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Kapitel 4

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Zahltag, ein erhebendes Gefühl, wir alle stehen in einer Reihe und warten auf den Geldsegen. Das heißt, die mageren Tage sind vorbei, für kurze Zeit zumindest. Ich bin der Letzte in unserer Gruppe, der die heißersehnten Scheine zählt und dann in die Tasche steckt.

Heute beginnen wir unsere Aufwärmrunde am Schillerpark. Der Kiosk ist renoviert worden und bietet auch einen Unterstand, sodass wir bei Regen nicht auch außen nass werden. Karli, der Betreiber, hat das Geschäft von seinem Vater übernommen. Seine Statur ist furchterregend, eine Hüne von einem Mann, ergo auch ein ruhiger und sicherer Trinkplatz. Kaum haben wir den ersten Zug aus der Flasche gemacht, ist es der Kanzler, der das Maul aufreißt und mit einem Vortrag beginnt, der so entbehrlich ist, wie ein eingewachsener Zehennagel.

Eimer legte seinen Arm freundlich um den Redner und fragt den Besserwisser: „Kanzler, wen glaubst du interessiert dein Vortrag?“

Der Angesprochene schaut irritiert, wirkt etwas beleidigt, und erwidert: „Wenn ihr euch nicht weiterbilden wollt, na gut, dann werde ich eben schweigen.“ Vielleicht aus Protest trinkt er sein Bier in einem Zug aus und ordert ein neues. Wir alle lachen darüber und tun es ihm gleich.

Ein Neuer gesellt sich zu uns, auch so ein Besserwisser. Wir haben doch schon einen, denke ich. Er möchte eine Einstandsrunde zahlen, wir alle sind eingeladen. Natürlich lehnen wir nicht ab, obwohl mir bereits klar ist, der wird sich nicht lange halten. Blödsinn reden, okay. Auch Spaß machen ist akzeptiert, aber nur angeben, zeigen wollen, wie gut man ist und was man alles drauf hat, das geht gar nicht.

Der Blade nimmt sich ihn gleich zur Brust: „Sag, was macht dich denn so sicher, dass du so dick aufträgst? Du musst ja einen IQ haben, der durch die Decke geht, durch die Schädeldecke meine ich. Ich glaube viel mehr, und da werden mir meine Freunde recht geben, dass deine Gehirnzellen schneller davonschwimmen als sie nachwachsen. Saufen ist ja soweit in Ordnung, aber man muss es auch vertragen. Bei dir wurde anscheinend schon zu viel Substanz weggeschwemmt. Dein Hirn stell’ ich mir wie ein ausgetrocknetes Flussbett vor. Also, danke für die Runde. Aber wende dich besser an den Verein der Großmäuler. Da wärst du besser aufgehoben!“

So schnell können wir gar nicht schauen, ist der Angesprochene um die Ecke verschwunden. Wir brüllen vor Lachen und gratulieren unserem Bladen. Ein triftiger Grund, die nächste Runde Bier zu bestellen.

Homo ist nun an der Reihe, uns eine Episode zu schildern, als er noch als Friseur tätig war und die seinen Vater, den Besitzer dieses Salons, betraf.

Automatisch musste ich an meinen Vater denken, den ich sehr mochte und der mich eigentlich immer als Freund behandelt hat. Sein Ausspruch „Du musst dir das Leben holen, Alfred“, klingt mir heute noch in die Ohren. Damals habe ich den Sinn noch nicht verstanden, aber im Nachhinein betrachtet hat mein Vater mit beiden Händen zugegriffen.

In der Grundschule wurden wir aufgefordert, über die Berufe unserer Väter zu erzählen. Ich hatte damals keine Ahnung, welcher Tätigkeit mein Vater nachging. Eines Tages, nachdem ich ihn gefragt hatte, klärte er mich auf: „Weißt du, Alfred, ich bin so etwas ähnliches wie ein Brückenbauer.“ Voller Stolz erzählte ich das in meiner Klasse und alle beneideten mich um den seltenen Beruf meines Vaters. Später, in der Realschule, erfuhr ich aus Zufall, was seine wirkliche Profession war: er verdingte sich als Waffenhändler. Und ich konnte beim besten Willen keinen Anknüpfungspunkt zwischen Brückenbauer und Waffenhändler herstellen. Er war viel und oft unterwegs, hatte auf der ganzen Welt seine Geschäfte gemacht, viel Geld verdient, aber gleichzeitig auch viel ausgegeben. Dass der Job gefährlich war, bestätigt sein plötzlicher Tod in Somalia – unter einer Brücke. Hier scheint sich offensichtlich der Kreis zu schließen.

Die Freunde lauschen gespannt meiner Erzählung über das Leben meines Vaters. Der Kanzler will wissen, wie mein Verhältnis zu meiner Mutter war. Eigentlich möchte ich über meine Familie nicht allzu viel erzählen, aber jetzt muss ich wohl oder übel fortfahren. Ich nehme einen kräftigen Zug aus der Flasche, dann beginne ich mit einem sehr schwierigen Kapitel.

„Meine Mutter ist ganz und gar im Glauben und der Religion aufgegangen. Es gab keine Diskus­sion oder Gespräch, in dem nicht am Anfang oder Ende ein Bibelspruch kam. Mutter hat sozusagen eine Zwischenebene eingezogen und sich fast gänzlich vom täglichen, profanen Leben zurückgezogen. Dadurch glaubte sie, dem Himmel ein Stück näher zu sein. Immer waren der „Herr“ und die „heilige Gottesmutter“ zugegen. Wir waren praktisch immer zu fünft. Glücklicherweise waren nur drei Gedecke am Tisch, aber sonst schwebte jede Art von Heiligkeit durch unsere Räume. Ich konnte damit nichts anfangen und dis­tanzierte mich mehr und mehr. Fragt nicht, wie es Vater erging. Der hatte natürlich die Möglichkeit, so oft wie möglich abzuhauen, sich hinter seinen Geschäftsessen zu verstecken. Natürlich hatte er seine Freundinnen – und er genoss es, das könnt ihr mir glauben. Mit so einer Frau wie Mutter es war, gab es keinen Sex, mit der einzigen Ausnahme, als ich gezeugt wurde. Wahrscheinlich wurden Vater die Augen verbunden und Mutter lag mit dem Rosenkranz im Bett.“

Ich mache eine Pause und bestelle ein weiteres Bier. Die Saufkumpane stehen mit offenem Mund um mich herum und warten auf die Fortsetzung.

Also fahre ich fort: „Nach dem plötzlichen Tod meines Vaters zog sich meine Mutter in ein Kloster in Osttirol zurück; dort lebt sie heute noch. Ich habe keinen Kontakt zu ihr und ehrlich gesagt, ich suche auch nicht ihre Nähe. So schaut es also mit meinem Elternhaus aus.“ Ich unterbreche kurz meinen Monolog und schaue mich um, wie meine Kollegen reagieren.

Fast mitleidig klopfen sie mir einer nach dem anderen auf die Schulter, Eimer umarmt mich sogar.

„Hallo, Leute, ihr müsst mich keinesfalls bedauern. Ich bin ich und ich möchte den Leitspruch meines Vaters beherzigen, ,Hol dir das Leben ab‘.“ Mir ist klar, dass es für mich viel mehr vom Leben abzuholen gibt, als ständig zu saufen. Im Moment bin ich in der Phase der Orientierung und ich hoffe, den Weg, der für mich passt, bald zu finden. Aus Vorsätzen Wirklichkeit werden zu lassen, eine Mammutaufgabe, ist ein erklärtes Ziel, hoffentlich auch meines. Gilt übrigens auch für euch. Darauf sollten wir trinken.“

Wir leeren eine Anzahl weiterer Flaschen, um meine Ansprache zu begießen, welche sich aber in der Zwischenzeit in den Gehirnen der Zuhörenden längst im Dunst des Alkohols aufgelöst haben dürfte.

Auf unserem Weg zu Sonja begleiten uns heftiger Regen und Wind. Ich sehe mich schon wieder unter der Brücke liegen, eine kalte Nacht, nass und zitternd vor Kälte. Ich muss mich endlich um ein Quartier kümmern, ermahne ich mich. Kurz bevor wir Sonjas Kiosk erreichen, quert eine Person, die ich zu kennen glaube, den kleinen Platz.

Es ist der Herr Hofrat. Wie immer mit Hut und Stock, aber diesmal ohne Schirm. Er muss auf dem Nachhauseweg von seinem Vormittagsspaziergang sein. Aber ich kann ihn jetzt unmöglich ansprechen – ich muss mein Fundstück bei ihm zuhause abgeben. Ob er sich darüber freuen wird, oder den Verlust womöglich bereits vergessen hat? Heute noch begebe ich mich zum Tulpenweg, nehme ich mir vor, um eine entsprechende Konversation in Gang zu bringen, dessen Abschluss sich vielleicht in einer Übernachtungsmöglichkeit für mich krönt.

Ich schließe zu meinen Kumpels auf, und als wir den Kiosk erreichen, sehe ich keine Sonja hinter dem Tresen stehen. Enttäuscht muss ich feststellen, dass ihre Mutter sie heute vertritt.

„Sie hat einen Arzttermin mit ihrer Tochter“, erklärt sie uns kurz angebunden und rückt mit vollen Bierflaschen im Arm an.

Dieses Bier schmeckt mir sowieso nicht besonders. Aber was soll’s, ich werde deswegen nicht auf Apfelsaft umsteigen. Ich entscheide mich, unauffällig zu verschwinden.

Lotterleben

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