Читать книгу Dape - Harald Kellerwessel - Страница 10

Fachwissen

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Die Straße war dreispurig. Der Wagen bewegte sich gemächlich auf der mittleren Spur in Richtung Kreuzung. Ungefähr hundert Meter vor der Ampel setzte der Fahrer den rechten Blinker, zog einen Moment später aber auf die Linksabbiegerspur herüber, und fuhr diese ein Stück entlang. Kurz vor der roten Ampel machte er den Blinker wieder aus. Dann aber, urplötzlich, lenkte er mit einem Ruck den Wagen doch noch zur rechten Fahrbahn hinüber.

Erst als die Ampel schon gelb zeigte, sah man, wie der Blinker erneut betätigt wurde, allerdings nicht der rechte, wie man jetzt hätte meinen können, sondern der linke. Aus der Nähe konnte man jetzt einen hilflosen Blick des Fahrers in Richtung auf die mittlere Spur erkennen.

Und tatsächlich ließ die Dame im schweren Mercedes den klapprigen Opel vor, der daraufhin zu nicht nur ihrer großen Verblüffung gleich weiter auf die Linksabbiegerspur herüberzog und noch vor dem startenden Gegenverkehr abbog. Unmittelbar hinter der Kreuzung verschwand der Wagen auf dem Parkplatz.

Erna war gerade dabei, die Fensterbänke abzuwischen. Sie putzte bereits seit mehreren Jahren für Dape/ESSL. Selbst aus dieser nicht so hoch angesehenen Position heraus hatte sie doch bereits gewisse Einblicke in das Innenleben der Softwarebranche werfen können. Wenn man nicht selbst zu den Betroffenen gehörte, konnten diese Einblicke sehr amüsant sein.

Die Fähigkeit des Opel-Fahrers, Kurs zu halten, hatte Erna vom Fenster aus beobachten können. Sie wusste, gleich würde er hereinkommen. Und sie wusste auch, dass sie gleich etwas zu lachen bekommen würde.

„Guten Morgen, Herr Kreuz!“

Herr Kreuz hatte sicherlich mit vielem gerechnet. Bereits am ersten Arbeitstag von der Sekretärin oder dem Geschäftsführer mit Namen begrüßt zu werden, das wäre allenfalls auffallend nett gewesen – nicht jedoch besonders auffallend. Aber von der Putzfrau? Das kam ein wenig überraschend.

Sein Gesichtausdruck war einfach herrlich dämlich. Erna bedauerte aufrichtig, dass er sich selbst nicht so sehen konnte. Woher hätte er aber auch wissen sollen, dass Erna zufällig daneben stand, als Dape mit stolzgeschwellter Brust herausposaunte, ihm sei es gelungen, von einem Kunden „einen sehr erfahrenen und routinierten Projektleiter, einen Herrn Kreuz“ abzuwerben?

Trotz ihres gelungenen Spaßes wurde Erna etwas wehmütig. Sie dachte an Herrn Qual, den sie sehr gemocht hatte und der einst der erfolgreichste Projektleiter bei Dape/ESSL gewesen war. Dape hatte ihm letzten Monat gekündigt, denn er war für die Firma einfach nicht mehr tragbar gewesen. Herr Kreuz sollte wohl sein Nachfolger werden.

Dabei hatte es mit Herrn Qual so harmlos angefangen. In einer internen Projektbesprechung begann derzeit sein unkontrolliertes Kichern. Ohne ersichtlichen Grund gluckste er auf einmal los. Einige höfliche Ermahnungen der Kollegen, er möge doch bitte wieder zur Sache kommen, zeigten nicht ganz den gewünschten Erfolg.

Nach kurzem Atemholen gackerte und quiekte Herr Qual erneut, schlug sich auf die Schenkel und lachte, bis ihm die Tränen herunterliefen. Eine Viertelstunde auf dem Gang befähigte ihn schließlich, der Besprechung wieder zu folgen. Na ja, sagen wir einmal, halbwegs ...

Eine größere Veranstaltung, in der dem Kunden das Projektkonzept vorgestellt werden sollte, offenbarte die Ursache für seine ungewöhnliche Heiterkeit. Für alle Anwesenden ersichtlich löste das Wort „portabel“ die Kicheranfälle aus.

Das war ausgesprochen peinlich. Schließlich legte der Kunde großen Wert darauf, dass das System ohne Änderungen sowohl auf Großrechneranlagen, wie auch auf jenen hochmodernen Mobiltelefonen („Smartphones“ genannt), laufen könnte.

Dape wies Herrn Qual deswegen in einem sehr gewichtigen Gespräch darauf hin, dass seine Kicheranfälle zum Verlust von Aufträgen führen könnten.

Leider verwendete Dape bei dieser Ermahnung wiederum das Wort „portabel“. Folglich endete dieser sehr ernsthaft geführte Dialog in einem Lachkrampf von Herrn Qual – womit zwar das Gespräch vorbei war, aber nicht der Lachkrampf. Dape musste schließlich sogar noch den Notarzt rufen.

Auf Anraten des Mediziners begab Herr Qual sich in eine Psychotherapie, die aber nur teilweise anschlug. Immerhin war er nach einigen Monaten Behandlung in der Lage, das Wort „portabel“ mit fast völliger Gelassenheit zur Kenntnis zu nehmen. Nur manchmal konnte er sich ein leichtes Grinsen noch nicht ganz verkneifen.

Aber jetzt stellten sich neue Probleme ein. Als ein Kollege nichtsahnend etwas über „Kompatibilität“ erzählte, griff Herr Qual sich plötzlich ein Netzkabel und presste den Stecker gewaltsam in eine Telefondose, wobei er einige unartikulierte Laute ausstieß. Anschließend riss er ihn wieder heraus und stürmte, den Stecker wie einen Dolch in der Hand, auf einen PC zu.

Mit Schreien, die klangen wie „ich werde euch zeigen, was Kompatibilität ist!“ oder „Kommt Jungs, wir machen jetzt alles kompatibel!“, zog er sämtliche Kabel aus den Anschlüssen und ruinierte die zugehörigen Buchsen, indem er den Netzstecker mit roher Gewalt hineinstieß und nur wieder herauszerrte, um ihn wie ein Torpedo in der nächsten zu versenken.

Glücklicherweise hatte Herr Qual eine Berufsunfähigkeitsversicherung, so dass einer Frühpensionierung wohl nichts im Wege stand.

Mit einem Seufzer riss Erna sich aus ihren trüben Gedanken. Die traurige Stimmung passte eigentlich gar nicht zu ihr. Sie war so ziemlich die einzige Angestellte bei Dape/ESSL, die stets gute Laune und auch wirklich Freude an ihrer Tätigkeit hatte.

Letzteres lag vor allem an den Nebeneinkünften, die sie aus Wetten mit den Entwicklern erzielte. Am liebsten war es ihr dabei, wenn es um den Abschlusszeitpunkt von Projekten ging. Da gewann sie eigentlich immer.

Behauptete jemand: „In sechs Wochen werden wir das Ganze locker geschafft haben.“, dann wettete Erna, dass es noch mindestens zwölf Monate dauern würde. Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, das Geld schneller zu verdienen. Aber nach einem Jahr etwas ins Portemonnaie zu bekommen, ohne dafür gearbeitet zu haben, war schließlich auch ganz angenehm.

Den ganz großen Coup landete Erna, als der stadtbekannte Künstler Erhard ´ten Schalckimnacken sein „bisher bedeutendstes Werk“ ausstellte. Die Eierlegende Wollmilchsau, so der vielsagende Titel, hatte man mit unglaublichem Pomp in allen Zeitungen, im Lokalradio und auf riesigen Plakaten angekündigt.

Der beeindruckenden Werbekampagne folgte eine Terminverschiebung, und zwar eine mehrmalige, jeweils um beeindruckende sechs Monate. Nach anderthalb Jahren konnte die Präsentation des Wunderwerkes schließlich stattfinden.

Die Stadthalle wurde herausgeputzt. Überall stellte man Schilder auf, die den Weg zu jenem einen heiligen Raum wiesen, in dem das Œvre des Künstlers zu sehen sein sollte. Die Gänge hingen voll mit Zeitungsausschnitten, in denen Lobeshymnen auf die Eleganz und die Vollkommenheit der Eierlegenden Wollmilchsau abgedruckt waren.

Das Einzige, was ein bisschen fehlte, waren Informationen darüber, was man sich denn nun eigentlich unter der Eierlegenden Wollmilchsau vorzustellen hätte. Aber das sachverständige Publikum war selbstverständlich bereit, sich überraschen zu lassen.

Der Künstler enttäuschte nicht. Selbst Insider der Szene erschauerten, als sie mit dem Unerwarteten konfrontiert wurden: die Eierlegende Wollmilchsau entpuppte sich als ein gigantischer, mit Hilfe von ein paar Nieten zusammengezimmerter Haufen Schrott.

Unzweifelhaft ein Werk, das wirklich betroffen machte. Es veranlasste eine intensives Ringen mit den Fragen, die es aufwarf. Die wirklich Betroffenen – in diesem Fall die Beschäftigten der Stadthalle – konzentrierten sich dabei auf die alles entscheidende, wie man diesen Mist wieder wegbekommen könnte.

Die Lobeshymnen in den Medien, so stellte sich nebenbei heraus, hatte der Künstler alle selbst verfasst. Für die Veröffentlichung waren ein paar eher geringe Bestechungsgelder an einige Reporter geflossen. Was gab es für die auch Schöneres, als in der Redaktion einen wirklich geschliffen formulierten Artikel abzuliefern, ohne dafür auch nur einen Finger krumm gemacht zu haben?

Erna sah angesichts der Ereignisse nicht ganz ein, warum nur die Medien an dem Skandal verdienen sollten. Ihre Opfer waren willig.

Erhard ´ten Schalckimnacken sei früher einmal in einem Softwarehaus tätig gewesen? Er solle aus der trocken-mathematischen Computer- in die kreativ-chaotische Kunstbranche gekommen sein? Unmöglich.

Und warum sollte ausgerechnet dieser Künstler jemals etwas mit EDV zu tun gehabt haben? Selbst die Vorsichtigsten ließen sich zu hohen Einsätzen hinreißen – solange, bis ein Lokalblättchen einen ausgiebig recherchierten Lebenslauf von Erhard ´ten Schalckimnacken veröffentlichte.

Aus selbigem ging hervor, dass der Künstler jahrelang in einer mittlerweile Pleite gegangenen Softwareklitsche gearbeitet hatte. Erna war fortan um einiges reicher und die Kollegen finanziell und an Illusionen etwas ärmer.

Aber diese wirklich üble Erfahrung für die Mitarbeiter von Dape/ESSL lag glücklicherweise schon etwas länger zurück. Heute hingegen sollte sich Ernas Wettleidenschaft für ihre bisherigen Opfer einmal als sehr nützlich erweisen.

Gerda, Alfred, Ferdi und Kurt standen wie so oft auf dem Gang herum und diskutierten, wessen Aufgabe die Erstellung der Programmierrichtlinien nun eigentlich sei. Dape hatte gefordert, sie müssten zum zehnjährigen Bestehen der Firma endlich fertig sein, und so suchte man einen Dummen, der sich um sie kümmern würde.

„Apropos“, meinte Gerda. „Vielleicht sollten wir die Gelegenheit nutzen und Dape einmal darauf aufmerksam machen, dass hier nach wie vor viel zu wenig getestet wird.“

Kurt winkte ab. „Der denkt doch, das bräuchte man nicht. Du kennst doch seine Meinung. Man muss sich nur beim Programmieren ein bisschen konzentrieren, dann geht das schon.“

„Braucht ihr Hilfe?“ Erna schaltete sich mit einem Grinsen in die Diskussion ein.

Ferdi drehte sich um. „Lieb von dir, Erna, aber ich wüsste ehrlich gesagt nicht ganz, wobei du uns helfen könntest. Na ja, wenn man einmal von dem Schmier auf unseren Monitoren absieht.“

„Ferdi, du weißt, dass ich aus Sicherheitsgründen an Eure Rechner nicht heran darf. Diesen Dreck müsst ihr also schon selber wegmachen. Außerdem meinte ich etwas ganz anderes. Was haltet ihr davon, wenn ich mit Dape wette, dass er es ohne zu testen nicht einmal schafft, ein Programm zu schreiben, das bis drei zählt? Das könnte seinen Ansichten vielleicht ein wenig auf die Sprünge helfen.“

„Wie soll denn ein Programm bitte schön ‚zählen’? Könntest du als erfahrene Putzfrau das vielleicht etwas näher spezifizieren?“ Kurt war für seinen liebevollen Tonfall bekannt, und so ließ Erna sich nicht irritieren.

„Nun ja, ich dachte, das Programm startet, gibt auf einer Zeile eine ‚Eins’ aus, auf der nächsten eine ‚Zwei’, dann wieder auf der nächsten eine ‚Drei’ und schließlich muss es noch ohne irgendwelche Fehlermeldungen enden.“

Ferdi und Kurt sahen sich an. Mit ein bisschen Glück könnte es funktionieren. Erna ließ sich schließlich nur auf Wetten ein, wenn sie wusste, dass sie gewinnen würde. Alfred schaute Erna bewundernd an. „Tolle Idee. Da wäre ich wirklich nie drauf gekommen.“

Kurt wurde höflicher. „O.k., Erna, kein schlechter Gedanke. Wenn das klappt, bekommst du von uns eine Einladung zum Essen.“

„Keine Ursache, Kinder, das ist mir der Spaß auch so wert. Ich regele das schon für euch.“ Erna zog von dannen.

Gerda guckte noch etwas unsicher. „Bin einmal gespannt, ob das klappt. Dann bräuchten wir nur noch die Frage zu klären, wer sich um die Programmierrichtlinien kümmern muss.“

„Das ist nicht so wichtig, Gerda,“ antwortete Kurt. „Es ist schließlich Tradition in unserer Branche, ohne derart überflüssige Dinge zu arbeiten.“

„Außerdem würden die Programmierrichtlinien wahrscheinlich von etlichen Leuten hier ohnehin genauso kreativ ausgelegt werden wie unser Kartellgesetz von einigen Großkonzernen“, ergänzte Ferdi.

„Also lasst uns lieber noch ein bisschen codieren, damit wir zack, zack mit unserer Arbeit fertig werden.“ In seltener Einigkeit begab man sich zurück an die Schreibtische.

Erna leistete ganze Arbeit. Bereits am nächsten Tag wurde im großen Besprechungsraum ein PC aufgebaut. Fast die ganze Belegschaft stand um den Rechner herum und gaffte auf den Monitor.

Dape hatte das große Ereignis in einer Email höchstselbst angekündigt. Eine gewisse Verärgerung meinten einige noch aus seiner Mitteilung herausgelesen zu haben.

Erna war ihm gegenüber wohl nicht ganz aufrichtig gewesen. Es macht schließlich einen Unterschied, ob lediglich eine Putzfrau oder ob die gesamte Belegschaft meint, man könne nicht einmal ein Programm schreiben, dass die Zahlen von eins bis drei ausgibt.

Aber nach einhelliger Meinung war Ernas kleine Notlüge in einer Angelegenheit von dieser Wichtigkeit durchaus verzeihlich.

Dape nahm Platz. Er würde es seinen Leuten schon zeigen. Die wenigen Codezeilen waren selbst im Zwei-Finger-Suchsystem schnell eingetippt.

„So ihr Lieben, ich rufe jetzt den Compiler auf. Anschließend werdet ihr ja sehen, dass man nicht jeden Blödsinn zu testen braucht, vorausgesetzt natürlich, man passt beim Programmieren ein bisschen auf.“ Ein bewunderndes Raunen ging durch die Belegschaft, als bereits der erste Übersetzungsversuch ohne einen einzigen Fehler durchlief.

„Und jetzt starten wir das Programm“, ergänzte Dape mit einem überlegenen Grinsen. Die Spannung stieg, denn dies war der entscheidende Teil. Alle versuchten einen Blick auf den Monitor zu erhaschen. Ferdi nahm dabei sogar die Zigarette aus dem Mund, um seinem Vordermann nicht die Nackenhaare anzukokeln.

Dapes spöttischer Gesichtsausdruck schien auf einmal von der Vermehrungslust gepackt zu werden. Jedenfalls verbreitete sich sein Grinsen urplötzlich auf den Gesichtern der Umstehenden. Nur bei ihm selbst wurden die Mundwinkel etwas schlaff.

„Zwölf“, meinte Kurt trocken und deutete auf den Bildschirm. „Dape, dein Programm kann leider nur bis zwei zählen. Sollen wir es jetzt trotzdem an den Kunden ausliefern, oder willst du es noch überarbeiten? Man könnte beispielsweise in der Bedingung am Ende der Schleife ein Kleinerzeichen durch ein Kleiner-oder-Gleich ersetzen. Dann wird vielleicht nicht nur die ‚Eins’ und die ‚Zwei’ ausgegeben, sondern auch die ‚Drei’.“

„Wenn du ganz viel Zeit hast, packst du am besten auch noch eine Zeilenschaltung hinter die Ausgabe der Zahl“, fügte Ferdi hinzu. „Sonst hast du nämlich nicht eins-zwei-drei, sondern einhundertdreiundzwanzig auf dem Bildschirm stehen. Ich würde aber anschließend sicherheitshalber noch einmal testen. Nicht, dass dir bei der Fehlerkorrektur ein neuer Fehler unterläuft!“

Dape starrte auf den Monitor. „Ich bin wohl heute etwas unkonzentriert. Wie wär´s, wenn ihr nach dieser für euch sicherlich sehr gelungenen Vorführung wieder an die Arbeit geht? Das mit den zusätzlichen Tests überlege ich mir dann noch.“ Keiner widersprach. Selten hatten sie sich so gut gelaunt ihrem Broterwerb zugewandt.

Dape

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