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Kapitel 5
ОглавлениеDie Haare mit den Fingern durchgekämmt, meine feuchte Jacke in Position gebracht, läute ich die Klingel. Lange Zeit tut sich nichts. Als ich schon den Rückzug antreten will, öffnet sich die Tür. Herr Pokorny erscheint und ruft völlig unvermittelt und laut: „Ich kaufe nichts, ich spende nichts!“ Dennoch scheint er neugierig zu erfahren, wer denn da geläutet hat. Langsam nähert er sich der Gartentür.
„Was wollen Sie?“, fragt er mich unwirsch.
Ich nehme die Geldbörse aus der Jackentasche und halte sie dem Hofrat unter die Augen.
„Ich habe Ihre Geldbörse gefunden“, sage ich und warte seine Reaktion ab. Er betrachtet das corpus delicti, nimmt es in die Hand, öffnet die Börse und prüft den Inhalt. Ich habe den Anschein, als kenne er das Fundstück gar nicht.
Dann schaut er mich an. „Wo haben Sie die Börse gefunden?“, will er wissen.
„In der Nähe des Kiosks – vor dem kleinen Park beim Bahnhof“, erkläre ich.
Dann nickt er zustimmend: „Ja, das ist tatsächlich meine Geldbörse. Die Kreditkarte ist auch noch drin, aber die ist sowieso schon ungültig.“ Er taxiert mich misstrauisch und fährt in unwirschem Ton fort: „Jetzt erwarten Sie wohl einen Finderlohn von mir, was?“ Er schaut mich durchdringend an.
„Das ist Ihre Entscheidung, Herr Hofrat“, bemühe ich mich um eine möglichst kleinlaute Antwort.
Er nimmt eine nagelneue Geldbörse aus der Gesäßtasche, entnimmt zwanzig Euro und reicht sie mir wortlos mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Danke“, sage ich und versuche ein Gespräch bezüglich eines Quartiers einzuleiten. „Sagen Sie, Herr Hofrat, vermieten Sie ein Zimmer in Ihrem Haus, vielleicht im Erdgeschoß. Ich bin Jus-Student und muss aus meiner bisherigen Bleibe heraus?“
Er mustert mich von oben bis unten, sein Gesichtsausdruck lässt darauf schließen, dass er von meinem Antrag nicht unbedingt erpicht ist.
„Ich könnte Ihnen auch für diverse Besorgungen an die Hand gehen oder vielleicht im Garten behilflich sein“, lege ich nach, wobei mir zugleich bewusst ist, bei der Gartenarbeit deutlich über das Ziel geschossen zu haben.
Der Herr Hofrat antwortet mit einigem Bedacht: „Das geht mir zu schnell, junger Mann. Geben Sie mir eine Adresse, ich melde mich beizeiten bei Ihnen.“
Das hatte ich befürchtet, damit kann ich mich jedoch nicht zufrieden geben.
„Herr Hofrat, darf ich in zwei, drei Wochen wieder vorbeischauen und nachfragen?“
Er nickt und fragt nach meinem Namen. Dann bedankt er sich noch einmal, dreht sich um und zieht sich zurück in sein Domizil.
Ich würde sagen: ein Teilerfolg. Das gibt zumindest einige Hoffnung. Zufrieden kehre ich zum Sammelpunkt Hessenpark zurück, um den Alkoholpegel an das übliche Maß anzupassen.
Heute ist der Tag des Auszugs aus meinem Quartier. Ich hätte schon vor vier Wochen das Feld räumen sollen, doch da niemand kontrolliert hat, bin ich geblieben. Aber gestern am späten Nachmittag sind sie massiv aufgefahren: Frontlader, Bagger, Kipper. Sie alle haben ihre Schaufeln wie große Münder drohend auf das kleine Häuschen gerichtet, so als wollten sie sagen: „Räume diesen Platz, sonst verschlucken wir dich!“
Meine Habseligkeiten sind schnell eingepackt, der Rucksack ist halbvoll. Alte, kaputte Sachen, wie Sandalen, zerschlissene T-Shirts, ein demolierter Schirm, bleiben zurück. Zurück bleiben auch ein paar Erinnerungen, Erlebnisse, die es nicht wert sind, sie zu speichern. Mit dem Auszug verblassen auch die letzten Begegnungen mit Vater, die gut gemeinten Ermahnungen, doch die letzten großen Prüfungen zu machen, um dann als fertiger Magister durch die Tür dieser kargen Wohnung in ein besseres, komfortableres Zuhause zu ziehen. Dazu hat er mir seine finanzielle Unterstützung angeboten. Er sieht nicht, wie sein Sohn, der Sandler, heruntergekommen und finanziell am Nullpunkt aus diesem Loch schleicht und eigentlich nicht weiß, wohin er kommende Nacht sein Haupt betten wird. Ich schlucke kurz und muss feststellen, dass ich nicht der harte Alfred bin, den ich vorgebe zu sein. Es liegt an mir, nur an meiner Person, eine grundlegende Änderung herbeizuführen.
„Nimm einen deiner Vorsätze endlich ernst und realisiere ihn, Alfred Hauser!“, sagt mir meine eigene Stimme.
Ob ich meinen Rat befolge – ich weiß es nicht.