zu erwarten hat, meistert er alleine seinen Alltag. Von einem Freundeskreis kann keine Rede sein. Pokorny war immer schon ein Einzelgänger, der Freundschaften nie nachdrücklich gesucht hat. Vielleicht tut es ihm jetzt, im Alter, leid. Er ist zwar sehr belesen und hat ein umfangreiches Allgemeinwissen, welches er allerdings für sich behalten muss, da er keine Diskutanten hat. In letzter Zeit neigt er überdies immer mehr zur Vergesslichkeit, was ihn selbst maßlos ärgert. Fremden gegenüber kaschiert er seine beginnende Demenz jedoch fast perfekt. Trotzdem, mit seinen fast achtzig Jahren, muss er sich wohl damit abfinden. Seinen Hut in die Stirn gedrückt, den eleganten Spazierstock mit dem Silbergriff in der linken Hand, verlässt er sein Haus.
Die Trinkerkommune wechselt den Standort: Auf geht’s zur Sonja. Es ist jetzt fünfzehn Uhr, die Sonne scheint und es ist immer noch warm. Gott sei Dank, denke ich mir. Wie das im Winter werden wird, in den kalten Tagen mit Eis und Schnee, kann und will ich mir noch gar nicht vorstellen. Ich muss mich wohl allmählich um warme Kleidung kümmern, mit meinen löcherigen Jeans werde ich kaum unbeschadet durch die kalte Zeit kommen. Noch ist es aber nicht soweit, überlege ich, und zugleich wird mir bewusst, dass das Hinausschieben von Aufgaben eine meiner Spezialgewohnheiten ist. Ich weiß nicht, ob alle Säufer diese Angewohnheit haben; ich gehöre jedenfalls zu denen, die glauben, ein guter Geist wird mir schon behilflich sein. Du bist auf dich allein gestellt, begreife doch endlich, du elender Trinker.
Der lästige Gedanke verschwindet schneller als er gekommen war. Es ist wieder nur so eine Art Momentaufnahme, die ich in der selben Sekunde wieder verdränge.
So torkeln und wanken wir also durch den Nachmittag, das stundenlange Trinken hinterlässt eben seine Spuren. Der Junge mit dem Blackout ist nicht mehr dabei, der hat sich die Seele aus dem Leib gekotzt und noch ein bisschen mehr. Ich fühle mich noch gut, muss auch sein, bei lediglich fünf Bieren. Das stete Training macht sich eben bezahlt. Bei diesem Gedanken muss ich schmunzeln, obwohl es eigentlich um die Selbstzerstörung des „eigenen Ich“ geht. Ich bin froh, dass ich nur Bier trinke, denn wenn die Wirkung nachlassen sollte und ein Umstieg auf stärkere Sachen erfolgt, dann wird es angeblich schwer mit dem Zurückrudern. Wir trudeln beim Kiosk von Sonja ein und die erste Order wird erteilt. Ob sich die hübsche Wirtin freut, weiß ich nicht. Wahrscheinlich sieht sie nur den Umsatz und nimmt solche Trunkenbolde, wie wir es sind, kaum noch wahr, schon gar nicht ernst.
Mir ist heute ganz nach Flirten zumute und ich beginne Sonja anzubaggern: „Hübsch siehst du heute wieder aus, richtig verführerisch.“
Sie wirft sich in Positur, streckt ihren Busen noch weiter heraus und schenkt mir ein leichtes Lächeln. „Danke, Edamer!“, haucht sie.
Mal sehen, ob ich bei ihr punkten kann. Mein männlicher Instinkt, sofern noch abrufbar, sagt mir aber: Halte dich vorerst besser etwas zurück, wenn du zum Zug kommen möchtest. Soviel ich weiß, hat sie im Moment keinen Lover. Ich überlege, wann ich zum letzten Mal mit einer Frau geschlafen habe: das ist schon einige Zeit her, wird mir deutlich klar. Durch das permanente Trinken hat meine Potenz womöglich schon Defizite aufzuweisen – das wäre peinlich. Aber einmal abwarten, wie sich das „Unternehmen Beischlaf“ heute noch entwickeln wird.
Der Blade erzählt schon wieder einen seiner abgenützten Witze. Keiner lacht, nur Sonja schmunzelt, obwohl auch sie die Pointe bereits zur Genüge kennt. Dann wird politisiert, der Kanzler führt das Wort. Er erzählt uns, wie sich ein harter Brexit auf das restliche Europa auswirkt, wie sich die EU verkleinern wird müssen, da einige Länder abspringen werden. Ob Österreich dabei sein wird, hängt von vielen Faktoren ab, die er, der Experte, zwischen dem fünften und sechsten Bier noch nicht abschätzen kann. Homo, ein Fan der Eishockeyhelden der Black Wings, ist traurig, dass seine Burschen im Moment nur im Mittelfeld dahindümpeln und vielleicht das Playoff verpassen.
„Schlaft ihr alle auf der Straße?“, frage ich aus heiterem Himmel. Im ersten Moment Stille, dann schaltet sich der Blade ein: „Ja, tun wir. Willst du zu uns ziehen?“ Die anderen lachen.
„Könnte passieren“, sage ich und denke an meinen Mietrückstand, der sicher beträchtlich sein wird. Was mache ich wirklich, wenn mich der gute Freund meines Vaters auf die Straße stellt? Abwarten! Bisher habe ich noch immer eine Lösung gefunden. Die Frage, ob es immer die richtigen Entscheidungen waren, lasse ich lieber dahingestellt.